Lesezeichen
 

Natos Doppelbeschluss

Das neue Strategie-Konzept der Nordatlantik-Allianz verlangt zweierlei: Im Ausland kämpfen können und Europa verteidigen können. Kann die Bundeswehr das?

Von Jochen Bittner und Peter Dausend 

Mit der Nato und ihren Strategien ist es ein bisschen wie mit dem Hase und dem Igel. Das Bündnis verliert immer wieder gegen eine rätselhaft schnelle Wirklichkeit. 1999 gab sich die Allianz ihr bis heute geltenden Grundlagenpapier – keine zwei Jahre später, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, war es de facto Altpapier.

Am Wochenende wollen sich die mittlerweile 28 Staats- und Regierungschefs des größten Militärbündnisses der Welt in Lissabon auf eine neue Wegweisung einigen – oder vielleicht, treffender gesagt: das unterzeichnen, was die Sachlage längst diktiert. Mit dem Afghanistaneinsatz hat der einstmals stehende Armeeblock des Kalten Krieges die Verteidigungslinie des Westens in asiatische Hochgebirge verlegt. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen will mehr von dieser neuen Beweglichkeit. „Fett abschneiden und Muskeln aufbauen“, lautet die Devise, die der Däne für den Strategie-Gipfel ausgibt. Mehr vernetztes, internationales Engagement sieht der Entwurf vor, den er in Portugal vorlegen wird. Längst verwandelt sich auch die Bundeswehr in eine mehr und mehr global agierende Einsatzstreitkraft. Nicht mehr die Landesverteidigung steht im Zentrum ihrer Fähigkeiten und ihres Selbstverständnisses, sondern der weltweite Einsatz im Zeitalter der asymmetrischen Konflikte.

Bei all dem Eifer: Übersehen die Reformpläne in Brüssel in Berlin womöglich, dass sich die Welt längst schon wieder verändert, sowohl denkerisch wie faktisch? 

Nicht nur in Amerika, der Nato-Führungsmacht, macht sich Frust breit über die globalen Militäreinsätze. Auch in Deutschland, Holland, Kanada wächst der Unmut. Zu hoch, so lautet ein Teil der Kritik, sind die Folgekosten des Ausrückens, die finanziellen, die politischen – die humanen. Und zu gering der Ertrag. Die Vereinigten Staaten, so ein viel diskutiertes Szenario, wenden sich unter dem angeschlagenen Präsidenten Obama, der besonders auf Volkes Stimme hören muss, nach innen. Beim Abzug aus Afghanistan (er soll im kommenden Jahr beginnen und 2014 enden) geht Washington vorneweg.

Globale Einsätze kommen aus der Mode

Zugleich fordern die osteuropäischen Nato-Neu-Mitglieder nach dem Schock des Georgien-Krieges 2008 eine „Reassurance“ durch die Bündnispartner. Ein eingefrorener Konflikt am Rande Europas erhitzte sich damals innerhalb von nur Tagen zu einer blutigen Auseinandersetzung; russische Panzerverbände, die nach Provokationen der Gegenseite über Bergpässe hinwegrollten, verursachten eine schwindelerregende Störung im Russlandbild. Vor allem Polen und die Baltenstaaten wünschen sich seitdem dringlich eine klare Versicherung, dass Artikel 5 des Washingtoner Vertrages noch immer den Kerngedanken der Allianz ausdrückt. In ihm steht, dass die Verbündeten einander Beistand zu leisten haben, „einschließlich der Anwendung von Waffengewalt (…), um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“.

Für die Bundeswehr könnte die wachsende Sehnsicht nach der alten, territorialen Nato eine paradoxe Folge haben. Just zu dem Zeitpunkt, da sie zur globalen Einsatzarmee heranreift, kommen globale Einsätze aus der Mode.

Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, hält das Auseinanderdriften von strategischer Planung und strategischem Willen für bedenklich. Er mahnt: Wenn Amerika sich stärker nach innen wende und sich außenpolitisch eher auf den pazifischen als den atlantischen Raum fokussiere, bedeute dies im Umkehrschluss keineswegs, „dass die Ursachen von Konfliktherden verschwinden“.

Was zum Beispiel, fragt Kujat, wenn politische Hasardeure wie der iranische Präsident Achmadinedschad die „amerikanische Introvertiertheit“, fehlinterpretierten und dadurch neue Konflikte auslösten, die Nato-Einsätze provozierten? Man dürfe, warnt Kujat, in einer ungebremst dynamischen Welt Militäreinsätze nicht zu statisch  denken, sich nicht zu sehr am Bekannten orientieren. Für eine selbstverständliche Aufgabe der Bundeswehr hält Kujat – wie auch der SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold – die Sicherung der Handelswege. „Das steht bereits im Weißbuch von 2006“, sagt Arnold. Kujat zeigt sich trotzdem wenig überrascht davon, dass Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg unlängst eine Empörungswelle entgegenschlug, als er dies öffentlich aussprach: „Die Deutschen sind wie Pferde“, sagt er. „Sie scheuen immer an der gleichen Stelle.“    

Seit dem wiedergefundenen Daseinszweck „out-of-area“ fliegt die Nato allerdings gleichsam auf Autopilot. Fast all ihr Geld, Energien und Industrieplanung haben die Verteidigungsministerien seit den Weichstellungen nach 9/11 in „Fähigkeitsorientierung“ und „Verlegefähigkeit“ gesteckt, wie die Konzentration auf internationale Einsätze im Militärsprech hieß. Viel zu viel, um die Grundausrichtung noch einmal zu revidieren. „So schnell wie die Weltlage sich ändert, können Sie Rüstungsprojekte nicht umsteuern“, beschreibt ein ranghoher Nato-Militär das Gesetz der sicherheitspolitische Trägheit.

Das Undenkbare denken

Für die deutschen Streitkräfte wie für die Nato insgesamt stellt sich damit letzten Endes eine Charakterfrage. Sie lautet, ob sie künftig wirklich beides leisten können: sowohl Interventionen wie auch die – wenngleich aus heutiger Sicht unwahrscheinliche – Aufgabe der Territorialverteidigung zu schultern.

Aber ja, versichern die Planer im Berliner Bendlerblock wie im Brüsseler Hauptquartier, das geht. „Die beiden Entwicklungen sind nicht gegenläufig“, beteuert Ulrich Schlie, der Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium. Sollte sich die Bedrohungslage ändern, könnte in Deutschland die Wehrpflicht wieder aktiviert und drei Mal so viele Rekruten eingezogen werden wie heute. Die „Kunst“, so Schlie, bestehe eben darin, „so zu planen, dass man auch auf unwahrscheinliche Fälle vorbereitet ist.“

In einem Büro des Nato-Hauptquartiers beschreibt ein General Kreise mit der Hand, um klar zu machen, wie dieselbe Aufwuchsfähigkeit für das Bündnis insgesamt gelte. Im Kalten Krieg, erinnert er, hätten die Nato-Armeen sich im Ernstfall in mehreren Lagen entlang der innerdeutschen Grenze aufgestellt. Von Nord bis Süd hätten dänische, niederländische, deutsche, britische, belgische und amerikanische Corps eine so genannte „Schichttorten“-Formation gebildet. Einen solchen Gefechtsstreifen, versichern die Planer, würde auch die Nato im Notfall auch heute noch hinbekommen. Zwar gäbe es keinen großen Vorrat an Panzern und „in place forces“ in Europa mehr, dafür aber 28 Bündnispartner, die – weil sie ja mobil seien – genau dort zusammen gezogen werden könnten, wo es brenne. Für solche Szenarien, heißt es, gebe es in Brüssel Notfallplanungen. Aber die seien natürlich geheim. 

Bedrohung aus dem Osten oder Süden, Gefechtsfelder in Europa – sind das nicht alles Hirngespinste? Aus heutiger Sicht mag es absurd erscheinen, dass in Europa noch einmal Armeen aufmarschieren müssten. Aber vor zehn Jahren hätte auch jeder die Vorstellung für verrückt gehalten, dass die Bundeswehr nach Afghanistan ausrücken müsste, nachdem Terroristen das World Trade Center zerstört haben. Verteidigungsplanung muss, so paradox es klingt, eben auch das Undenkbare bedenken. Darin liegt der erste Schritt zur Krisenprävention. Und zugleich die Gefahr, dass ein Militärbündnis die Gründe seiner Existenz stets aufs Neue erschafft.

Guttenberg: Die Bundeswehr muss für alle Fälle gerüstet sein

Künftige Bedrohungen am Bündnisrand hält der deutsche Verteidigungsminister keineswegs für abwegig. All jenen, die glauben, dass mit dem Beginn des Abzuges aus Afghanistan den global agierenden Armeen die Einsatzorte ausgingen, wirft Karl-Theodor zu Guttenberg vor, »in zu einfachen Analogien« zu denken. Künftige internationale Einsätze könnten ganz anders aussehen als die bisher erlebten auf dem Balkan oder am Hindukusch. An der »Peripherie des Bündnisgebietes« kann kaum ausgeschlossen werden, dass womöglich eines Tages internationale Militäraktionen vonnöten sein werden, »bei denen die Grenze von Bündnisverteidigung und Stablisierungseinsatz fließend wird«. Für solche Fälle müsse die Bundeswehr ausgebildet und ausgerüstet sein.

In der Frage der künftigen Truppenstärke gibt sich Guttenberg trotzdem beinhart. Seine Reform der Bundeswehr ist auf eine Sollstärke von 163 500 Soldaten ausgerichtet und durchgerechnet. Wer mehr Soldaten wolle, müsse auch mehr Geld zur Verfügung stellen. Der Bündnistreue werde dadurch gewahrt und gestärkt, dass die Zahl von derzeit 7000 Bundeswehrsoldaten, die maximal zeitgleich im Einsatz sein können, auf 10 000 bis 15 000 erhöht würde. So sieht man es auch im Brüsseler Nato-Hauptquartier. Weniger deutsche Soldaten, dafür besser ausbildete, die Aussicht begrüßen die Alliierten.

Aber wird diese Aussicht auch Realität? Womöglich nur dann, wenn die künftige Bundeswehr  190 000 Mann zählt. Nur so kann sie,  bei einem Rhythmus von vier Monaten Auslandseinsatz und 20 Monaten Dienst zuhause, die gewünschte Zahl deutscher Soldaten für Nato-Missionen stellen. Und wenn deutlich mehr als 7500 Männer und Frauen, wie in den Guttenberg-Plänen veranschlagt, pro Jahr freiwillig Wehrdienst leisten. Nur so kann der Regenerationsbedarf der Bundeswehr erfüllt werden. Und wenn nicht, der womöglich entscheidende Punkt, die Spardiktate in Zeiten der Schuldenbremse verhindern, dass die Soldaten so ausgebildet und ausgerüstet werden, dass sie im Auslandseinsatz Hochqualifiziertes leisten. Und ihn überleben.

Was sagt eigentlich das Grundgesetz?

Hilfreich wäre dabei, wenn nicht jede  nationale Bündnisarmee nach maximaler Größe strebte und von allem möglichst viel haben  wollte. Eine bessere Abstimmung vor allem unter den europäischen Partnern könnte Doppel- und Dreifachanschaffungen verhindern – und Finanzmittel für die Ausbildung und Ausrüstung der Soldaten im Auslandseinsatz freisetzen.                 

Anders als manch anderer glaubt Guttenberg außerdem, dass Amerika die Nato sehr wohl weiter als Werkzeugkasten für globale Einsätze pflegen werde. Zwar sieht auch er eine »Bugwelle isolationistischer Tendenzen« über die USA schwappen. »Doch diese Welle treibt ihre Endlichkeit bereits vor sich her.«  Eine Rückbesinnung nur auf sich selbst, ein Rückzug aus der globalen Welt, werde sich die größte Ordnungsmacht nicht leisten. Ergo: »Die Einschätzung, die Nato verlagere mit der neuen Strategie das Hauptaugenmerk auf die Landes- und Bündnisverteidigung, teile ich nicht. Die Fähigkeit zu einem vernünftigen Krisenmanagement auch außerhalb der Bündnisgrenzen bleibt genauso wichtig.«

Dann fragt sich nur noch, wann eigentlich Deutschland gedenkt, auch sein Grundgesetz an die neue Nato-Doppelfähigkeit anzupassen. In schöner alter Kalter-Kriegs-Manier heißt es dort nämlich noch immer ganz schlicht: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“

 

Rettet das Geld!

Die EU-Staatschefs leiten eine leise Revolution für den Euro-Raum ein. Eine Analyse der jüngsten Gipfelbeschlüsse 

Dass die Rettung des Euro für das Kanzleramt alles andere als eine Herzensangelegenheit ist, lässt sich schon an deren amtlicher Bezeichnung ablesen. „Liquiditätsfaszilität“ nennen Angela Merkels Mitarbeiter die 750 Milliarden, welche die Euro-Staaten im Frühjahr zusammenschaufelten, um die Gemeinschaftswährung zu stützen. Seit dem EU-Gipfel vergangene Woche hat die Sache einen nur geringfügig freundlicheren Namen. Ein „Ständiger Krisenmechanismus“, heißt es jetzt, soll eingerichtet werden, um im Fall einer neuerlichen Krise den Euro vorm Kollaps zu bewahren.

Es gäbe eine lebensnahere Variante, das zu benennen, was sich infolge des Beinahe-Crashs vom Frühjahr als leise Revolution der Europäischen Union anbahnt. Eine Not-Gemeinschaftskasse. Nur ist dieses Wort genau das, was die Bundesregierung meidet wie ein Schlangennest – und was in aller Klarheit auch der EU-Vertrag verbietet.

In den kommenden Monaten wird Europa deshalb eine ebenso stille wie kühne Operation durchlaufen. Auf Betreiben von Angela Merkel haben die 27 Staatschefs in Brüssel soeben beschlossen, die Währungsunion gleichsam per Schlüssellochchirurgie auf eine neue Funktionsweise zu drehen.

Was genau soll passieren? Es sind im Wesentlichen drei Dinge.

Wenn der 750-Milliarden-Euro-Rettungsschirm vom Mai 2010 wie geplant 2013 wieder eingeklappt wird, soll an seine Stelle ein anderer Fonds treten, der zwar auch aus Geld besteht – aber zu einem möglichst kleinen Teil aus Steuergeld. Banken und Spekulations-Fonds, die von den Zinszahlungen verschuldeter Staaten profitieren, sollen, so die deutsche Forderung, ihren Risikoanteil leisten, falls Regierungen drohen, zahlungsunfähig werden.

Unter noch zu bestimmenden „strikten Auflagen“ soll dieser neue, permanente Rettungsfonds aktiviert werden können. Zweitens sollen Euro-Staaten präventiv schneller und härter bestraft werden, wenn sie die Gemeinschaftswährung durch zu hohe Verschuldung gefährden. Der EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy hat dafür schon einen Vorbeuge-Katalog entworfen. Drittens soll das alles recht zügig passieren, denn 2013 will Angela Merkel wiedergewählt werden. Ausgerechnet im Wahljahr sähe es recht schlecht aus, wenn die Bundesregierung neue Milliarden in eine unverändert steuerfressende Brüsseler „Liquiditätsfaszilität“ pumpen müsste.

Um all diese Verschärfungen zu ermöglichen, um den Euro also statt einem Rettungsring eine (kostenpflichtige) Küstenwache bereitzustellen, muss eine große Kleinigkeit geschehen: Der Lissabon-Vertrag muss geändert werden. Binnen zwei Monaten, bis zum nächsten EU-Treffen kurz vor Weihnachten, hat eine Task Force unter Herman Van Rompuy jetzt Zeit, passende, und das heißt: möglichst harmlos klingende Formulierungen für eine Revision auszuarbeiten.

Die Herausforderung besteht darin, dem strikten Beistandsverbot des Artikel 125 Lissabon-Vertrag („Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen“) durch so etwas wie einen Notstands-Paragrafen die Absolutheit zu nehmen. Ein Argument dafür liefert mit ein bisschen Phantasie eine historische Auslegung. Als der Reform-Vertrag nach acht Jahren Arbeit im vergangenen Dezember in Kraft trat, hatten seine Architekten an eines nicht gedacht: dass der Euro einmal ernsthaft ins Schwanken geraten könnte.

Ein denkbarer Weg diese Lücke zu beseitigen, wäre es, die mutmaßlichen Sätze nachzuzeichnen, die die Signatarstaaten in den Vertrag geschrieben hätten, hätten sie diese Gefahr geahnt. Ein Rettungsparagraf könnte sinngemäß lauten: „Von Artikel 125 darf abgewichen werden, wenn der Euro in seiner Gesamtheit gefährdet ist.“ Mit einer solchen Ultima-Ratio-Klausel, so hofft die Bundesregierung, wäre der Euro-Schirm gerichtsfest gemacht gegen Verfassungsbeschwerden. Schließlich haben sich die Gegner der Rettungszahlungen an Griechenland in Karlsruhe längst in Stellung gebracht.

Juristisch mag die Wende der Europäischen Union von einem Club eigenverantwortlicher Hausbesitzer hin zu einer Eigentümergemeinschaft mit Rücklagekonto also, wenn auch unter Knirschen, zu bewerkstelligen sein. Aber ist das Paket „Mehr Solidarität gegen mehr Sanktionen“ auch politisch durchsetzbar?

Jede Vertragsänderung muss von den Parlamenten der Mitgliedstaaten gebilligt werden, und in Irland und Großbritannien könnten sogar Referenden notwendig werden. Die Vorstellung, dass ausgerechnet die Euro-abstinenten Briten über die Spielregeln der Währungsunion entscheiden könnten, löst in Brüssel Schüttelfrost aus. Tatsächlich steht der britische Premierminister David Cameron unter dem Druck seiner Tory-Partei. Eine Mehrheit fordert ihn auf, die Verlegenheit der Euro-Anhänger zu nutzen, um EU-Kompetenzen nach London zurückzuverlagern. Doch Cameron pocht offenbar auf demselben Argument wie sein irischer Amtskollege Brian Cowen. Eine Volksbefragung, versichert der, sei nicht notwendig, wenn mit der Vertragsänderung keine neuen Kompetenzen nach Brüssel übertragen würden.

Genau darauf will Angela Merkel allerdings in einer zweiten Runde der Vertragsanschärfung hinaus. Aus ihrer Sicht rüttelt es an den „Grundwerten“ der Europäischen Union, wenn ein Mitgliedsstaat den Euro ins Trudeln bringt. Die Kanzlerin möchte deshalb im Extremfall reformunwilligen Euro-Sündern das Stimmrecht im Europäischen Rat entziehen können. Sie stützt sich dabei auf Fundamentalprinzipien-Artikel 7 des EU-Vertrages – der, wenn man so möchte, Nuklearwaffe der Union. Mit diesem Vorstoß löste sie sie vergangene Woche Stirnrunzeln bei den meisten ihrer Kollegen aus – und blitzte vorerst ab. Doch die Deutsche bleibt hart.

„Der Stimmrechtsentzug bleibt auf der Tagesordnung“, beharrte Merkel in der Abschlusspressekonferenz des Brüsseler Gipfels. Die begrenzte Vertragsänderung sei für sie nur „ein erster Schritt“. Weitere, größere Vertragsänderungen schloss sie keineswegs aus. Sie könnten eingefügt werden, wenn der Lissabon-Vertrag wegen des EU-Beitritts Kroatiens ohnehin in allen Mitgliedsstaaten neu ratifiziert werden müsse. Ihre Amtskollegen hörten diese Ansage nicht mehr. Sie waren schon auf dem Weg zurück in ihrer Hauptstädte – und deren Haushaltsdebatten.

 

„Wir begehen Harakiri“

Hollands Christdemokraten schließen einen Duldungsbund mit Geert Wilders. Ein verhängnisvoller Fehler, sagen Kritiker innerhalb der Partei 

Arnheim
Memet Tekinerdogan kommt spät an die Reihe, aber was er sagt, sind
vielleicht die wichtigsten Sätze, die auf diesem Parteitag, dem größten der
niederländischen Geschichte, fallen. »Meine Tochter ist zwölf Jahre alt«,
sagt Tekinerdogan, als er in der schwülen Luft der Arnheimer Rheinhalle
endlich das Saalmikrofon ergattert hat, »und sie fragt mich: ›Papa, was ist
los in Holland? Hassen die Menschen uns jetzt alle? Nur weil wir Muslime
sind? Was haben wir denn getan?‹«

Genau eine Minute Redezeit blieb dem 44 jährigen Bauingenieur, um
Widerspruch einzulegen gegen den Sündenfall, den seine Partei, der
niederländische Christlich-Demokratische Appell (CDA), seiner Ansicht gerade
beging. Die Christdemokraten werden sich zusammen mit den Liberalen (VVD) in
Den Haag als Minderheitsregierung tolerieren lassen. Von Geert Wilders,
einem Politiker, der sagt: »Wenn die Leute den Islam so leben wollen, wie
ihn der Koran vorgibt, dann gibt es für sie keinen Platz in diesem Land.«

2759 der Delegierten des Sonderparteitages, knapp 70 Prozent, stimmten am
vergangenen Wochenende für die »Gedoogsteun«, die Duldung durch den Populisten, am
Dienstag willigte auch die Parlamentsfraktion ein. Die neue Regierung wird
ein wackliges Konstrukt, politisch wie rechnerisch. Konservative und
Liberale verfügen mit Wilders’ »Partei für die Freiheit« (PVV) über 76 der
150 Parlamentssitze, also über eine Stimme mehr als die Opposition.
Kein Wunder, dass der Vorsitzende der Christdemokraten, Maxime Verhagen,
seit Tagen angestrengt zu beschwichtigen versucht. Wilders, sagt er, werde
nicht Teil der Regierung sein. Es seien die Volksparteien, die in dem Trio
den »Ton setzen«.

„Tut das diesem Land nicht an!“

Verhagens Taktik funktionierte. Die Gegner des Zweckbündnisses erhielten in Arnheim zwar artigen Applaus. So auch der prominente CDA-Politiker Ernst Hirsch Ballin, scheidender Justizminister und Sohn von Holocaust-Überlebenden, der geradezu flehte : »Tut das diesem Land nicht an!« Am Ende siegte dennoch der Wunsch nach Regierungsmacht über die Prinzipien.

Richtig an Parteichef Verhagens Standpunkt ist, dass Wilders’ PVV keine
Minister stellen wird. Das unterscheidet den Fall Holland 2010 vom Fall
Österreich 2000, wo die Christdemokraten unter Kanzler Wolfgang Schüssel den
Kabinettstisch mit Jörg Haiders FPÖlern teilten. Richtig ist auch, dass
Wilders eher ein Sektenführer ist denn Chef einer ernsthaft organisierten
Partei. Die PVV hat nur ein Mitglied, Wilders, und wer eines der 24 über die
Parteiliste gewählten Mitglieder des Haager Parlamentes sprechen möchte, den
weist die Pressestelle mit empörtem Tonfall ab.

»Natürlich bekommt Wilders Einfluss, wir sind schließlich von ihm abgängig«,
kontert Cornelius Hulsmann die Argumente Verhagens. Hulsman ist
Parteimitglied seit 1980, als der CDA als Zusammenschluss calvinistischer,
protestantischer und katholischer Parteien gegründet wurde. Wilders
Handschrift lässt sich schon im Koalitionsvertrag nachlesen, wo sich seine
»Rettet den Westen«-Philosophie in Form eines Burka-Verbots und dem Plan zur
Verschärfung der Einwanderungsgesetze niederschlägt.

Und weil der Rechtspopulist sich zudem als der Rächer des kleinen Mannes versteht,
stemmte er sich auch gegen die Kürzung von Renten und Arbeitslosenhilfen.
»Wir wollen das Land dem arbeitenden holländischen Bürger zurückgeben!«,
fasste der Parteichef der Liberalen und künftige Ministerpräsident Mark
Rutte in bemerkenswerter Wortwahl den Konsens zusammen. Wilders Rhetorik
wirkt offenbar ansteckend auf die Koalitionäre, was sich stärker noch in den
Reihen des CDA niederschlägt. Beim Arnheimer Parteitag gab es anhaltenden
Applaus für einen Delegierten, der das neue Bündnis mit dem Argument
verteidigte, in Pakistan würden Christen verfolgt, »auch deshalb sollten wir
zusammenarbeiten«. Viele Skeptiker wiederum ließen sich von der Parole der
Parteiführung überzeugen, wonach die CDA auch und gerade zum Schutz vor zu
viel Wilderismus, im Land gebraucht werde.

„Wir bekommen eine neue Art von Apartheid“

Gerade dieses Argument bringt einen wie Hulsmann in Rage. Er macht sich seit
Jahren für einen Dialog mit dem vierten Glauben des Landes stark, dem Islam.
Und für eine offene Debatte über Probleme bei der Integration von Muslimen.
Aber Wilders, sagt Hulsmann, gehe es vor allem darum, die politische Mitte
auf einen grundsätzlich neuen Kurs zu zwingen. Er wolle ein feindliches
Menschenbild verbreiten, also den urholländischen Mut zum Einbinden in die
Angst vor dem Fremden verwandeln. Hulsmanns Ansicht teilen vor allem ältere
Mitgileder des CDA. Wenn Wilders, so fürchten sie, jetzt auch noch das
Gerichtsverfahren wegen Volksverhetzung gewinnt (dem in der Tat der Ruch
eines politischen Prozesses anhaftet), werde er obendrein als Held der
freien Meinung dastehen. »Wir begehen gerade Harakiri«, bilanziert der
CDA-Parteihistoriker P. G. Kroeger.

Regierungseuphorie und Untergangsstimmung – zwischen diesen beiden Extremen
schwanken derzeit die niederländischen Konservativen. »Eine neue Art von
Apartheid« prophezeit Jacques Duivenvoorden, CDA-Stadtvorsitzender von Den
Haag, seinem Land unter dem Einfluss von Geert Wilders »Die Wähler werden
uns weiter niederstimmen, weil sie sich bei uns Christdemokraten nicht mehr
zuhause fühlen. In den Städten, wo schon jetzt Segregation herrscht, werden
sie uns als erstes auslöschen.« In der Tat verlacht Wilders seine
bürgerlichen Bündnisgenossen als feige Weichlinge, die unfähig seien, den
Problemen der Zeit zu begegnen. »Das Kürzel CDA, das steht für ›Christliche
Diener Allahs‹«, spottet er.

Europas Nachbarregierungen schweigen auffällig laut zu dem, was sich in den
Niederlanden abspielt. Angela Merkel ließ schmallippig verlauten, sie
bedauere die Lösung. Darüberhinaus, so verkündete die Bundesregierung, freue
man sich auf »weitere enge Kooperation auf allen Ebenen mit dem
freundchsftlichen Partner Niederlande.« Frankreichs Staatspräsident Nicolas
Sarkozy sagte gar nichts – wohl wissend, dass er mit jeder Kritik an den
neuen Haager Verhältnissen die französischen Wähler am rechten Rand
verprellen würde, die er selbst so dringend braucht. Wilfried Martens, Chef
der Europäischen Volkspartei (EVP), der EU-Familie der Konservativen,
stellte klar, dass es auf europäischer Ebene keine Zusammenarbeit mit
Radikalen gebe werde – und dass er im Übrigen auf die »langen Tradition« des
CDA vertraue.

Europa schweigt

An diplomatische Sanktionen, wie sie vor zehn Jahren 14 EU-Regierungen
bilateral gegenüber Österreich verhängten, denkt heute niemand. Auch in der
Brüsseler EU-Verwaltung zeigt niemand auch nur einen Hauch von Streitlust.
Kommission und Rat sehen sich mit, wie sie finden, weit größeren Problemen
konfrontiert: mit Strafen für Haushaltssünder; mit einer französischen
Regierung, die gerade den Status von Roma als gleichberechtige europäische
Bürger in Frage stellt; und mit einem drohenden Finanzkollaps in Irland.

»Meine Kollegen in der EVP sind zur Zeit sehr höflich, gerade die
deutschen«, berichtet der CDA-Europaabgeordnete Wim van de Camp. Die
Wirtschaftskrise, die Angst der Baby-Boomer-Generation um ihre Rente, ihre
Jobs, die Sorge um Kriminalität, all das seien schließlich nicht nur
niederländische Phänomene. Außerdem wirke die konservativ-liberale
Regierungskoalition in Deutschland ja auch nicht gerade besonders stabil.
»Vielleicht«, sagt van den Camp, »ist es ganz klug von den Kollegen, im
Moment, wie wir auf Holländisch sagen, keine große Hose anzuziehen. Denn sie
wissen, was bei uns geschieht, kann auch bei ihnen passieren.«

 

Deutsch und Moslem sein – geht das?

Liebe Leser,

meine letzten Artikel zu Geert Wilders haben ungewöhnliche viele Kommentare ausgelöst. Allein 148 Reaktionen folgten dem Text „Ich, Retter des Abendlands„.

Selten habe ich es erlebt, dass die Meinung der Leser so einhellig war. Der Islam, hieß es in fast allen Kommentaren, sei unvereinbar mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, er sei eine aggressiv-expansionistische Ideologie, die Intoleranz statt Verständigung predige. Der Westen sei naiv, wenn er dieser Bewegung mit den Maßstäben der Religionsfreiheit begegne.

Natürlich gibt es eine radikale Auslegung des Koran, und natürlich lässt sich der Islam als Anleitung zur Tötung „Ungläubiger“ lesen. Wer das bestreiten wollte, muss in den vergangenen zehn Jahren blind gewesen sein.

Aber das ist eben nicht die ganze Wahrheit.

Unter den vielen Mails, die auf die Artikel folgten, war eine von einer jungen Muslima, die mich beeindruckt hat. Ich möchte sie deshalb hier wiedergeben; in der Hoffnung, dass sie eine vielleicht etwas genauere Diskussion anstößt. Der Name der Autorin wird auf ihrer eigenen Wunsch hin nicht komplett genannt.   

Wo bleibt das Wir?

Mein Name ist Zohra M., ich bin 19 Jahre jung, Tochter eines Algeriers und einer Deutschen – und gläubige Muslimin. Vor wenigen Monaten habe ich das Abitur mit einem Durchschnitt von 1,7 abgeschlossen, im Oktober werde ich, so Gott will, anfangen zu studieren.

In den Augen Thilo Sarrazins und Freunde gelte ich sicherlich als „Ausnahme unter den Jugendlichen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund“. Dem muss ich widersprechen. Oder kann sich ein Islamischer STUDENTENverein, wie wir ihn hier in Darmstadt haben, allein durch Ausnahmen bilden und entwickeln?

Seit einigen Wochen verfolge ich nun die neu aufgeflammte Debatte um „die Muslime“, „die arabischen und türkischen Einwanderer“in Deutschland. Ich will gar nicht bestreiten, dass es tatsächlich Migranten gibt, die kein Interesse an der deutschen Sprache und Kultur haben. Aber ich wehre mich dagegen, mit ihnen in einen Topf geworfen zu werden. Ich wehre mich dagegen, dass aufgrund einer Minderheit eine ganze Religionsgemeinschaft den Kopf hinhalten muss.

„Die Muslime“, dass sind nicht nur die Türken und die Araber. Der Islam ist keine Nationalität, er ist eine Religion, die auf der ganzen Welt verbreitet ist. Es ist also hirnrissig, einen Unterschied zwischen „dem Deutschen“ und „dem Moslem“ zu machen, denn beide Aspekte schließen sich nicht zwangsläufig aus. 

Ich bin selbst Halb-Deutsche, in Deutschland geboren und aufgewachsen, ich spreche fließend deutsch und habe in der Schule den Deutsch-Leistungskurs belegt. Gleichzeitig praktiziere ich meine Religion, indem ich bete, faste, den Koran lese. Wo, bitte, befindet sich hier ein Widerspruch?

Obwohl ich mich selbst als liberale Muslima einschätze und offen auf andere Menschen zugehe, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion, musste auch ich in Zeiten der Islam-Debatte leider feststellen, wie ich mich gezwungenermaßen in ein gewisses Schema gedrängt fühle. Ich kann nicht mehr über meine Religion informieren, nein, ich muss sie rechtfertigen und beschützen.

Die Fragen lauten heutzutage nicht mehr „Warum muss eine muslimische Frau ein Kopftuch tragen?“ oder „Was ist der genaue Sinn, im Ramadan zu fasten?“. Genau genommen sind es auch keine Fragen mehr, sondern Vorwürfe wie „Der Islam ist eine Religion, die die Frau unterdrückt!“ und „Einen Monat lang zu fasten kann ja nur ungesund sein!“

Wie ist es dazu gekommen, dass uns Muslimen statt Interesse und Neugier plötzlich Ablehnung und Misstrauen entgegenschlagen? Ist es nicht gerade diese Ablehnung und dieses Misstrauen, dass uns zum Rückzug in die eigenen Reihen zwingt, es uns so schwer macht, die Stimme zu erheben und zu sagen „Wir haben mit Terrorismus, Gewalt und Intoleranz nichts zu tun!“, sodass wir gar keine andere Wahl haben, als unter uns zu bleiben, wo man uns akzeptiert?

Mit „uns“ meine ich die Muslime, die sich gerne mit Andersgläubigen austauschen, die die deutsche Gesellschaft nicht als Feindbild betrachten und sich gerne integrieren und sozial einbringen möchten.

Ich hoffe, dass man als Muslim bald (wieder) die Chance dazu bekommt. Dass man Muslimen wie mir Gehör verschafft und uns auch ernst nimmt. Dass man zu geistreichen Diskussionen mit uns bereit ist, ohne uns in eine Ecke mit Kriminellen und Fundamentalisten zu drängen. Dass eines Tages aus „uns“ und „euch“ wieder ein „wir“ wird.

Zohra M.

 

Geert Wilders, Retter des Abendlands

Der niederländische Populist sieht sich als geistiges Oberhaupt einer globalen Allianz gegen den Islam. Am Wochenende tritt er in Berlin auf. Ein Reisebericht

Berlin/New York/Rotterdam

Den Ort, an dem Geert Wilders in Berlin auftritt, wollen seine Gastgeber lieber nicht preisgeben. Nur gut 500 Interessenten, die sich für den Auftritt des niederländischen Islamkritikers am 2. Oktober zuvor übers Internet beworben haben, sollen ihn erfahren. „Viele werden wahrscheinlich gar nicht kommen können“, bedauert René Stadtkewitz. Sicherheitsgründe, sagt er, muss man verstehen. Wilders, stets umgeben von Leibwächtern, will einen Vortrag auf Deutsch halten und seinen Film „Fitna“ vorführen, einen blutigen Extremistenschocker, der direkte Verbindungen zwischen Koran-Suren und Terrorismus herstellt. Unter anderem deswegen steht Wilders in Holland wegen Anstachelung zum Hass vor Gericht. Unter anderem deswegen ist seine Partij voor de Vrijheid (PVV) bei den Wahlen im Juni aber auch mit 24 von 150 Sitzen zur drittstärksten Kraft im Haager Parlament aufgestiegen. Nach langen Verhandlungen haben Rechtsliberale und Christdemokraten diese Woche beschlossen, ihre Regierung von Wilders dulden zu lassen.  

René Stadtkewitz sitzt, in Schlips und Kragen, vor einer Teestube am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Gerade hat eine holländische Filmcrew Aufnahmen von ihm im Kopftuch-Kietz geschossen. Der Mann wirkt siegesgewiss für einen, dessen politische Karriere vor wenigen Tagen beendet erschien. Am 7. September schloss die Berliner CDU den Stadtverordneten aus Pankow aus ihrer Fraktion aus. Landeschef Frank Henkel hatte ihn aufgefordert, die Einladung an Wilders zurückzuziehen. Stadtkewitz weigerte sich und rief stattdessen seine eigene Partei aus. sagte er dort in Anspielung auf Thilo Sarrazin. Deshalb müsse nicht nur die Einladung an Wilders bestehen bleiben. Deshalb müsse auch eine neue Partei her. „Die Freiheit“ haben Stadtekewitz und seine Mitstreiter, ein ebenfalls ehemaliger CDU-Politiker und ein Ex-Mitglied der Piratenpartei, sie getauft. Freiheit, weil sie es leid sind, „tatenlos mitanzusehen, wie einige durchs Land gejagt werden, nur weil sie den Finger in die Wunde legen.“ Der „Ansturm“, den er und seine Mitstreiter seither erleben, sei kaum zu bewältigen, sagt Stadtkewitz.

Hat das Phänomen Wilders also auch anderswo Erfolgschancen? Wird Islamkritik so schick, dass sie mit eigenen Parteien in die bürgerliche Mitte einbrechen kann? Entsteht gar in Deutschland der erste Ableger einer sich internationalisierenden, entgrenzenden Partij voor de Frijheid?

Ein Händler in Sachen Legitimität

Genau das hat Geert Wilders im Sinn. Der blondierte Hitzkopf will Höheres bewirken mit seiner Prominenz. Einem Reporter der Zeitung „De Telegraaf“ gab der 46jährige im Juli zu verstehen, dass er sich als spirituelles Oberhaupt einer Koalition betrachtet, die weit über die Niederlande hinaus geht. Ende November, wenn das Gerichtsverfahren gegen ihn beendet sei, kündigte er an, wolle er eine „Geert Wilders Freiheits-Allianz“ ins Leben rufen. Er wolle sich dabei zunächst auf fünf Länder konzentrieren, die Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. „Alle diese Länder will ich in den kommenden Monaten besuchen und Reden halten.“

Dort wird er das sagen, womit er in Holland schon gesellschaftsfähig geworden ist. Dass der Koran ebenso verboten werden müsse wie Hitlers „Mein Kampf“. Dass es keinen Unterschied gebe zwischen Islam und Islamismus, weil der Islam eine umfassende Gesellschaftsordnung predige. Um die Islamisierung des Westens zu stoppen, müsse nun „mehr auf internationaler Ebene passieren.“ Nach seinem festen Tritt in Holland muss Wilders nach horizontaler Anerkennung nicht lange suchen. Allzu gerne lehnen sich Anti-Islamisten aus aller Welt an die Lichtfigur an. In den Niederlanden war Wilders ein „Händler in Sachen Angst“, wie der Schriftsteller Geert Mak es formuliert. Jetzt, nach der Wählerweihe, wird er jenseits von Polderland ein Händler der Legitimität. 

Wie wirkungsvoll er seinen Helden-Status strahlen lässt, ließ sich am 11. September in New York besichtigen. Hier, am Ground Zero, startete Wilders seine Fünf-Länder-Tournee. Fast ein Jahrzehnt nach den Anschlägen auf Amerika versammelten sie sich am Park Place im Manhattan; die Ungeduldigen, die Unverstandenen, die Zornigen und die politischen Inkorrekten, die wähnen, den Mut zur Wahrheit besitzen und als Einzige die Schicksalsfrage unserer Zeit auszusprechen. „Tea Party Patriots“, Feuerwehrleute, Irakkriegsveteranen, Zionisten, selbsternannte Freidenker und britische Rechtsradikale – all jene, die im Gegensatz zum politischen Establishment und den verhassten Mainstream-Medien glauben, nichts als die Wahrheit zu sagen.

Ihre Wahrheit lautet, dass es, Schluss mit dem Appeasement!, sehr wohl einen Zusammenhang gibt zwischen dem Islam und der Verachtung der westlichen Lebensweise. Eben weil der Islam, so sehen sie, keine Religion wie jede andere ist, sondern weil er eine Ideologie mit sich herumschleift. „Weil der Koran voll von Anstachelung zur Gewalt ist“, so Wilders, fielen die Twin Towers, werden Frauen verstümmelt, müssen Mohammed-Karikaturisten um ihr Leben fürchten und gibt es diese furchtbaren Probleme mit Migrantengangs in Europas Großstädten. Ganz einfach.

„Wilders for President!“

„So weit dürfen wir es bei uns nicht kommen lassen“, findet Bob Schmidt. Der 56 Jahre alte New Yorker hat sich mit seinem Schild „Wilders for President!“ in die erste Reihe vor dem Rednerpult gedrängt. „Die meisten hier kennen Wilders nicht“, sagt Schmidt, „aber sie werden ihn kennen lernen.“ Schmidt hat Wilders Karriere über das Internet verfolgt, und er ist beeindruckt von dem Mann, den keine Morddrohung schreckt. Er dreht sein Plakat herum. Auf die Rückseite hat er geschrieben, was wohl die meisten der Versammelten für sich in Anspruch nehmen: „Das Wort Rassist zieht nicht mehr!“

Dieser 11. September 2010 also war der Startschuss, um ein bisher vor allem virtuelle Netz der Islamkritiker in die Echt-Welt zu ziehen. Eingeladen nach New York hatte Wilders eine Web-Sammelbewegung namens SIOA, Stop Islamization of America. Ihre Homepage ist gut vernetzt ist mit SIOE (Stop Islamization of Europe), welche ihrerseits übersichtlich verlinkt auf die Seiten von Stop Islamization of Deutschland, Österreich, Frankreich, Schweden, Belgien und der Färöer-Inseln. Es gibt sie überall, die Wilderisten.

Ihre bisherige Haupterrungenschaft ist es, eine regelrechte Suböffentlichkeit zum traditionellen Mediendiskurs geschaffen zu haben. In Deutschland etwa ist es vor allem die Plattform „Politically Incorrect“ des ehemaligen Sportlehrers Stefan Herre, die Nachrichten, Filme und Termine „gegen die Islamisierung Europas“ bündelt. Die Gesamtzahl der Seitenaufrufe liegt laut Eigenzählung bei knapp 108 Millionen, etwa 75 000 User tummeln sich demnach jeden Tag auf der Seite, die sich selbst als „größten Blog Europas“ bezeichnet. Mitte Juli empfing Geert Wilders Herre zusammen mit René Stadtekewitz in seinem Büro in Den Haag.  „Wilders unterstrich in dem Gespräch die Bedeutung Deutschlands für die Geert Wilders Allianz für die Freiheit“, berichtete „Politically Incorrect“ nach dem Besuch. Jetzt also Berlin.

 „Das Thema Internationalisierung haben wir noch gar nicht im Blick“, wiegelt René Stadtkewitz ab. „Und wir werden auch bestimmt nicht mit Geert-Wilders-Fanschals dastehen, wenn er spricht. Wir wollen mit ihm reden. Kritisch reden.“

Eine neue Avantgarde der Aufklärung?

Man muss den Anspruch dieser neuen Bewegung, recht eigentlich eine Avantgarde der Aufklärung zu sein, ernst nehmen, wenn man sie durchdringen und ihr begegnen will. Sie mitsamt den Le Pens und Haiders dieser Welt als Rechts-Populisten abzuhaken, greift zu kurz. Natürlich zieht der Schlachtruf „Islam = Böses“, siehe die Sarrazin-Debatte, Dumpfheit und Ressentiment an. Aber Wilders und Stadtkewitz versichern, Rassisten weder zu sein noch sie in ihrer Bewegung zu dulden. „Wir sind keine Freunde jener Parteien und Politiker quer durch Europa, die mit uns Kontakt aufnehmen wollen“, beteuert Wilders.

Das mag aufrichtig gemeint sein, aber es bleibt ein bestenfalls naiver Anspruch, angesichts des ganz eigenen Extremismus, den diese neue Internationale produziert. Vielleicht nennt man ihn besten einen Absolutismus des Verdachts. Die Wilderisten verurteilen den Islam in der Tat völlig unabhängig davon, von welcher Rasse er – um in ihrem Bilde zu bleiben – Besitz ergriffen hat. Sie halten nicht den Menschen für unveränderlich, sondern eine angeblich im Mittelalter zurückgebliebene Weltanschauung. Sie werfen dem New Yorker Moscheegründer seinen Glauben genauso vor wie dem indonesischen Imam und dem türkischen Gemüsehändler. Sie würden, kurzum, am liebsten eine Religion einstampfen, der weltweit etwa 1,5 Milliarden Menschen angehören – und in der durchaus gerade ein Kampf der Reformer gegen die Traditionalisten tobt. Aber Modernisierungsmöglichkeiten passen nicht ins Weltbild der Islamgegner. Die Fähigkeit zur Selbstkritik sprechen sie dem Islam schlicht ab. Sie betrachten ihn eher als ansteckende Krankheit.

Die Religion verachten ohne die Gläubigen zu verachten?

In einem Interview mit dem australischen Nachrichtensender SBS sagte Geert Wilders, er lehne Immigration aus sämtlichen muslimischen Ländern ab, also aus allen Staaten, die mehrheitlich von Muslimen bewohnt seien.

Rückfrage des Moderators: Auch die von Christen aus dem Libanon oder Juden aus Ägypten?

Antwort Wilders: Auch die, denn die Fakten bewiesen nun einmal, dass dort, wo die islamische Kultur dominiere, die Freiheit unterentwickelt sei. „Der Islam“, doziert Wilders, „ist eine gewalttätige Ideologie wie der Kommunismus und der Faschismus. Deswegen sollten wir ihn auch so behandeln. Sonst wird er uns eines Tages auffressen.“

Die Religion zu verachten ohne die Gläubigen zu verachten, das soll gehen? Aber natürlich, antwortet René Stadtkewitz. Schließlich gebe es doch auch Muslime, die den Islam für seine „ideologischen Kompetenten“ kritisierten. Die meisten der Leute, die ihn kontaktieren, um Landesverbände in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein oder NRW zu gründen, seien CDU-Anhänger, berichtet er. „Es sind aber auch viele SPDler dabei, und eine Menge von der FDP. Das sollen alles Rechtsradikale sein?“

Aber was für eine Politik will „Die Freiheit“ denn entwickeln? Eine neue Einwanderungspolitik, so viel ist zu erfahren, stellt sich der Gründer vor, wohl auch ein Burka-Verbot – aber worum es ihm eigentlich gehe, sagt Stadtkewitz, sei die Frage: „Wollen wir in 20, 30 Jahren immer noch dieselben Debatten über Integration führen, weil wir uns weiter in die Taschen lügen, oder müssen wir jetzt nicht endlich einmal etwas dagegen unternehmen, dass der Islam von Fanatikern dominiert wird?“ Eben diese Entwicklung, erzählt Stadtkewitz, habe er bei vielen Gesprächen ausgemacht, die er in den Teestuben von Moabit, Neukölln und Kreuzberg gesucht habe. „Gerade die jüngeren Migranten waren kaum zu Gesprächen bereit, sie waren einfach nur aggressiv. Für viele Jugendliche ist es ein Nationalitätenersatz, Moslem zu sein. Das kommt vom Einfluss falscher Imame. Unsere Gesellschaft ist anscheinend zu dumm, das zu erkennen.“

„Wie soll man sich denn als liberale Muslima Gehör verschaffen?“

Vielleicht ist sie nicht zu dumm, vielleicht pflegt sie einfach zu gern ein falsches Feindbild, und vielleicht ist es genau diese Lust, die viele Islamkritiker erhitzt, so wie es in ganz ähnlichen Milieus früher einmal der Anti-Kommunismus getan hat. Fatima Lamkharat glaubt, dass es so ist. Sie ist gläubige Muslima und Sozialarbeiterin in Rotterdam-Nord, einer Gegend, in der bis 90 Prozent der unter 24jährigen aus Migrantenfamilien stammen. Dort und in ihrem Nebenjob als Kommunalpolitikerin spürt die Sozialdemokratin die Wirkungen der „anti-islamischen Welle“, die Wilders auslöst.

Dabei stimmen ihre Erfahrungen zunächst einmal mit denen von Stadtkewitz überein. Gerade jüngere Muslime seien geprägt von radikalem religiösem Gedankengut, das sie zum Teil aus den Moscheen, zum Teil aus dem Internet bezögen. „Viele sind so engstirnig, dass sie mich fragen, ob es richtiger sei, mit weißen oder mit schwarzen Socken zu beten. Und vielen schützen den Koran als Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung von Frauen vor.“ Doch Lamkharat findet andere Gründe für diese Flucht ins Anderssein. „Das Gefühl, dazuzugehören, ist einfach wichtig für die jungen Leute. Genau das verweigern ihnen Wilders und seine Anhänger. Sie stoßen die Muslime immer wieder in genau die Ecke, aus der sie herauskommen wollen.“

Lamkharat selbst sei einmal von einem holländischen Fernsehsender angerufen worden, erzählt sie. Es ging um einen Auftritt in einer Talkshow. „Als der Redakteur mich fragte, ob ich ein Kopftuch trage und ich nein sagte, sagte er, sorry, aber dann könne er mich für die Runde nicht gebrauchen.“ Lamkharat zuckt mit den Schultern. „Wie soll man sich da Gehör verschaffen als liberale Muslima?“

„Raus! Raus! Raus!“, brüllt die Menge

In New York tritt Geert Wilders auf die Lastwagenbühne vorm Ground Zero. Er sieht vergnügt aus, lächelt, genießt den Moment, in dem die Kameras der Welt auf ihn gerichtet sind. „New York“, sagt er, „ist auf holländischer Toleranz gegründet“, doch diese Toleranz gehe jetzt zu weit. „Der Westen“, sagt er unter Jubel der Menge und, „hat niemals den Islam verletzt, bevor der Islam uns verletzt hat. Das muss aufhören!“

Wie furchtbar Recht der Aufwiegler mit diesem Satz hat, bekommt Wilders nicht mit. Kurz vor seinem Auftritt hat sich ein Moslem mit Strickkappe und Bart unter sein Publikum getraut. Er will, dass die Leute nicht über, sondern mit dem Islam reden. Rufe dringen durchs Gewühl. „Raus mit ihm! Raus mit ihm!“ Immer mehr stimmen ein. „U-S-A, U-S-A“, brüllen die Sprechchöre. Dann: „Raus! Raus! Raus!“ Irgendwann gibt der junge Mann auf. Unter Hasstiraden und Flüchen bahnt er sich seinen Weg hinaus in eine Seitenstraße. Die Hand, in der er eben noch den Koran trug, hat er jetzt zur Faust gereckt. Dass in Berlin ein Aktionsbündnis gegen Rechtspopulismus zur Wilders-Gegendemo aufgerufen hat, erscheint einem in solchen Momenten dann doch beruhigend.

 

In Wilders‘ Westen

Der Islamkritiker Geert Wilders wird Teil der niederländischen Regierung – ideell zumindest. Warum erklimmt ausgerechnet im liberalen Holland ein Populist solche Höhen?

Überall dieses seltsam hohe Wasser. Mehre Meter über der Erdoberfläche fließen die Kanäle durch die Landschaft, gehalten nur von schmalen Dämmen. Das Polderland, von frommen Christen entwässert und urbar gemacht, hat sich im Lauf der Jahrhunderte abgesenkt, der natürliche Puffer gegen das Meer ist dadurch verschwunden. Im Grunde, dämmert es einem auf der Reise zu dem Moslem, der seine Landsleute gegen die Springflut Geert Wilders mobilisieren will, sind die Niederlande eine große Leichtsinnigkeit.

Am 9. Juni wählten anderthalb Millionen Bürger des Königreiches einen Extremisten zum dritten Mann im Staate. Der zankige Jurist Wilders, der den Islam für eine politische Ideologie hält und den Koran mit Hitlers „Mein Kampf“ vergleicht, erhielt 24 der 150 Parlamentssitze in Den Haag. Nach fast dreieinhalb Monaten Koalitionsverhandlungen haben gestern Liberale (VVD, 31 Sitze) und Christdemokraten (CDA, 21 Sitze) entschieden, sich von Wilders’ „Freiheitspartei“ (PVV) tolerieren lassen. Wilders, das menschgewordene Ressentiment, wird zwar keine Minister in der neuen Regierung stellen, ihr aber dennoch, wenn man so möchte, ideell angehören. Ein Mann, der sagt „Es ist eine Schlacht im Gange, und wir müssen uns verteidigen“, wird umarmt vom bürgerlichen Lager – und er wird Gegenleistungen erwarten für seine Unterstützung der Minderheitsregierung.

Was ist los mit den Niederlanden? Wie kommt es, dass ausgerechnet in diesem fortschrittlichen, vermeintlich besonnenen und liberalen Land ein obsessiver Hitzkopf solche Höhen erklimmt?

„Etwas brennt in der Gesellschaft“

Henny Kreeft sitzt, ein Palästinensertuch um den Hals gewickelt, in der Kantine des Krankenhauses von Harderwijk, einem beschaulichen Hafenstädtchen vor den Toren Amsterdams. Vor einigen Jahren hat Kreeft die Moslims Partij Nederlands gegründet, um, wie er sagt, „eine  Gegenstimme gegen den Unsinn“ zu etablieren, die Wilders verbreite. Kreeft sucht eine Weile nach den richtigen Worten, um zu beschreiben, was gerade mit seiner Heimat geschieht. „Etwas brennt in der Gesellschaft. Nein, anders: Etwas schwelt unter der Oberfläche. Es geht nicht um den Islam. Es geht um den Zustand unserer Gesellschaft.“

Kreeft hat ein Gefühl dafür. Denn er war selbst Teil dieses Schwelens. Es erfasste die Niederlande schon lange vor Geert Wilders Erfolgen.

Anfang der 2000er Jahre trat der Muslim Henny Kreeft der Liste Pim Fortuyn (LPF) bei. Fortuyn, auch so ein schillernder Aufrüttler und Aufmischer des politischen Establishments, war auf dem besten Weg, einen unerwarteten Wahlerfolg einzufahren, als ihn im Mai 2002 ein militanter Tierschützer erschoss. Ob der Provokateur Fortuyn („Ich hasse den Islam nicht, aber ich finde, er ist eine zurückgebliebene Kultur“) sich als Regierungsmitglied lange hätte halten können, mag man bezweifeln. Bestreiten lässt sich bloß nicht, dass Fortuyn mit seiner Art, Probleme aggressiv zu benennen statt zu beschwichtigen, Millionen Niederländern aus der Seele sprach. Eben auch Henny Kreeft. „Fortuyn wollte ja die richtigen Dinge: Eine bessere Krankenversorgung, mehr Lehrer, mehr Sicherheit, mehr Polizei. Bei der LPF hatte ich im Übrigen überhaupt keine Probleme mit meiner muslimischen Identität. Jeder wusste und respektierte, wie ich dachte und lebte. Fortuyn wollte mehr Chancen für Muslime, er wollte sie integrieren statt ausgrenzen.“

Später trat Kreeft einer regionalen Splitterpartei der LPF bei. Doch als Geert Wilders die Bildfläche der niederländischen Politik betrat, sei auch diese Gruppe von einem regelrecht Islamhass erfasst worden. „Schließlich haben sie sich mich rausgeworfen.“

Der „faschistische“ Koran

Seither sieht es Kreeft als seine Bürgerpflicht, den immer schrilleren anti-islamischen Tiraden in den Niederlanden eine aufgeklärte muslimische Sicht entgegenzuhalten. „Wenn man einem Kind jeden Tag sagt, das Wasser ist blau, das Wasser ist blau“, sagt Kreeft mit leicht erschöpfter Miene, „dann glaubt das Kind das irgendwann, obwohl das Wasser in Wahrheit grün oder braun ist. Genau so redet Wilders mit den Holländern. Es ist schrecklich.“

Warum bloß hat der Polit-Guru aus Venlo einen solchen Erfolg damit? Über Holland breche ein „Tsunami der Islamisierung“ herein, behauptet er, der „faschistische“ Koran müsse verboten werden, ebenso neue Moscheebauten. Natürlich gibt es islamischen Extremismus in den Niederlanden, und natürlich hat der Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh, verübt 2004 von einem blindwütigen Dschihadisten, das Land tief geschockt. Aber steht dieser Exzess für eine „Islamisierung“ des Landes? Wo sind sie denn, die ganzen Migranten?, fragen Migrationsforscher und legen Berechnungen vor, deren zufolge in der Bilanz Tausende von Türken, Marokkaner und Surinamer das Land.

Sicher, in Rotterdam, Utrecht oder Amsterdam verursachen vor allem Jugendgangs aus marokkanischen und türkischen Migranten Probleme. Aber ist daran wirklich eine Religion schuld? Oder sind die großen Angstmacher Jugendkriminalität, Machokultur und Inländerhass nicht vielmehr Folge einer illusorischen, allzu gutgläubigen Einwanderungspolitik? „Das am wenigsten Interessante an unseren Islamisten ist der Islam“, befindet der Amsterdamer Soziologe Abram de Swaan. Wenn das stimmt, gilt dieser Schluss dann nicht auch für die neuen Populisten? Ist das am wenigsten Interessante an Geert Wilders womöglich seine Islamfeindlichkeit? Stecken hinter dem Aufstieg des zornigen Blondschopfs in Wahrheit ganz andere, komplexere niederländische Ängste?

In den Häuserfassaden entlang der Amsterdamer Grachten hat es noch überlebt, das stolze, das selbstgewisse „Goldene Zeitalter“ der Niederlande. Als perfekte Stadt, als architektonische Widerspiegelung der Ordnung Gottes haben seine kalvinistischen Schöpfer Amsterdam im 17. Jahrhundert angelegt, gebaut auf festen Säulen, wie die niederländische Gesellschaft selber. Jahrhunderte lang wusste jeder Holländer, ob orthodox, reformiert oder freiheitlich, wo sein Platz war, welche Kirche er besuchte, welche Zeitungen er las, aus welcher Quelle er seine Werte zog. Und heute?

Holland kann nicht mehr neutral bleiben

In einem der prachtvollen Patrizierhäuser an der Herengracht, in einem hohen Raum mit religiösem Deckenbild, sitzt Geert Mak und kommt aus den Erklärungsversuchen nicht heraus. Der Erfolgsschriftsteller („In Europa“, „Das Jahrhundert meines Vaters“) hat die Seele seines Landes ausgelotet wie vielleicht kein zweiter. Und wie sie verstört ist!, lautet sein Befund.

„Natürlich ist die Angst vor dem Islam nur ein Symbol für seine tiefere Beunruhigung“, sagt Mak. „Die Niederlande waren immer ein kleines Land, aber zugleich waren wir der Globalisierung auch immer besonders stark ausgesetzt. Deswegen war es den Holländern immer wichtig, sich in Sturmzeiten in ihre Häuser, in ihre Ordnung zurückziehen zu können. Es mag paradox sein, aber es gab schon immer dieses Schisma zwischen Weltoffenheit und Provinzialität. Am liebsten“, sagt Mak und lacht, „wären wir immer eine Insel gewesen, wie Großbritannien.“

In den vergangenen Jahrzehnten sind genau die Rückzugsmauern zusammengebrochen, welche die Niederländer stattdessen gegen die Unbilden der Welt errichtet hatten. Ein eigentlich gesamteuropäisches Phänomen, Entkonfessionalisierung, die Auflösung sozialer Bindungen, Werteunsicherheit, all das trifft, sagt Mak, die Holländer besonders hart. Sie verlieren so schnell so viel, und die entstehenden Kontraste stechen ihnen stärker ins Auge als anderen Europäern: „1958 gehörte weniger als ein Viertel der Niederländer keiner Religionsgemeinschaft an, 2020 werden es voraussichtlich drei Viertel sein. Nur 1,2 Prozent der Bevölkerung nimmt sonntags an katholischen Gottesdiensten teil – die Zahl der Moscheebesucher ist inzwischen höher.“ Die neutrale Haltung, welche die friedens- und ordnungsliebenden Niederländern in beiden Weltkriegen einnahmen, sie lässt sich gegenüber der Globalisierung und den Migrationsströmen nicht mehr erklären. Wilders zu wählen, glaubt Geert Mak, bedeute für 15 Prozent der Niederländer nunmehr gleichsam, der Bedrohung der „Entholländischung“ den Krieg zu erklären.

Wie gefährlich ist all das? Zehn bis fünfzehn Prozent Abgehängte und Radikale gibt es in fast jedem europäischen Land. Können die ernsthaft Demokratie und inneren Frieden gefährden?

Ach was, sagt Hennie Kreeft. Demonstrativ schaut er sich in der Krankenhauskantine um. „Sehen Sie irgendwo Bodyguards? Ich brauche keine. Ich schlafe gut.“ Lass Wilders machen, lass ihn machen!, sagt Kreeft mit einer wegwerfenden Handbewegung. Er glaubt sogar, es diene den Interessen der Muslime, wenn Wilders noch eine zeitlang tobe. „Denn der Mann wird von seinem Sockel fallen.“

„Wir fühlen uns zu sehr im Recht“

Der Schriftsteller Mak ist da skeptischer. Das Problem sei, sagt er, dass die Niederländer zu sehr an ihren „Unschuldsmythos“ glaubten. „Die Deutschen haben aus der Geschichte der 30er Jahre gelernt, dass man sich an Extremismus gewöhnen kann, wenn er nach und nach einsetzt. Diese Erkenntnis teilen bei uns die wenigsten. Wir fühlen uns zu gut, zu sehr im Recht.“

Im Jahr 2000, als Jörg Haider in Österreich an der Regierungsbildung beteiligt wurde, entrüsteten sich die Niederländer lauter als andere Europäer. „Kann man einen Pyromanen als Feuerwehrhauptmann akzeptieren, nur weil er versichert, er sei ein wahrer Brandbekämpfer?“, fragten damals Politiker eben jener CDA, die sich jetzt anschickt, mit Wilders zu paktieren.

„Die Heuchelei und Feigheit der niederländischen Christdemokraten und Liberalen kotzt mich an“, entfährt es dem sonst so bedächtigen Geert Mak. „Diskrimierung und Rassismus, denken sie, ist immer nur ein Problem der anderen. Aber nein! Wir können sehr rassistisch sein.“ Er zögert ein bisschen, bevor er weiterspricht. Mit Holland, sagt er dann, müsse Europa diplomatisch jetzt das machen, was auch Holland immer gemacht habe: Scharfe Entrüstung zeigen – und Wachsamkeit.. „Ich finde es schrecklich und erniedrigend, aber ich muss es jetzt zum ersten Mal sagen: Ich hoffe in den kommenden Monaten auf internationale Aufsicht, auf Druck von außen. Wir brauchen das jetzt.“

Um zu verhindern, meint Mak damit, dass in Holland Dämme brechen.

 

Brüssels doppelte Moral

Warum die EU-Kommission es sich mit ihrer Kritik an Frankreich zu leicht macht

Es ist Europa in seiner besten Form, könnte man meinen, was sich in Brüssel gerade abspielt. Endlich einmal traut sich eine EU-Kommissarin aus der Deckung und sagt ihre Meinung, benimmt sich nicht wie eine graue Beamtin, sondern wie eine Politikerin. Eine „Schande“, polterte die Justizkommissarin Viviane Reding, sei ein Runderlass der französischen Regierung, in dem es pauschal heiße, Roma seien aus dem Land auszuweisen. Sie hätte nicht erwartet, sagte die Luxemburgerin, dergleichen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal erleben zu müssen.

Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy sei infolge dieser „Beleidigung“ beim gestrigen EU-Gipfel im Brüsseler Ratsgebäude regelrecht an die Decke gefahren, berichten Diplomaten. Die Frage, was Sarkozy dem EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso während des  Mittagessens der 27 Staatschefs gesagt habe, beantwortet ein EU-Offizieller damit, dass er seine Arme wild um sich wirft und erregtes französisches Kauderwelsch zum Besten gibt. Noch auf dem Flur vor dem Sitzungssitz sei das Geschrei des Staatspräsidenten zu hören gewesen.

Natürlich ist es eine Schande, wenn eine Regierung, noch dazu, wenn sie bei jeder Gelegenheit behauptet, ihr Land sei die Heimat der Menschenrechte, nicht einzelne Menschen für Kriminalität verantwortlich macht, sondern eine ganze Gruppe. Insofern ist Redings Vergleich mit dem Rassismus der Nationalsozialisten nicht einmal abwegig (er ist freilich insofern, als Ausweisungen nach Rumänien keine Deportationen in Todeslager sind). Dennoch, was sich in Brüssel gerade zeigt, ist keineswegs ein Ausweis eines irgendwie neuen politischen Verantwortungsbewusstseins der Kommission. Die Wahrheit ist profaner. EU-Kommissare, zeigt der Fall Reding-Sarkozy, sind mitnichten frei von jenem Populismus, den sie manchen Staatschefs vorwerfen.

Seit 2006 verschleppt Frankreich die Umsetzung einer EU-Richtlinie, die individuelle Anhörungen garantiert, bevor EU-Bürger aus anderen EU-Staaten ausgewiesen werden. Auf dieses Versäumnis hätte die EU-Kommission schon längst mit einem Vertragsverletzungsverfahren reagieren müssen, nicht erst seit gestern. Was den Roma geschieht, ist ohne Zweifel unmoralisch. Ein Verstoß gegen geltendes Recht sind die Massenabschiebungen hingegen nicht zwangsläufig. Mitarbeiter der EU-Kommission geben zu, dass ihnen kein konkreter Beweis für einen Rechtsbruch Frankreichs vorliegt. Daran trägt Brüssel eine Mitschuld, denn es hat seine Aufsichtspflicht schleifen lassen.

Frau Reding täte gut daran, sich nun wieder klarer zu machen, dass sie nicht die Moral- sondern die Justizkommissarin ist. Ihre Aufgabe ist es, unabhängig von politischen Stimmungswellen die Einhaltung europäischer Gesetze und Rechtsstandards zu überwachen. 

Das gilt im Fall der Roma nicht nur für Frankreich, sondern in noch viel stärkerem Maße für Staaten wie Rumänien, Ungarn, Bulgarien oder die Tschechische Republik. Aus all diesen Ländern berichten Menschenrechtsorganisationen immer wieder schwere Fälle von Diskriminierung und Bildungshindernisse gegen Roma. So werden dort zum Beispiel Kinder von Roma immer noch automatisch in Sonderschulen für Lernbehinderte gesteckt, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Segregation schon 2007 für rechtswidrig befunden hat.

In Tschechien und Ungarn habe es zuletzt 2008 Fälle von Zwangssterilisierungen von Roma-Frauen gegeben, dokumentiert das Europäische Zentrum für die Rechte der Roma in Budapest. Laut Angaben derselben Organisation nehmen es die Regierungen der südosteuropäischen Staaten auch nicht so genau mit der Strafverfolgung, wenn Roma-Camps mit Molotowcocktails angegriffen werden.

 All das, könnte man meinen, ist eine ziemliche Schande für Europa. Doch EU-Kommissare sind eben auch nur Politiker. Frau Reding jedenfalls fällt es offenbar leichter, Rassismus zu verurteilen als systematisch gegen dessen Ursachen anzugehen. Wenn sie und die EU-Kommission glaubwürdig bleiben möchten, muss sie das eine tun ohne das andere zu unterlassen.

 

„Ich muss damit leben“

Ein Interview mit EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström über Vorratsdatenspeicherung, Internetsperren und Bürgerrechte in Europa 

Ihr Büro im achten Stock entpuppt sich als eines der geschmackvolleren in der gewaltigen Schwinge des Brüsseler Kommissionsgebäudes. Leichte skandinavische Sitzmöbel in lebendige Farben geben dem gedehnten Raum eine locker-wohnliche Stimmung, es riecht noch ein wenig nach Kiefernholz. Danke, erwidert Innenkommissarin Cecilia Malmström das Kompliment, sie versuche ihr Bestes. Sie weist mit der Hand auf das Sofa und  entschuldigt sich sogleich für den schon leicht angegrauten Bezug. Ein neues Sofa, betont sie, dürfe sie leider erst nach zehn Jahren bestellen. „Bei Sparideen ist die Kommission ganz groß.“

ZEIT: Frau Malmström, in Deutschland haben 35.000 Bürger gegen die Umsetzung der EU-Vorratsdatenspeicherung geklagt, und zwar mit Erfolg. Die Regierungen von Schweden, Österreich, Irland, Belgien, Luxemburg, Griechenland und Rumänien weigern sich aus juristischen oder politischen Gründen, Telekommunikatsdaten aufzeichnen zu lassen, Irland bringt die Sache jetzt vor den Europäischen Gerichtshof. Könnte eine EU-Kommissarin eine Richtlinie nicht auch einmal zurücknehmen?

Malmström: Zunächst einmal saß ich noch im Europäischen Parlament, als die Richtlinie erlassen wurde, und die Mitgliedsstaaten haben sie angenommen. Man kann sie nicht einfach zurücknehmen. Aber vor dem Hintergrund dessen, was Sie sagen, überprüfen wir die Vorratsdatenspeicherung. Ich werde die Ergebnisse nutzen, um möglicher Weise neue Vorschläge zu machen. Die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung wurde nach dem 11. September 2001 ziemlich hastig erlassen…

ZEIT: … innerhalb von nur drei Monaten, eine Rekordzeit für ein EU-Gesetz…

Malmström: …und ich glaube, dass das zu hastig war.

ZEIT: Sie selbst haben im Europäischen Parlament gegen die Richtlinie gestimmt.

Malmström: Richtig. Weil sie schlecht vorbereitet war und sowohl ihre Zweckbestimmung wie ihr Ausmaß unklar waren. Es ist nicht mein Gesetz.

ZEIT: Warum, noch mal, machen Sie als verantwortliche Kommissarin dann nicht den Vorschlag, dieses Gesetz zurückzuziehen?

Malmström: Theoretisch könnte ich das tun. Aber ich glaube, das würde ziemlich irritierte Reaktionen bei den Mitgliedsstaaten hervorrufen. Ich weiß, dass die Debatte in Deutschland recht erhitzt geführt wird. Aber es gibt noch 26 andere EU-Staaten. Die meisten von ihnen wollen die Vorratsdatenspeicherung.

ZEIT: Was wollen Sie?

Malmström: Ich will mir Möglichkeiten angucken, sie zu überarbeiten.

ZEIT: Was heißt das genau?

Malmström: Die Untersuchung der Arbeitsgruppe läuft noch. Wir schauen uns gründlich an, welche Datenmengen erhoben werden, wer Zugriff auf sie hat, wie sie genutzt werden, wie lange sie gespeichert werden. Es wäre voreilig von mir, jetzt schon etwas zu den Ergebnissen zu sagen. Ich kenne natürlich die Kritik. Aber man muss auch wissen, dass die Mitgliedsstaaten sagen, dass sie die Vorratsdatenspeicherung sehr nützlich finden. Die Polizei setzt sie mit Erfolg ein, um schwere und organisierte Kriminalität zu bekämpfen.

ZEIT: Ein Mitglied dieser Arbeitsgruppe, der deutsche Abgeordnete Alexander Alvaro, sagt, in der polizeilichen Praxis schaffe die Vorratsdatenspeicherung mehr Probleme, als irgendwer vorausgesehen hab.

Malmström: Das stimmt. All das werden wir uns genau angucken.

ZEIT: In seinem Urteil schreibt das Bundesverfassungsgericht, die Speicherung von derartigen Datenmengen stelle einen „besonderes schweren Eingriff“ in die Privatsphäre der Bürger dar und erzeuge das „diffuse Gefühl unter Beobachtung zu stehen.“ Diese Angst könne die Freiheit erodieren. Sehen Sie das auch so?

Malmström: Ja. Das fühlen wir doch ständig. Es gibt Kameras in U-Bahnen, in Taxis, auf Straßen und Plätzen. Aber die Bürger wollen eben auch Sicherheit. Die Entwicklung, dass unsere Daten in immer mehr Sammlungen gespeichert werden, hat sich in den vergangenen Jahren beschleunigt.

ZEIT: Welche Schlüsse ziehen Sie als Liberale und EU-Innenkommissarin aus dieser Entwicklung?

Malmström: Es ist eine große Verantwortung, Sicherheit und Freiheit auszubalancieren. Natürlich achte ich als Liberale die Grundrechte besonders hoch, und meine Überzeugung wird in diesem Job auf eine harte Probe gestellt. Aber, wissen Sie, es gehört eben auch zu den Grundrechten, nicht in Stücke gebombt zu werden. Ein Freund von mir ist bei den Bombenanschlägen 2004 im Attocha-Bahnhof in Madrid ums Leben gekommen. Wir müssen die richtige Abwägung finden. Verbrechen verschwindet nicht von allein.

ZEIT: Konkret, wenn Sie Justizministerin in Schweden wären, wie würden Sie mit der Vorratsdatenspeicherung umgehen?

Malmström: Als überzeugte Europäerin würde ich sie umsetzen. Aber ich würde auch versuchen, auf ihre Überarbeitung Einfluss zu nehmen.

ZEIT: Die Innen- und Justizpolitik der EU hat mit dem Lissabon-Vertrag einen gewaltigen Sprung gemacht. Es ist künftig möglich, Sicherheitsgesetze auch gegen den erklärten Willen einzelner Mitgliedsstaaten zu erlassen. Ist dieses Vorgehen angesichts der Erfahrungen mit der Vorratsdatenspeicherung nicht bedenklich?

Malmström: Aber die Menschen wollen doch, dass die EU in diesen Bereichen mehr tut!

ZEIT: Ja, aber wenn die EU etwas tut, protestieren sie. Das war beim biometrischen Pass so und auch beim Swift-Abkommen, das das Europäische Parlament nur mit Mühe stoppen konnte.

Malmström: Die Entscheidungen der EU werden von nationalen Ministern und dem Europaparlament gefällt. Ja, einzelne Länder können überstimmt werden. Aber das ist eben jetzt die Art, wie wir Entscheidungen treffen – alle Mitgliedsländer haben dem Lissabon-Vertrag zugestimmt. Das ist doch keine undemokratische Entwicklung! Als die Vorratsdatenspeicherung in Brüssel verabschiedet wurde, hat sie überhaupt keine so große Kontroverse ausgelöst wie heute.

ZEIT: Vielleicht deshalb nicht, weil sie in den nationalen Öffentlichkeiten nicht angemessen diskutiert worden ist?

Malmström: Wissen Sie, sie ist nicht meine Lieblingsrichtlinie. Aber ich muss mit ihr leben.

ZEIT: Internetaktivsten haben Ihnen den Spitznamen „Censilia“ verpasst. Sie glauben, dass Sie eben jene „Zensur“ einführen wollen, von der die Bundesregierung Abstand genommen hat: Internetsperren.

Malmström: Dieser Spitzname verletzt mich sehr. Ich habe nicht die geringste Absicht, zu zensieren oder Internetsperren einzurichten. Worum es geht, ist das zu tun, was heute schon zehn EU-Staaten tun: Den Zugang zu kinderpornografischen Seiten zu sperren. Es ist so grausam, was Sie dort zu sehen bekommen. Kinder, Säuglinge, die Opfer werden immer jünger, das Vorgehen immer brutaler. Wichtiger und effektiver als Sperrungen wäre es, diese Seiten an der Quelle abzuschalten. Aber viele dieser Seiten haben ihren Ursprung nun einmal außerhalb der EU. Deswegen sollten wir EU-weit das tun können, was bereits in den Niederlanden, in Italien, in Großbritannien, in Schweden, Finnland, Dänemark und demnächst auch in Frankreich getan wird, nämlich auch den Zugang zu sperren.

ZEIT: Im Entwurf Ihrer Richtlinie heißt es, in einigen Staaten sei die Gesetzgebung gegen Kinderpornografie „nicht entschlossen und konsistent genug“. Welche Länder meinen Sie?

Malmström: Es handelt sich um Organisierte Kriminalität. Sie ist grenzübergreifend und es geht um eine Menge Geld, es ist also ein eurocrime, wenn Sie so wollen. Deswegen müssen wir die Strafrahmen anpassen. In Belgien sind sie, aus verständlichen Gründen, schon sehr hoch.

ZEIT: Gehört Deutschland zu den Ländern, die die Höchststrafe für
Kinderpornografie noch anheben sollten?

Malmström: Ja. So ist es.

ZEIT: Welche anderen eurocrimes sehen Sie, bei denen ebenfalls die Strafandrohungen EU-weit harmonisiert werden sollten?

Malmström: Bei Menschenhandel, beispielsweise, beim Drogenschmuggel, bei Geldwäsche und Waffenschieberei – in all diesen Bereichen brauchen wir eine stärkere Angleichung. Ansonsten ermöglichen wir den Kriminellen so etwas wie Straf-Shopping, das heißt sie könnten sich aussuchen, wo sie am besten operieren. Es geschehen schreckliche Dinge in Europa im Bereich der Organisisierten Kriminalität. Die Verbrecher überspringen Grenzen. Wenn wir das nicht auch tun, wie sollen wir sie jemals stoppen?

ZEIT: Trauen Sie eigentlich dem Europäischen Parlament als Kontrollinstanz für Bürgerrechte?

Malmström: Bei der Neuverhandlung des Swift-Abkommens (zur Übertragung von Überweisungsdaten an die USA, Anm. d. Red.) hat es sich sehr verantwortlich verhalten. Die Parlamentarier haben gezeigt, dass sie Verantwortung übernehmen können. Sie wollen als gleichberechtigte Partner im Gesetzgebungsprozess respektiert werden.

ZEIT: Die EU-Innenkommissarin bekommt also angemessene Opposition zu spüren?

Malmström: Darüber denke ich nicht nach. Der Schutz der Grundrechte und der Meinungsfreiheit sind der Grund, warum ich in die Politik gegangen bin. Ich habe mein ganzes Leben dafür gekämpft, ich wurde aus Kuba rausgeworfen, weil ich Oppositionelle getroffen habe, aber ich versuche eben auch, Verbrechen zu bekämpfen! Ich meine, es ist nicht so, dass ich das Europäische Parlament bräuchte, um mich an Grundrechte zu erinnern…

ZEIT: Sie brauchen das Europäische Parlament nicht?

Malmström: …sondern ich brauche es, um mir dabei zu helfen, Verbrechen zu bekämpfen.

ZEIT: Die deutsche Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger…

Malmström: Sabine, ja!

ZEIT: … ist ebenfalls eine Liberale, aber sie versucht genau das Gegenteil von Ihrem Job, nämlich härtere Sicherheitsgesetze zu verhindern. Wie verstehen Sie beide sich?

Malmström: Na ja, wir stimmen nicht immer überein, aber wir verstehen uns gut, als Teil derselben liberalen Familie. Im Übrigen bin ich nicht hier, um immer nur neue Sicherheitsgesetze vorzuschlagen. Ich liege nicht nachts wach deswegen. Ich arbeite zum Beispiel auch an Opferschutz-Gesetzgebung und an einem besseren europäischen Asylsystem.

ZEIT: Auch was das betrifft, bekommen Sie Kritik aus Deutschland zu hören. Bis 2012 wollen Sie ein einheitliches europäisches Asylsystem auf die Beine stellen. Aus den Reihen der CDU heißt es, sie wollten die strengen deutschen Asylgesetze aufweichen.

Malmström: Zunächst mal haben alle 27 EU-Staaten beschlossen, dass die EU eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik bekommen soll. Diese Vorgabe setzen wir jetzt um, und das bedeutet konkret harmonisierten Schutz, mehr oder weniger harmonisierte Verfahren und vergleichbare menschliche Behandlung. Die Gerüchte aus der Bild-Zeitung, wonach es in Deutschland keine Flughafen-Verfahren mehr geben soll, stimmen nicht. Auch dass Asylsuchende automatischen Zugang zu den Sozialsystemen erhalten sollen – es gibt keinen solchen Vorschlag. Was wir vorschlagen ist, dass Asylverfahren möglichst innerhalb von sechs Monaten abgeschlossen sein sollen. Es gibt den Länder, in denen Flüchtlinge jahrelang warten müssen, bis sie erfahren, ob bleiben können oder gehen müssen.

ZEIT: Warum muss Brüssel die Mitgliedstaaten daran erinnern, dass es sowohl in ihrem wie auch im Interesse der Betroffenen liegt, möglichst schnell über Asylverfahren zu entscheiden?

Malmström: Ich glaube nicht, dass sie daran erinnert werden müssen, und ich glaube auch nicht, dass das deutsche System ein Problem ist. Sorgen machen vielmehr einige Länder in Südeuropa. Dort stehen die Aufnahmeeinrichtungen vor dem Kollaps.

ZEIT: Sie sprechen von Griechenland.

Malmström: Griechenland hat enorme Schwierigkeiten. Es ist wegen seiner Randlage aber auch überbelastet. Andere Länder übernehmen überhaupt keine Verantwortung. Wir brauchen ein System, das die Lasten fair verteilt.

ZEIT: Heißt das, Deutschland soll mehr Asylsuchende aufnehmen?

Malmström: Die EU kann keinem Staat vorschreiben, wie viele Menschen er aufnehmen soll. Deutschland hat die Kontrolle über seine Grenzen. An einer gerechten Verteilung kann jeder Staat nur freiwillig teilnehmen. Wir können keinen zwingen, mehr Menschen aufzunehmen.

Die Fragen stellte Jochen Bittner

Foto: Susana Vera/Reuters

 

Wir sind so deutsch

Das Krisenjahr 2010 hat die Europa-Politik härter und ehrlicher gemacht

Es ist eines dieser blauen Büros. Die Tür ist blau. Die Aktenordner sind blau. Das Indigo des Teppichs erscheint zwar schon ein bisschen gebleicht. Aber umso frischer strahlt dafür das Hemd des Bürobewohners, türkis, unterstrichen von einer Krawatte, azur. Der Mann, der sie trägt, ist einer von jenen Brüsselanern, dessen Nachnamen-Kombination keine eindeutigen Rückschlüsse auf seine Herkunft zulässt. Eben so wenig wie seine Sprache; er beherrscht drei wie seine eigene. Ganz gewiss hat dieser Mann nichts dagegen wenn wir ihn, um die Dinge abzukürzen, einfach „die Europäische Kommission“ nennen.

„Wir sind keine Aliens“, stellt die Europäische Kommission nach ein paar einleitenden Sätzen klar. „Wir wurden geschaffen, um den Interessen der EU-Mitgliedsstaaten zu dienen.“ Deswegen sei es ganz und gar nicht schlimm, wenn Angela Merkel eine neue Europapolitik betreibe. Wenn sie sich zum Beispiel zweimal überlege, unter welchen Bedingungen sie einem 750-Milliarden-Paket zur Stützung des Euros zustimme. Oder wenn sie in Brüssel auftrete wie eine gestrenge Gouvernante, die von anderen Staatschefs Hausaufgaben einfordert, weil sie Schluss machen will mit Schlendrian und Mauschelei. „Ich kann Merkels Position im vergangenen Krisenhalbjahr absolut nachvollziehen“, sagt die Europäische Kommission.

Tatsächlich? Aber Merkel, ja Deutschland insgesamt, scheint die Liebe zu Europa zu verlieren.

„Wir brauchen keine Liebe“, antwortet die Europäische Kommission.

Wirklich nicht?

„Nein. Aber was wir brauchen, ist das Bewusstsein, dass das europäische Interesse auf lange Sicht das Interesse aller Mitgliedsstaaten ist. Auch das Deutschlands.“ Die europäische Kommission macht eine nachdenkliche Miene. Dann geht sie zum Wandschrank und zieht einen Bogen mit Umfragewerten heraus. „Es herrscht ein unglaubliches Maß von Euroskepsis in vielen Ländern. Wir müssen besser erklären, warum die EU den Bürgern nutzt.“ Allen voran Angela Merkel, soll das heißen, muss das tun, wenn sie Schaden verhüten wolle.

Brüssel im Sommer 2010. Ein Halbjahr liegt hinter der EU-Hauptstadt, dessen Folgewirkungen auf das Wir-Gefühl des Kontinents noch nicht abzusehen sind – nur eine ist es schon: Europa fühlt sich deutlich kühler an zu diesem Saisonende. Deutschland, bisher der verlässlichste Motor der Integration, hat mit Stottern und Rumpeln überrascht. Nicht nur stellten die Germanen nur plötzlich harte Bedingungen für ihre Solidarität mit den Schwachen der Union. Angela Merkel erweckt bei vielen Brüsseler Beobachtern auch den Anschein, die Völkerunion eher widerwillig zu managen statt sie mit Herzblut voranzutreiben.

„Sankt Helmut konnte ja auch hart sein“, sagt Giles Merritt, der Präsident des Brüsseler Elite-Zirkels Friends of Europe, unter Anspielung auf die integrationsgläubige Generation Kohl. „Aber die traditionelle Überzeugung lautete doch, dass Deutschland von Europa profitiert, dass der Binnenmarkt integral ist für seinen wirtschaftlichen Erfolg.“ Was ist los mit Euch?, fragt Merritt, habt ihr das vergessen? Hat sich die politische DNA Deutschlands so verändert?

„Zu einer Solidargemeinschaft gehört nach unserer Ansicht, dass die Mitglieder ihre Pflichten erfüllen. Wir müssen alle besser werden. Aber einige müssen mehr besser werden als andere“, beschreibt ein ranghohes Regierungsmitglied die Gegenleistung, welche die Bundesregierung für ihren Beitrag zur Euro-Rettung erwartet. 23 Milliarden Euro stellte Berlin als Kredite für Griechenland bereit, noch einmal 120 Milliarden flossen in die (bisher nicht gebrauchte) 750-Milliarden-Stützungsreserve für den gesamten Euro-Raum.

Aber hätte ein Helmut Kohl heute wirklich anders gehandelt als eine Angela Merkel? Hätte nicht auch er gefordert, die Euro-Zone regelfester zu machen und mehr Klartext zu reden? Der ehemalige Diplomat Wilhelm Schönfelder hat die deutsche Europapolitik seit den siebziger Jahren mitgestaltet, als Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt und später, bis 2007, als EU-Botschafter in Brüssel. Einen grundlegenden Wandel, rekapituliert er, habe die deutsche EU-Politik schon nach 1989 vollzogen. „Ausdrückliche Nachfragen darüber, ob diese oder jene europäische Initiative eigentlich im deutschen Interesse liege, gab es nach dem Fall der Mauer immer häufiger“, erinnert sich Schönfelder. Das sei doch auch ganz logisch.

Schönfelder nimmt ein Blatt Papier und zeichnet zwei Achsen darauf. „Das hier“, sagt er und zeigt auf die horizontale, „ist die Summe der Mitgliedsländer. Erst 6, dann 12, jetzt 27. Und das hier“, er zeigt auf die vertikale, „ist der Grad der Komplexität von Brüsseler Entscheidungen.“ Schönfelder zeichnet langsam eine Verlaufskurve in das Koordinatensystem ein. Sie zieht sich steil, fast senkrecht nach oben. „Das heißt, die Möglichkeit, dass ein Mitgliedstaat Probleme hat und ,nein’ sagt, ist dramatisch gestiegen.“ Mal kann es Polen sein, das seinen Streit mit Russland über Fleischexporte in die EU hinein zieht. Mal Frankreich, das seine eigene Mittelmeerunion gründen will. In einer doppelt so großen EU, kurzum, fühlen sich alle auch ungefähr doppelt so berechtigt, auf ihre Interessen zu pochen.

Am kräftigsten von allen Kanzlern fuhr Gerhard Schröder die Ellenbogen gegen Europa aus. 1999 bremste er Brüssel bei dem Versuch aus, Autohersteller zur Rücknahme von Schrottfahrzeugen zu verpflichten – VW & Co. hätte diese Richtlinie Milliarden gekosten. Und aus Angst vor polnischen Klempnern und bulgarischen Krankenschwestern, die in den deutschen Sozialstaat einwandern könnten, bestand Schröder nach der Osterweiterung der EU 2004 und 2007 auf ausgedehnten Übergangsfristen für die Freizügigkeit der Neuropäer.

Auch Merkel hat heute ein Erfolgsmodell verteidigen, wenn sie das Brüsseler Ratsgebäude betritt. Die Bundesrepublik, so sieht sie es, hat sich mit der Agenda 2010 einer Sozialreform unterzogen, die andere EU-Länder scheuten. Das Berliner Grundgefühl gegenüber der Wohngemeinschaft Europa lautet, kurzum, nicht mehr Scham. Eher schon Stolz, gemischt mit Trotz.

Als vor wenigen Wochen eine Gruppe ausländischer EU-Korrespondenten Berlin besuchte, erklärte ihnen Bundesinnenminister Thomas de Maizìere, das neue deutsche Selbstbewusstsein sei kein Grund zur Beunruhigung. „Für Europa ist die Stärke, mit der Deutschlands Interessen verteidigt werden, vielleicht neu“, sagte er. Aber würde, fragte er die Journalisten, eine solche Linie nicht als natürlich betrachtet werden, wenn sie Frankreich, Italien oder Großbritannien verträten?

Viele Europäer im Brüsseler Institutionen-Kosmos sehen das genau so. „Merkel steht nicht allein“, sagt Janis Emanouilidis. Der Deutsch-Grieche arbeitet am Brüsseler European Policy Centre und kennt die Einschätzungen aus beiden europäischen Hemisphären, Nord wie Süd. „Österreicher, Niederländer und Skandinavier finden ja auch, dass manches schief läuft am Mittelmeer. Aber sie lehnen sich nicht so aus dem Fenster. Weil Merkel es für sie tut.“

Die EU hatte sich, anders gesagt, eingerichtet in unausgesprochenen Differenzen. Es war höchste Zeit, so denken viele in Brüssel, dass es damit ein Ende hatte. Auch deswegen nimmt Pierre Moscovici, der Vize-Vorsitzende des Europaausschusses im französischen Parlament, die Deutschen in Schutz: „Politik kann doch nicht von Schuld, schlechtem Gewissen oder Großzügigkeit bestimmt sein, es muss um das Beste für das Land gehen.“ Verfolgten schließlich nicht auch Nicolas Sarkozy, Silvio Berlusconi oder José Zapatero eigennützige Motive?

Und doch. In blauen Büros bleibt eine zähe Sorge zurück nach diesem Halbjahr. Was, lautet sie, kommt nach der neuen deutschen Nüchternheit? Man muss es ja nicht Liebe nennen, was die EU zum Leben braucht, sagt die europäische Kommission. „Aber natürlich funktioniert Europa nur, wenn es mit einem gewissen Herzblut verfolgt wird.“ Wird dieses Herzblut jetzt sogar in Deutschland stockig, wird es manchem bange, wie es weitergeht.

Denn dass die Emotion völlig versiegt als Treibstoff für Europa, das gab es noch nie. Mit einiger Nervosität schauen Europas Mandarine deshalb auf die zweite Hälfte dieses Jahres. In ihr beginnen die Verhandlungen über den kommenden EU-Haushalt. Dass Deutschland, wie bisher, geneigt sein wird, der größte Nettozahler der Union zu bleiben, das bezweifeln nach diesem Frühjahr immer mehr von Brüssels Blauhemden.

 

Die blaue Gefahr

Vorsicht, Parlamente: In Brüssel droht ein Machtklau!

Was bedeuten die Beschlüsse des gestrigen EU-Ratsgipfels eigentlich jenseits der Finanzpolitik? Was bedeuten sie für die Demokratie in Europa?

Wirtschaftsregierung, Aufsicht, Prüfkompetenz – man kann es nennen, wie man will: Was die europäischen Staatschefs beschlossen haben, bedeutet, dass die EU als Folge der Euro-Krise mehr Mitspracherecht über die nationalen Haushalte erhalten wird.

Sie soll künftig die Haushaltepläne prüfen, bevor sie den nationalen Parlamenten vorgelegt werden.

Sie soll die Schuldenstände der Nationen strenger kontrollieren als bisher.

Sie soll darüber wachen, dass keine zu starken Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit der Staaten entstehen.

Sie soll, kurzum, den nationalen Regierungen die Hölle heiß machen, damit sie für Harmonie sorgen.

Das ist notwendig.

In einer Währungsunion kann es schlicht nicht sein, dass die Arbeitnehmer in Griechenland mit 55 Jahren in Rente gehen, in Frankreich mit 62 und in Deutschland mit 67. Eine Solidaritätsgemeinschaft lebt von gegenseitigem Respekt. Dieser Respekt, das lehrt die Vergangenheit, hat sich von allein nicht eingestellt. Im Gegenteil, manch ein Mitgliedsstaat pflegte ein recht schamloses Ungleichgewicht.

Andererseits: Die Möglichkeit der EU, in die Wirtschafts- und Sozialpolitik ihrer Mitgliedstaaten hineinzuregieren, berührt ureigene demokratische Gestaltungsfreiheiten. Ein leicht überspitztes Beispiel: Wen beschimpfen die Gewerkschaften eigentlich, wenn demnächst nicht Berlin, sondern Brüssel eine Kürzung von Kindergeld und Hartz-IV-Sätzen fordert?

Was infolge der gestrigen Gipfelbeschlüsse droht, ist eine weitere  Technokratisierung der Politik. Nicht mehr gewählte Volksvertreter, sondern ungewählte EU-Beamte und fremde Staatschefs werden die Grundlinien von Finanzpolitik (mit)gestalten können. Diese, nennen wir sie „Computerisierung“ der Haushaltspolitik, wird die ohnehin bröckelnde Sympathie für Europa weiter verringern, weil sie nicht nur die Bürger, sondern auch nationale Politiker und Parlamentarier weiter von den Entscheidungsinstanzen entkoppelt.

Das ist gefährlich.

Die EU ähnelt heute einem Organismus, in dem die Nervenbahnen zwischen Kopf und Gliedern noch nicht zusammengewachsen sind. Wenn sie das nicht bald tun, droht er gegen die Wand zu laufen.

Wie können diese Nervenbahnen entstehen, und wie müssen sie aussehen? Nun, sie müssen vor allem von unten nach oben verlegt werden. Das Nervenzentrum Brüssel ist ausentwickelt und funktioniert: Die Kommission wird vom Europäischen Parlament kontrolliert.

Was hingegen nicht funktioniert, sind die Nervenbahnen zwischen den nationalen Parlamenten und der Versammlung ihrer Regierungschefs.  – Sobald die Regierungen im Brüsseler Ratsgebäude zusammentreten, sind sie von parlamentarischer Kontrolle abgeschirmt wie unter einem Faradayischen Käfig. Das kann nicht so weitergehen. Die mangelnde Wahrnehmung der „Integrationsverantwortung“ des Bundestages hat zwar auch schon das Bundesverfassungsgericht kritisiert. Doch seine Kritik greift zu kurz. Sie ist zu national gedacht.

Wenn Europa jetzt, in einem entscheidenden Moment, nicht bedrohlich undemokratisch werden will, müssen sich die nationalen Parlamente als Gruppe zu einem echten Gegengewicht zum Rat entwickeln. Bundestag, Assemblée Nationale und Cortes müssen ankommen in der vernetzten Welt, in der ihre Regierungschefs schon lange leben. Sie müssen sich, wenn man so will, facebookisieren.

Das ist schwierig, das ist aufwendig, das verlangt eine neue Denke, aber es ist nur schwer vorstellbar, wie sich die Demokratie auf andere Weise ins Supranationale retten lassen sollte.