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„Eine glückliche Fügung“

So beschreibt der neue Außenminister sein erstes Brüsseler EU-Treffen. Eine tapfere Haltung

Guido Westerwelle steigt am Brüsseler Ratsgebäude aus der schwarzen Staatslimousine, stellt sich vor die Kameras und sagt, es sei „eine glückliche Fügung“, dass er gleich an seinem ersten Tag als Außenminister so viele seiner europäischen Kollegen treffen könne. Wenn bloß sein Gesichtsausdruck zu diesem Glück passen würde. Westerwelles Physiognomie besiegt seine Psychologie an diesem ersten Amtstag. Alles andere wäre allerdings auch merkwürdig.

Als gerade erst ernannter Außenminister ein EU-Gipfeltreffen absolvieren zu müssen, dürfte in Wahrheit ungefähr eine so glückliche Fügung für Westerwelle sein wie  für einen Nichtschwimmer der Sturz in ein Wettkampfbecken.

Natürlich hat ihn sein Stab noch gebrieft auf dem Weg nach Brüssel, über die Kollegen, die er treffen wird, und über die Themen, die auf ihn warten. Aber Europa, dieses Gehege aus 27 Regierungen, Temperamenten, Positionen und Politiken, erschließt sich nicht aus Unterlagen. Das weiß Westerwelle. Und er weiß auch, dass die Brüsseler Journalisten das wissen. Deswegen versucht er gar nicht erst, Ahnung zu markieren. Statt dessen gibt er den demütigen Newcomer.

Er lässt die Kanzlerin reden vor der Presse. Er nickt beflissen, wenn sie über Institutionelles redet, über Klimaschutz oder über Europas künftige politische Spitzenposten. Er fügt Plattitüden hinzu. Es sagt in ihnen nichts Falsches, aber auch nichts Eigenes. Er stellt zum Beispiel – etwas zu länglich – fest, dass es bei der Afghanistan-Politik nicht mehr nur um Afghanistan geht, sondern auch um Pakistan, „denn es ist natürlich zusammenhängend, was wir da zu besprechen haben.“

Er sitzt vor einer blauen Europa-Wand, mit einem zusammengerissenem Gesicht, das nichts von seinem inneren Spagat verraten soll. Er ist einer, der horchen muss. Und gleichzeitig schon antworten soll. Auf der Abschlusspressekonferenz stellen drei ausländische Kollegen Fragen auf Englisch, sie möchten etwas über die Beitrittsverhandlung mit Albanien wissen. Westerwelle greift zaghaft nach dem Kopfhörer mit der Dolmetscherstimme. Dann scheint er zu merken, dass er die Frage auch so versteht, legt den Ohrclip wieder zurück. Man spürt, dass er zwischen zwei Entscheidungen schwankt: Der Wichtigkeit, jedes Wort zu verstehen. Und Fotos von einem Guido mit Knopf im Ohr. Von einem Außenminister, würden diese Bilder sagen, der mit dem Englischen kämpft. Die Kanzlerin rettet ihn. Sie sagt, Albanien habe nicht auf der Tagesordnung gestanden.

„Mit großer Freundlichkeit und großen Interesse“, betont Westerwelle mehrfach, sei er von Kollegen empfangen worden.  Wenn es bloß freudiger klingen würde. Aber es klingt wie eine auswendig gelernte Floskel, wie ein Versatzstück aus dem Außenminister-Vokabular, das er sich für die ersten Tage zurecht gelegt hat.

Wie er sich nach dem zweiten Tag im Amt fühle, möchte ein Kollege zum Schluss wissen. „Man ist erschöpft“, sagt Westerwelle, „aber man ist auch zufrieden mit den Ergebnissen.“ Der erste Teil klingt ehrlich. Der zweite wieder wie aus dem Vokabelheft für junge Außenminister. Noch, sicher, ist nicht die Zeit für viel Eigenes. Noch ist Zeit für möglichst wenig Falsches. Doch schon beim nächsten EU-Gipfel wird der Anfänger-Bonus nicht mehr gelten.

Dann werden sich die Journalisten nicht mehr für sein Englisch, seine Krawatten und seinen Gesichtsausdruck interessieren. Sondern tatsächlich für seine Meinung.

 

Alle mal herhören

Das Sommerloch besitzt in Brüssel eine besondere Qualität. Die Stadt, weil weitgehend entleert von ihren Beamten-Belagerern, wird zur Echokammer. Statt des gewohnten Akustik-Breis aus Tausenden brabbelnder Europäer werden plötzlich, vor allem in Bars und Restaurants, einzelne Sprachen identifizierbar.

Schön ist das nicht, denn nicht alle Kontinent-Genossen benehmen sich so ohrenfreundlich wie wir Deutschen. Da es in diesem Jahr den ZEIT-Korrespondenten verboten worden ist, per Dienstwagen in den Urlaub zu entfleuchen, bleibt zur Notwehr nur die Schelte an dieser Stelle.

Also, im Ernst und der Reihe nach. Spanier: Wir in Nordeuropa glauben daran, dass es möglich ist, nacheinander zu reden. Also hört auf, alle durcheinander zu schreien. Das gilt auch für euch, Italiener. Amerikaner: Dass ihr uns vom Totalitarismus befreit habt, heißt nicht, dass ihr allein auf der Welt seid. Also gewöhnt euch den Kasernenhofton ab und lernt, wie alle anderen, bitte und danke zu sagen.
Rumänen: Ruft weniger oft „Fuck!“ und ihr geht als Portugiesen durch. Polen: Natürlich fühlen wir, weil ihr historisch die Iren des Kontinents seid, romantisch mit euch. Euren Damen gehört der Wodka trotzdem verboten.

Apropos Iren: Deren Ausrufe werden nicht laut, sondern breiiger, je später der Abend. Daran nehmen wir uns jetzt alle mal ein Beispiel, bitte. Danke.

 

Mülldurchsuchung

Ein Inspektor der Kommunalverwaltung, steht in dem Einschreiben, habe meinen Papiermüll durchwühlt. Er fand darin, heißt es im Annex, mehrere Umschläge mit meinem Namen, einer habe einen Stempel getragen: „DIE ZEIT“. Ob ich gestehen wolle?

In Brüssel setzt es harte Strafen für Leute, die ihren Müll zu früh auf die Straße stellen. Weil auf den engen Gässchen kein Platz für Abfalltonnen ist, benutzt man spezielle Säcke. Die allerdings dürften nicht vor 18 Uhr vor der Tür postiert werden. Ein Verstoß kostet 80 Euro.


Lotterleben: Im EU-Korrespondentenviertel

Ich halte das für eine angemessene Sanktion für eine einfache Regel. Weswegen ich zu ihren treuesten Befolgern zähle.

In diesem Sinne schreibe ich der Kommunalverwaltung zurück. Es könne sich nur um einen Irrtum handeln, beteure ich – und stelle schon einmal klar, dass ich ohne weitere Beweise nicht einen Cent zahlen werde. Ein Foto von dem allein stehenden Papiersack, schlage ich vor, wäre ein guter Anfang. Anhand der Länge seines Schattenwurfs ließe sich schließlich die genaue Uhrzeit rückbestimmen.

Ein paar Tage später, eine unbeeindruckte Mail: „Vielleicht haben Sie sich einfach im Tag geirrt, Monsieur?“ Nein, das habe ich nicht, denke ich, und, zunehmend entschlossen: Meine Zeit in belgischer Erzwingungshaft, das wäre doch mal eine Geschichte, die ich meinen Enkeln erzählen könnte.

Während ich über den nächsten Schritt nachgrüble, kommt plötzlich eine zweite Mail. Man habe sich, heißt es da, entschieden, meinen Worten Glauben zu schenken. Diesmal käme ich noch mit einer Verwarnung davon. „Aber geben Sie bitte in Zukunft besser Acht.“

Na gut, ist in Ordnung.

 

Bis später, Facebook

Irgendwann hat es die Mitarbeiterin aus der EU-Kommission aufgegeben. „I see. You are not a Facebook person“, mailte sie mir nach mehreren Kontaktaufnahmeversuchen auf der Online-Plattform.

In der Tat, es berührt mich zwar jedes Mal eine menschliche Sekunde lang, wenn Leute mich als „Freund/Freundin hinzufügen“ oder „anstupsen“ möchten. Aber ich verhalte mich jedes Mal recht kühl gegenüber Hinzufügungen. Vielleicht bin ich altmodisch, aber weder möchte ich aller Welt Auskunft über meinen Freundeskreis geben, noch hätte ich nicht Authentischeres zu tun.

Dankbar bin ich der Kommissionsmitarbeiterin allerdings dafür, dass sie mir ein paar Tage später ungerührt eine E-Mail mit dem Betreff „Facebook in 40 Jahren“ schickte. Darin abgebildet war eine fiktive Seite des Forums „pensionbook„.

Sie gemahnt, so habe ich das jedenfalls verstanden, die jugendlichen Chatter daran, worüber und wozu sie im fortgeschrittenen User-Alter chatten könnten. Da gibt es zum Beispiel die Interessengruppen „Stricken“, „Treppenlifte“ oder „Ich bleibe gerne plötzlich auf dem Gehweg stehen“.

Im Nachrichtenkanal derweil „sagt George Summner zu“, zu Edgar Jones‘ Beerdigung zu kommen. „Drei Deiner Freunde“, meldet der Meldungsautomat darunter, „wurden mit dem Spazierstock angestupst. – Zurückstupsen?“ Und unter „Anstehende Ereignisse“ kündigt sich spektakulär ein „Allein zuhause Herumsitzen!“ an. Werbepartner der Seite ist Werthers Echte.

Ich überlege noch, ob dieses Menetekel meine Meinung ändern könnte. Vielleicht kann mich in vierzig Jahren noch mal jemand anstupsen? Kann gut sein, dass ich dann doch ein Facebook-Gläubiger bin.

 

Tatohr

In der Diplomaten- und Journalistenszene gilt Brüssel als einer der brutalsten Auslandsposten überhaupt. Kaum eine Woche vergeht, in dem nicht Kollegen erzählen, einer von uns sei wieder auf dem Nachhauseweg zusammengeschlagen, an der Ampel ausgeraubt oder am hellichten Tage zuhause um den Familienschmuck erleichtert worden. Botschaftspersonal, qua Beruf um Sympathie für das Gastland bemüht, rät einem, des Nachts das EU-Viertel zu meiden. Der belgische Staat habe nicht genug Geld, ausreichend Streifenwagen zu entsenden, heißt es.

Erst kürzlich musste ich am frühen Abend mitansehen, wie ein jugendlicher Krimineller einer Dame auf dem gegenüberliegen U-Bahnsteig die Handtasche entriss. Die Frau erging sich, versteinert, in einem Schreianfall.

Immerhin scheint die belgische Kriminalpolizei in den feineren Wohnvierteln jetzt zu innovativen Ermittlungsmethoden zu greifen. Eine zypriotische Diplomatin erzählte mir, nachdem vergangene Woche bei ihr eingebrochen worden sei, hätten die Beamten die Wohnungstür nach Ohrabdrücken abgesucht. “Die Täter horchen erst einmal eine Weile, ob jemand zuhause ist”, erfuhr die Geschädigte. Als Ergebnis der Spurensicherung habe ihr der Polizist mitgeteilt, es handele sich um die Ohren von “Gipsies”. Er könne das erkennen, sagte er, er habe Erfahrung.

Ohne mich je intensiver mit Tatohr-Ermittlungen (angeblich sind Ohrabdrücke genauso individuell wie Fingerabdrücke) beschäftigt zu haben, würde ich behaupten, die Polizisten müssen noch andere Anhaltspunkte für ihre Vermutung gehabt habe.

Andererseits achte ich seitdem im internationalen Bekanntenkreis sehr genau auf womöglich bislang unentdeckte, verräterische Ohrbesonderheiten. Man lernt ja nie aus.

 

Stolz vor Freiheit

Siehe an. Die EU hat einen Kunst-Skandal

Vielleicht ist dem Künstler David Cerny noch gar nicht klar, welch grandioses Werk er vollbracht hat.

Seit Anfang Januar hängt eine gigantische Installation des Tschechen im Brüsseler EU-Ratsgebäude. Sie zeigt die 27 Mitgliedsländer als eigenwillige Skulpturen in einem Ausstanzrahmen. Die meisten der Allegorien sind zwar ausgesprochen unoriginell (Holland ist eine Flut, aus der nur noch Minarette herausschauen, Polen ein Kartoffelacker, Schweden ein Ikea-Karton und Deutschland ein Autobahnnetz, in dem stereotyp denkende Menschen ein Hakenkreuz erkennen können), aber wer vor dem Gesamtwerk steht, ist dann doch beeindruckt vom handwerklichen Können, dem Mut und der Komik, die Cerny sich erlaubt hat.

Denn nicht nur hat er die tschechische Ratspräsidentschaft genarrt, indem er einfach alle Skulpturen selbst anfertigte, statt sie (Vielfalt, wichtig in der EU!) auf 27 europäische Künstlerateliers zu verteilen. Er hat auch die Liberalität und Toleranz des angeblich so liberalen und toleranten Staatenbundes herausgefordert. Ergebnis: Die EU fällt erbärmlich durch.

Sicher, man mag es anstößig finden, dass Cerny Bulgarien als Stehtoilette darstellt. Aber es ist nicht so, als gäbe es dafür keine Gründe. Erstens: Stehtoiletten werden in der lingua franca der Sanitärindustrie als Turkish Toilets bezeichnet und Bulgarien war Jahrhunderte lang Teil des osmanischen Reiches, was mancher dort bis heute einfach echt schl…echt findet. Zweitens sind nach Auskunft des Künstlers die archaischen Keramiken in Bulgariens Badezimmern weithin verbreitet. Und drittens versickern in Bulgarien jedes Jahr viele Millionen Euro Brüsseler Fördermittel in privaten Kanälen. Regelrecht weggespültes Geld, sozusagen.

Der bulgarische Botschafter freilich fordert, das Klo müsse verschwinden, und die Tschechen wollen ihr Geld zurück. Mittlerweile ist die Skulptur mit einem Tschador-artigen schwarzen Tuch überhängt. Schade. Bisher hatten wir gedacht, das europäische Imperium unterscheide sich vom Osmanenreich gerade dadurch, dass die Kunstfreiheit der Nationalheiligkeit vorgeht.

 

Antwerpener Moment

Die unsichtbaren Regisseure von Samstag Nachmittagen setzen bisweilen unerhört gute Szenen. In einem Café am mittelalterlichen Marktplatz von Antwerpen strecken wir einen Moment lang die Beine aus und versuchen zu rekapitulieren, wann dieses so nordisch wirkende Städtchen eigentlich katholisch wurde.

Klar – die spanischen Habsburger waren es, die zu Zeiten ihres Imperiums im 16. Jahrhunderten die protestantischen Erhebungen in ihrer damals spanisch-niederländischen Provinz niederschlugen.

Während wir uns noch über genaue Jahreszahlen streiten, trippeln, wie aus dem Nichts, zwei seltsame Männer an unserem Tisch vorbei.

Der eine trägt einen Plastik-Ritterhelm auf dem Kopf und einen Besenstiel in der Hand. Von seiner Hüfte baumeln Zotteln mit angeklebten Pferdehufen herunter. Staunend zieht ein Teleskop aus seinem Umhang, richtet es auf die imposanten Fassaden der Antwerpener Gildehäuser und hält im nächsten Moment seinen dicklichen Begleiter zur Flucht an. Sancho Pansa gibt seinen Stoff-Eselsbeinen die Sporen – und beide galoppieren davon.

Wir stutzen. Irgendwie war das gerade eine geniale Performance.

Aber warum?

Nun ja, wie breitete sich noch die Neuzeit über Europa aus? Von Norden her erfasste zu Zeiten des Don-Quijote-Schöpfers Cervantes die Reformation den Kontinent. Sie zwang, in einer Ära tiefer Verunsicherung, als Handelssegler (viele von ihnen von Antwerpen aus) in neue Welten aufbrachen, den Menschen zum Nachdenken über sein Selbst.

Cervantes schickte zur selben Zeit seinen Quijote von Süden aus ebenfalls auf eine Existenz-Entdeckungsreise. Der Ritter von der traurigen Gestalt, er wandelt sich im Roman durch seine Irrungen vom Narren zum Weisen, wird schließlich zur Gestalt seiner Erfahrungen. Zum ersten Mal in der Literaturgeschichte schaffte Cervantes so eine Figur, die nicht der Autor, sondern die den Autoren beherrschte.

Hier in Antwerpen, wo germanischer Protestantismus und spanische Romantik aufeinander prallten, einen Wiedergänger dieses Apostels über den Marktplatz hoppeln zu lassen, staunend inmitten chinesischer Touristen und handyflötender Belgier, das ist schon eine Idee von beinah kosmischer Qualität.

Wir rühren, seltsam berührt, in unserem Milchkaffee. Jungejunge. So viel europäische Volksseele war selten in fünf Sekunden.

 

Brüssel hilf!

Mal eine Wette: In ein paar Jahren wird es handyfreie Zonen geben, genauso wie es heute raucherfreie Zonen gibt. Die EU wird Gutachten über den Stressfaktor Mobilfunkbimmelei in Auftrag geben, einheitliche Schutzstandards definieren und bürgerfreundliche Regulierungen vorschlagen. Es dauert eben eine Weile, so die Lehren des Nikotins, bis gewisse Kulturpraktiken als gesundheitsschädlich anerkannt und abgestellt werden.

Schulen, das zeigt sich währenddessen auch in Sachen Handysucht, verdeutlichen uns gesamtgesellschaftliche Fehlentwicklungen wie unterm Brennglas.

In einer ruhigen Stunde an einem Ort im nördlichen Norddeutschland, wo man glückerlicher Weise nur die Wildgänse rauschen hört, erzählte mir ein Freund – er ist seit kurzem Lehrer an einer Gesamtschule – folgende Geschichte: Er habe neulich in einer Unterrichtsstunde innerhalb von drei Minuten “die fünf möglichen Störungen durch Mobiltelefone” erlebt.

Als erstes, berichtet er, klingelte beim einem Schüler das Handy. Als der Freund den jungen Mann bat, das sich anschließende Gespräch (!) zu beenden, bemerkte er, wie unter der Nebentischplatte ein Nachbar damit beschäftigt war, eine sms zu verfassen. Zwei andere Schüler sahen sich ein Pornofilmchen auf dem Display an.

Noch bevor der Freund mit all seiner Autorität durchgreifen konnte, vernahm er hinter sich eine seltsam blechernen Türkpopp-Melodie. Er stammte – Sie ahnen es – aus einem Handy, dessen Besitzer mit demselben auf den Tisch gestiegen war, um einen geschmeidigen Hüfttanz vorzuführen. Den Versuch des Freundes, den jungen Mann zum Herunterkommen zu bewegen, dokumentierte ein fünfter Beteiligter mit seiner Handykamera.

“Was soll ich machen?”, fragt der Freund. “Wenn ich in so einer Situation ausflippe, landet das Video nachher bei YouTube.” Er gebe schon Kollegen, denen das passiert sei.

Ich redete dem Freund zu: Mach es öffentlich! Prangere es an! Erzähl den Menschen von deinem Schicksal! Die Risiken und Nebenwirkungen des Handymissbrauchs, die gehen schließlich uns alle an.

 

Weltordnung der Wohnzimmer

Der Freund in Kopenhagen ist einigermaßen pikiert. Ikea? Da kauft ihr noch ein? Ob wir denn noch nicht mitbekommen hätten, was für Chauvinisten diese schwedischen Möbeldesigner seien?

Ikea trampelt auf dem Dänentum herum!, zürnt er. Alle möglichen Teppiche und Toilettenartikel im ach so freundlichen Möbelhaus seien nach dänischen Orten benannt – eine Ungeheuerlichkeit. Will sich Ikea mit Dänemark anlegen?, fragen schon die Zeitungen im Inselreich.

Tatsächlich glaubt, wer den Ikea-Katalog geografisch liest, bald nicht mehr an einen Zufall.

BORNHOLM zum Beispiel, eigentlich bekannt als idyllische Ostseeinsel, ist bei Ikea ein ziemlich spackiger Billigteppich (naturbraun, 4,99 Euro).

SKAGEN, das sympathische Hafenstädtchen an der Nordspitze Jütlands, STRIB, ein freundlicher Ort auf Fünen, und HELSINGÖR, das Hafentor nach Schweden, teilen in der Weltordnung der Wohnzimmer allesamt dasselbe Unterlingenschicksal: Teppiche.

Von NIVÅ erst, der Stadt auf Seeland, die sich als Trittschalldämmung zum Verlegen unterm Laminatfußboden wiederfindet,
reden wir aus nachbarschaftlicher Rücksicht lieber gar nicht erst.

Ebenso wenig wie von ÖRESUND (eigentlich: die Meerenge zwischen Dänemark und Schweden), der sich im kleinteiligeren Sortiment als Toilettensitz (Antikbeize oder Birke, 16,99 Euro) wiederfindet.

Nicht unerwähnt bleiben sollte derweil, dass eines der stylishsten und teuersten Sofas im Katalog den stolzen Namen STOCKHOLM trägt.

Die gute Nachricht freilich lautet: Die Dänen nehmen die Affäre gelassen, als brüderlich skandinavische Kabbelei eben. Gerüchteweise heißt es bloß, die Geschäftswelt denke über einen mehr oder weniger subtilen Gegenschlag
nach. Die dänische Carlsberg-Brauerei, munkelt man in Kopenhagens Kneipen, werde sicher bald ein besonders leichtes Light-Bier auf den Markt werfen – unter dem Namen einer hübschen schwedischen Stadt.

 

Niemand hat die Absicht…

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… Weblogs zu regulieren!, stellt die Europaabgeordnete Marianne Mikko jetzt mal klar.

Die arme Estin. Hasstiraden von Bloggern aus ganz Europa sind ihr in den letzten Tagen entgegengeflogen. Denn die Sozialdemokratin hatte sich beklagt, dass in Weblogs oftmals „bösartig“ und mit „undurchschaubaren Motiven“ über die Europäische Union berichtet werde. „Lukaschenka!“, „Ceaucescu!“ habe der Cyberspace sie daraufhin getauft, berichtet sie. „Das war schon hart.“

Natürlich darf Frau Mikko (sie war zwanzig Jahre lang selbst Journalistin) die Inhalte von Wegblogs kritisieren. Wenn sie allerdings gleichzeitig einen Bericht für das Europaparlament verfasst, in dem davon die Rede ist, über den „Status“ von Weblogs müsse diskutiert werden, dann bekommt ihre Kritik gleich einen etwas anderen, nämlich doch regulatorischen Klang.

Nicht gerade beruhigend wirkt auch die Mitteilung der Grünen-Fraktion, das EU-Parlament sei gegen die „übermäßige“ Regulierung von Blogs.

Mit 307 zu 262 hat das Europäische Parlament gestern Mikkos Bericht über „Gemeinnützige Bürger- und Alternativmedien in Europa“ angenommen. Das Papier hält fest, dass Blogger einen Beitrag zur Meinungsvielfalt leisten. Die Abgeordneten fordern in der Resolution aber auch eine Diskussion darüber, was Blogger eigentlich sind (Journalisten oder nicht?) und welche Rechte und Pflichten für sie gelten sollten.

Nun könnte man meinen, diese Fragen seien durch die Wirklichkeit längst beantwortet.

Natürlich sind Blogger Journalisten, wenn sie regelmäßig und mit dem Anspruch auf Information über das Weltgeschehen berichten. Ebenso natürlich sagt das noch nichts über die journalistische Qualität ihrer Arbeit aus. In aller Regel wird die schlechter sein als die von professionellen Journalisten, weil viele Hobby-Blogger a) nicht gelernt haben zu recherchieren und zu schreiben und b) ihre Beiträge nicht von anderen Redakteuren gegengelesen und kritisch geprüft werden, bevor sie an die Öffentlichkeit gehen (mindestens Punkt b gilt übrigens auch für diesen Blog).
Andererseits gibt es Blogger, die in ihrem Spezialgebiet besser informiert sind und beeindruckender arbeiten als bezahlte Journalisten. Einen formalen Anspruch auf Anerkennung als Journalisten, sprich auf einen Presseausweis, haben sie freilich nur dann, wenn sie ihren regelmäßigen Lebensunterhalt aus der Bloggerei bestreiten.

Deshalb nichts wie rübergehuscht ins Parlament und Frau Mikko ein paar Fragen gestellt.

Also, Frau Mikko, was genau wollen Sie eigentlich regeln?

„Ich will darauf aufmerksam machen, dass Weblogs sehr trickreich sein können. Und dass sie bisweilen problematisch agieren, wenn es etwas darum geht, Quellen zu überprüfen oder Informanten geheim zu halten. Das beunruhigt mich ein bisschen. Sie wissen doch, wie viel Macht ein Wort haben kann. Worte können Menschen töten.“

Das stimmt. Aber damit das nicht passiert, gibt es doch längst Regeln in Europas Nationalstaaten, sogar solche, die die Freiheit des Wortes einschränken. Wer einen anderen beleidigt oder verleumdet, macht sich strafbar. Wer zur Gewalt aufruft, macht sich strafbar. Wer seine Informanten verrät, knippst sich als Journalist selber aus. Wer Unsinn berichtet, über den wird berichtet, dass er Unsinn berichtet.

Also, wo ist der Regelungsbedarf?

„Ich rufe dazu auf, dass Blogger wie menschliche Wesen handeln“, antwortet Mikko. „Ich rufe zum Humanismus auf!“

Das ist nie verkehrt. Gleichwohl provoziert es beim kritischen Blogger die Frage: Hat das Europaparlament eigentlich nichts Dringenderes zu tun? Zumal man dreimal raten darf, was aus Mikkos Bericht am Ende werden wird. Die Kommission wird ihn zur Kenntnis nehmen. Und der Rat (also die europäischen Regierungen) wird sich wahrscheinlich niemals mit dem Thema beschäftigen.

Zurück bleibt wieder einmal der Eindruck, dass sich das Europaparlament bisweilen benimmt wie eine NGO: Mit viel Tamtam „Bewusstsein schaffen“ für Probleme, und zwar im relativ sicheren Wissen, dass aus dem Tamtam nie Politik wird.

„Schreiben“, hat Mark Twain einmal gesagt, „ist gar nicht so schwer. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.“

Vielleicht sollte das Europaparlament diese journalistische Weisheit beherzigen, bevor es seine nächste Medieninitiative startet.