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Nun geht’s weiter

Drei Wochen Urlaub liegen hinter mir. Drei Wochen Holland. Übrigens, wenn man in den Niederlanden Taxi fährt, tragen die Taxifahrer Dreiteiler, benehmen (und fühlen!) sich dabei offensichtlich wie Chauffeure. Soeben dem wegen eines Selbstmörders 180 Minuten verspäteten IC Amsterdam-Berlin entstiegen, mich selbst, Frau und Kind und 5 Koffer ins Taxi gewuppt – und der Fahrer drückte 30 Sekunden lang durchgehend auf seine Hupe, hielt an, stieg aus und drohte einem Kollegen (!), der ihm wegen unübersichtlicher Verkehrsverhältnisse unabsichtlich die Vorfahrt genommen hatte, Prügel an. Ach, da wusste ich, dass ich wieder in Berlin bin. Ach ach ach.

 

Zum 100. Geburtstag des KaDeWe

Das große Kaufhaus mit dem doppelten Binnenmajuskel wird heute 100 Jahre alt. Da muss ich an meine erste Begegnung mit dem KaDeWe denken, sie war nicht schön. Ich war frisch und neu in Berlin und brauchte ein Spannbettuch mit dem Sondermaß 200×200 Zentimeter. Zu diesem Zweck taperte ich ins KaDeWe und verirrte mich sogleich, landete irgendwo in der Lampenabteilung. Dort entdeckte ich eine erstaunlich preisgünstige Schreibtischlampe und entschied mich sogleich sie zu kaufen. An der Kasse gab es eine kleine Schlange. Vor mir eine Frau, die hustete und hustete und hustete, es hörte sich nicht gut an. Das Husten ging so langsam in eine Art würgen über. Mit weit aufgerissenen Augen fragte die Frau nach der Toilette. Die Kassiererin entgegnete: „Ganz einfach, hier die Rolltreppe zur Lebensmittelabteilung, da sind die Toiletten“. Die Frau scherte aus der Schlange aus, betrat hustend und schon leicht aufstoßend die 15 Meter entfernte Rolltreppe – und landete sogleich in der damals dort aufgebauten Käseabteilung mit den knallharten Stinkekäsen. Das gab ihr den Rest, noch auf der Rolltreppe erbrach sie schwallweise. Ich bezahlte bleich meine Lampe, flüchtete und merkte erst zu Hause, dass ich vergessen hatte ein Spannbettuch zu kaufen. Ich schlief in der Nacht unbequem, aber gut beleuchtet.

 

Eine wahre Berliner Geschichte

Es war Herbst geworden, regnerisch und kühl und ich hatte für das laufende Jahr Abschied genommen von der liebgewordenen Gewohnheit, des Morgens mit meinem Fahrrad ins Büro zu fahren. Es war ein prächtiger, ein guter Sommer gewesen. Federleicht war ich Werktag für Werktag mit dem Velo zu meiner Arbeitsstätte geschnurrt, hatte den Fahrtwind genossen, das schnittige Umkurven der im morgendlichen Stau steckenden Autos, die Wettrennen und wechselseitigen Überholvorgänge mit den Bussen der Linie 148.

Nun stand ich also an einem Septembermorgen in zartem Nieselregen an der Haltestelle „Kaisereiche“ und wartete auf meinen Bus. Unter den anderen Wartenden stach ein Mann hervor. Es war unmöglich den Blick von ihm zu wenden. Er sah so ungewöhnlich aus, dass ich mich gar nicht satt sehen konnte. Er mochte wohl südamerikanischer Herkunft sein, seine Haut war dunkel, aber nicht schwarz. Auch war er korpulent und von geringem Wuchs, er maß höchstens einen Meter und sechzig. Sein großer, birnenförmiger Kopf wurde von einer schwarzen, halblangen gewagt ondulierten und geölten Lockenfrisur eingerahmt. Die Lippen waren voll und hatten sich im Laufe der Zeit zu einem traurigen, um 90 Grad gedrehten Sichelmond verwachsen. Auf seiner relativ breiten, leicht eingedrückt wirkenden Nase thronte eine verstörend hässliche Brille, eine Art Pilotenbrille, goldfarben, deren Bügel sich, wie es eine Zeitlang in den Siebziger Jahren en vogue gewesen war, schwungförmig gebogen von unten an die riesigen, ovalen Brillengläser schmiegten, statt von oben.

Der Mann trug einen schlecht sitzenden, frisch gereinigten und gebügelten Dreiteiler von der Stange, ein schrill gemustertes, kunstseidenes Halstuch und eine etwas zu lange Krawatte in braun-gold-changierenden Farben. Seine Füße steckten in blitzblank gewienerten, cremefarbenen Italo-Slippern, es blitzten strahlend gelbe Strümpfe hervor. Er stand da und rauchte eine Zigarette, die in einer Zigarettenspitze aus Schildpatt steckte. Es ging etwas faszinierend Öliges von ihm aus. Aber auch ebenso eine Frösteln machende Verlorenheit, gepaart mit dem späten Stolz desjenigen, der in der Schule immerfort gehänselt worden war und nun aber einen Dreh gefunden hatte, das Leben zu meistern.

Der Bus kam. Ich stieg ein. Setzte mich auf das obere Deck. Der merkwürdige Mann nahm einen Sitzplatz auf dem unteren Deck ein. Ich entrollte meine Zeitung und vergaß den Mann.

Am nächsten Morgen stand er wieder da, gewandet wie am Vortag. Ich beschloss ihn Carlos zu taufen, das erschien mir ein passender Name. Carlos entnahm der Innentasche seines Sakkos eine Schachtel Silk Cut, klopfte bedächtig eine Zigarette heraus, führte sie in die Zigarettenspitze ein, die sich in der Westentasche befunden hatte, nahm die Spitze in den Mund und klopfte suchend seine Hosen-, Sakko- und Westentaschen nach einem Feuerzeug ab. Erfolglos.

„Brauchen Sie Feuer?“ – sagte ich und zog ein Feuerzeug heraus. Mit einer ganz hellen Stimme antwortete er, „Ja bitte“. Ich beugte mich ein wenig herunter, drückte den Piezo-Zünder des Feuerzeugs, Carlos kam ganz nah an mich heran, bildete mit beiden Händen eine Kuhle, um die Flamme vor dem Herbstwind zu schützen, wobei seine Fingerspitzen meine Hände berührten. Er hatte riesengroße Hände, größer als meine, und dabei war er mindestens zwei Köpfe kleiner als ich. Sie waren äußerst sorgfältig manikürt und rochen nach Gaultier Le Mal, ein obszöner, monströser Duft. Die Flammenspitze berührte die Zigarette, er zog, zog erneut, inhalierte tief und bedankte sich. Dann ging er einige Schritte nach rechts und wartete rauchend auf den Bus. Er tippelte dabei langsam von einem Fuß auf den anderen und zurück.

Im Bus überlegte ich, was Carlos’ Geheimnis war. Denn soviel war für mich klar – er musste irgendein düsteres Geheimnis haben. Die von ihm abgestrahlte Mischung aus expressionistisch überzeichneter Gepflegtheit und völliger modischer Geschmacklosigkeit, vereint mit einer fast aggressiv homoerotischen Ausstrahlung ließ nicht auf einen Menschen schließen, der ein normales Leben führte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer war mein Bild: Wahrscheinlich war er ein Stricher, der sich für besonders exotisch veranlagte homosexuelle Männer verdingte. Er stammte vermutlich aus bettelarmen Verhältnissen, hatte aufgrund ständiger Hänseleien eine grausame Kindheit hinter sich, war auf verschlungenen Pfaden nach Deutschland gelangt, wo er aus einer Notsituation heraus einem reichen Freier zu Diensten sein musste, und war dann in diesem Job hängen geblieben.

Der Herbst ging ins Land, fast jeden Morgen sah ich Carlos an der Bushaltestelle stehen, wir zwinkerten uns zu, wenn wir uns sahen, grüßten einander flüchtig, mal gab er mir Feuer, mal ich ihm. Aus dem Herbst wurde Winter. Es kam die Weihnachtszeit, der Jahreswechsel, das neue Jahr. Ich hatte einige Tage Urlaub und stellte in der ersten Januarwoche fest, dass Carlos morgens nicht mehr an der Haltestelle stand. Was mochte aus ihm geworden sein? War er tot? AIDS? Ein Sexualverbrechen? War er abgeschoben worden in seine Heimat? Verschleppt oder ausgeraubt? Ich war betrübt. Hätte ich doch wenigstens einmal mit ihm geredet, wäre ich doch hinter sein Geheimnis gekommen!

Es kam der Frühling. Es war Mai geworden. Morgens nach der Rasur stellte ich fest, dass mein Rasierwasser aufgebraucht war. Ich nahm mir vor, in der Mittagspause die Parfümerie im Quartier 206, einem auf fein getrimmten Einkaufscenter in der Berliner Friedrichstraße aufzusuchen und einen neuen Flacon Xeryus Rouge zu kaufen. Und genau so machte ich es auch. Nachdem ich mittags das Parfum gekauft hatte, streifte ich noch ein wenig durch das Untergeschoss des Quartier 206 und besah die Auslagen der Modehäuser. Kurz bevor das Quartier 206 in das Quartier 205 übergeht, kommt man in eine Art Atrium, das bestuhlt ist wie ein Hotelfoyer; schwere, plauzige Sessel auf schwarz-weißem Marmorboden, in der Mitte des Atriums eine große Bar. Ich hatte Lust auf einen Espresso und nahm in einem der Sessel Platz. Gerade, als ich meine Bestellung aufgegeben hatte, ertönte Klaviermusik. Irgendwo in diesem riesigen Atrium musste ein Pianist spielen, er gab Brahms Intermezzo in A-Dur, op 118. Nr.2. Ich bestellte hastig ein Glas Wein hinterher, welches wenige Sekunden später gereicht wurde, nahm einen großen Schluck und genoss die Wechselwirkung zwischen dem Koffein und dem Alkohol, getragen auf einer Woge unendlicher Sehnsucht, die die Sextvorhalte in dem Brahms-Intermezzo in mir auslöste. Der Pianist spielte das Stück überragend gut. Den Mittelteil in Fis-Dur intonierte er zügig, fast scherzhaft, um die subito folgende, klagende Mollpassage umso gramgebeugter, verlorener und trauriger zu spielen. Ich war der einzige, der dies wahrnahm. Um mich herum das Rauschen und Brummen der Business-Lunch-Deppen, das schrille Gelächter törichter Boutiquenverkäuferinnen in ihrer Mittagspause, das gleichmäßige Gebrabbel hypertonischer Frühstücksdirektoren, das feindliche Fauchen der Milchaufschäumdüse an der Bar. Ich, ich nahm es wahr, ich hörte den Brahms tief in mir widerhallen, ich verwandelte mich in einen Mensch gewordenen Tunnelblick und es war mir, als seien die Klaviersaiten direkt über meine Seele gespannt.

Das Stück endete. Ich zahlte. Ein neues Stück begann, eine gut abgehangene Jazznummer. Ich stand auf und ging in Richtung der Musik. Hinter einer großen, rechteckigen Säule entdeckte ich den Pianisten. Es war Carlos.

Es war Carlos.

Er zwinkerte mir zu und bedeutete mir per Augensprache zu bleiben. Zu warten. Er spielte mit der linken Hand einen Walking Bass, hob die rechte Hand, zeigte mit dem Zeigefinger erst auf mich und auf ihn selbst und deutete dann mit seinem Daumen auf seinen Mund. „Komm, wir trinken gleich einen“, sollte das wohl heißen.

Ich spürte plötzlich einen Brechreiz, nahm die Rolltreppe hoch ins Erdgeschoss. Ließ mich vom Menschenstrom aus dem Quartier 206 wehen, durch geöffnete Flügeltüren und stand plötzlich auf der sonnenbestrahlten Friedrichstraße. Atmete tief ein. Und aus. Und ein.

Dann lachte ich.

 

Das InterCity Restaurant „Berlin Zool. Garten“ – ein Ausflug mit der Zeitmaschine

Wer eine Zeitreise in das Berlin der 80-er Jahre unternehmen will, der sollte auf jeden Fall einen Abstecher in das „InterCity Restaurant“ des Berliner Bahnhofs Zoologischer Garten wagen. Das Restaurant befindet sich in der ersten Etage des Bahnhofs und strahlt eine vollständig in sich geschlossene 1982-Atmosphäre ab. Der Boden bedeckt mit braunen Fliesen, die Wände vollgepackt mit grünstichig-verblichenen Photographien von Elektro- und Diesellokomotiven, hier und da kippelige Garderobenständer aus braunem Holz, schwankende Lampen aus dunkelblauem Glas, das aussieht wie diese geschmolzenen Granulat-Gebilde, die man früher unter erheblicher Rauchgasentwicklung zu Kunstgewerbezwecken im Backofen buk.

Müde schlurfen Füße in aufgeplatzen Tennissocken über den Fußboden. Sie gehören einer original ISO 9000 – zertifizierten Kaltmamsell, die einen großen Servierwagen quer durch den Raum schiebt. Auf dem Wagen trohnt ein 10 kg – Gastro-Eimer Salatmayonnaise von Develey. Auf den Tischen Tischdecken, Überdecke, Zucker, Salz, Maggi, Fondor und künstliche Blumen. In diese allgemein trostlose Deko nahtlos hereingewuchert sitzen Männer mit Raucherhusten, die mittags schon am Radeberger nuckeln, Salmonellentorte essende Rentnerinnen und strunzgesunde Australier mit farbenfrohen Rucksäcken

Die Speisekarte enthält Heterogenes. Zum Beispiel: Blaubeerkaltschale, Gorgonzolagnocchi und Kasselerlachsbraten. Die Kellner sehen aus wie Schaffner Zugbegleiter und benehmen sich auch so deutlich schlechter: „Kann ich gleich abkassieren? Ich mach Feierabend“. Ja, natürlich, klar, man ist zu müde für Protest. Die dumpf-säuerliche Atmosphäre des ICE RESTAURANTs macht schwach und schwunglos.

Sitzt man am Fenster, kann man direkt runter auf den Bahnhofsvorplatz kucken. Dort wird geschimpft, gesoffen, erbrochen, geklaut, manchmal alles gleichzeitig. Dumpf, mit Klirrfaktor 60% poltern Bahnsteigansagen per Lautsprecher ins Arrangement. Man erfährt, ohne es zu wollen, dass der Eurocity nach Prag Verspätung hat. Oder dass der ICE Cilly Aussem aus Köln pünktlich an Gleis eins ankommt.

Mürb blättert man in der Eiskarte, weint ob Nahrungsmittelbezeichnungen wie „Nussgenuss“ oder „Fresh und Fun“, fast erwartete man noch ein „Wellness“ oder „Fit und crazy“, doch dann sinkt der Kopf auf die Tischplatte und man nickt ein, der Espresso der Kaffeeverbrecher „Segafredo“ wirkt nicht. Zumindest nicht hier.