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Schattenkampf

 

Es ist ja nicht so, dass von der Berliner Selbstherrlichkeit der Nachwendejahre viel übrig geblieben wäre. Der hiesigen Volksseele hat es arg zugesetzt, dass seit dem Mauerfall 100.000 Industriearbeitsplätze verloren gegangen sind. Und dass die Stadt nicht um drei Millionen Einwohner gewachsen ist, wie es seinerzeit versprochen wurde, sondern sogar ein bisschen geschrumpft.

Penibel wird in den Berliner Tageszeitungen darum über jede kleine Demütigung Buch geführt. Als vor zwei Jahren das hiesige Mineralwasser „Spreequell“ seine Abfüllanlage nach Brandenburg verlegt hat, da war das im Lokalteil der „Berliner Zeitung“ die Spitzennachricht. Es ging um achtzig Jobs, die auch nicht abgebaut, sondern nur verlegt werden sollten. Achtzig Jobs von insgesamt einer Million in der Stadt sollten eigentlich kein Stoff für Schlagzeilen sein. Aber es geht schon längst nicht mehr um die Relationen. Es geht ums Ganze. Es geht ums Prinzip. Es geht um die Schatten all der großen Visionen, die nie Wirklichkeit geworden sind.

Genauestens wird auch jedes Mal vermerkt, wenn sich wieder irgendein Managermagazin oder irgendeine Wirtschaftsberatungsagentur bemüßigt fühlen, ihre liebsten Standorte in einem „Ranking“ der Reihe nach zu ordnen. Man braucht normalerweise gar nicht lange zu suchen. Berlin steht immer irgendwo ganz hinten. Platz 48 von 50 ist einer der Stammplätze. Als Berlin neulich in einem europäischen Vergleich unter den besten zehn gelandet ist, da war die Verdutzung groß. Genaue Erklärungen für das Wunder stehen noch aus.

Umso erstaunter war ich, als ich bei einem Besuch in Hamburg am vorigen Wochenende eine Entdeckung machte: die Hamburger haben Angst vor Berlin. Ich war bei entfernten Verwandten zu Besuch. Ich saß auf ihrer Alcantara-Couch und nippte an ihrem 25 Jahre gelagerten Portwein, während sie mir erklärten, dass sie in Berlin eine Bedrohung für Hamburgs Wohlstand sähen. Man höre ja von so vielen Unternehmen, die in die Hauptstadt ziehen, auch wenn ihnen gerade keine Beispiele einfielen. Ich habe mich ein wenig über sie lustig gemacht und ihnen versichert, dass ich auf dem Rückweg die Airbus-Werft mitnehmen würde, und dass der Hamburger Hafen noch vor Weihnachten in Container verpackt und in Berlin wieder aufgebaut wird. Fanden sie nicht lustig. Später am Abend ging ich an ihren Kühlschrank, und da verging auch mir das Lachen. Zwei Flaschen Sprudel standen in der Tür. Sie waren in Brandenburg abgefüllt.

Falko Müller