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Kurz vor der Explosion

Das mangelnde Gefühl der EU für Bürgerrechte sorgt für immer größere Spannungen im Staatengebälk. Droht Europa ein „Supernova-Effekt“?
 
Wird den Schöpfern des Lissabon-Vertrages gerade mulmig darüber, was die EU neuerdings dürfen darf? Das Bundesverfassungsgericht hat gerade die Vorratsdatenspeicherung für grundgesetzwidrig erklärt. Das deutsche Ausführungsgesetz, das die Richter wegen unzureichender Genauigkeit und zu breiter Eingriffsgrundlagen verwarfen, stützte sich auf eine EU-Richtlinie, die am 15. März 2006 erging. Sie verpflichtet alle 27 Mitgliedsstaaten der EU, praktisch alle Telekommunikationsdaten ihrer Bürger mindestens ein halbes Jahr zu speichern, zum Zwecke der „Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten“.

Mit einigen Jahren Verspätung fragen sich jetzt immer mehr EU-Staaten, was für eine Regelung sie damit eigentlich in die Welt gesetzt haben – und welche weiteren Eingriffe in die Bürgerrechte der Europäer der Lissabon-Vertrag möglich macht. Die Vorratsdatenspeicherung ist – obwohl Vergangenheit – ein Lehrbeispiel dafür, auf welchen Wegen und von welchen Interessen gelenkt in Zukunft verstärkt europäische Bürgerrechtseingriffe stattfinden können.

Die neue EU-Kommissarin für Innen- und Justizpolitik, die Schwedin Cecilia Malmström, kündigte soeben an, die Nutzen und Kosten der Vorratsdaten-Richtlinie bis September überprüfen zu lassen. Die Richtlinie war von Anfang an umstritten. Irland und die Slowakei hatten im Ministerrat gegen die Sammelanordnung votiert. Doch sie wurden überstimmt.

Und genau hier beginnt der Fall exemplarisch zu werden für die EU als problematische Rechtssetzungsinstanz. Im Staatenpool von Brüssel herrscht eine legislative Dynamik, die mit den üblichen Mitteln von Politik und Öffentlichkeit nicht zu kontrollieren ist. Daran ändert der Lissabon-Vertrag nichts – im Gegenteil.

Schon seit 2002 gab es Überlegungen für Datenspeicherungen, um Terroristen auf die Spur zu kommen. Im Jahr 2005 ging dann plötzlich alles sehr schnell – wegen zweier Ereignissen. Am 1. Juli übernahm Großbritannien die halbjährliche EU-Ratspräsidentschaft. Am 7. Juli explodierten in London vier Bomben von Selbstmordattentätern, die in der U-Bahn und in einem Bus 56 Menschen in den Tod rissen. Der britischen Innenminister Charles Clarke nahm sich darauf hin vor, die Vorratsdatenspeicherung so schnell wie möglich durch die Brüsseler Instanzen zu peitschen.

Dazu umging Clarke die EU-Rechtssetzungsregeln. Denn trotz der Schockwelle von London zeigten sich mehrere Staaten skeptisch, ob die Richtlinie verhältnismäßig sein würde. Für Rechtsakte in der Justiz- und Innenpolitik brauchte es damals aber Einstimmigkeit im Ministerrat. Die britische Regierung erklärte die Vorratsdatenspeicherung deshalb kurzerhand zu einer Maßnahme zur Harmonisierung des Binnenmarkts.

Für solche Rechtsvorschriften gilt in der Brüssel das Express-Verfahren. Im Rat braucht es keine Einstimmigkeit – dafür aber muss das Europäische Parlament der Vorlage zustimmen. Dies hatte mit dem offenkundigen Missbrauch des Verfahrens wenig Probleme.  „Die Briten wussten, dass das Parlament sich nicht gegen sie stellen würde. Denn die Abgeordneten fühlten sich geschmeichelt, dass sie mitreden durften“, sagt Roderick Parkes, Brite und Leiter des Brüsseler Büros der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Am 14. Dezember 2005 ist alles erledigt. Das Europaparlament stimmt der Vorratsdatenrichtlinie mit 378 zu 197 Stimmen zu. Es ist eine Rekordzeit für ein Brüsseler Gesetz – aber um den Preis von Präzision und Expertise. „Abgeordnete, die Einwände hatten, wurden systematisch umgangen“, sagt Roderick Parkes.

Im Ministerrat stemmten sich Irland und die Slowakei gegen den Trick, die Gesetzgebungsregelungen für den Binnenmarkt zu Zwecke der Terrorbekämpfung zu nutzen, doch ohne Erfolg. Irland klagt deswegen vorm Europäischen Gerichtshof. Dessen Richter stellen sich blind. Im Februar 2009 entscheiden sie, welche Rechtsgrundlage in Brüsseler Runden gewählt werde, müssten die Regierungen entscheiden.

Das Wichtige an dieser Historie ist: Der Lissabon-Vertrag hat genau das damals benutzte Verfahren (Mehrheit im Ministerrat plus Zustimmung des Europäischen Parlamentes) zum Standard für die Gesetzgebung in der Justiz- und Innenpolitik gemacht.

Für Länder wie Großbritannien und Spanien ist eine effiziente Terrorismusbekämpfung auch weiterhin der Maßstab aller Datenerhebungen – und die deutsche Bedenkenträgerei zunehmend ein Rätsel.

„Es gibt im Rat eine klare Mehrheit, die sagt: Spinnen die Deutschen?“, bekennt freimütig Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). „Aber wir haben nun einmal diese besondere Tradition, es hilft nichts.“
Der Unions-Minister de Mazière ist allerdings aus Sicht der Hardliner-Staaten nicht so sehr das Problem. Er demonstrierte zuletzt Europa-Treue, als er sich bei der Abstimmung über das umstrittenen Swift-Abkommen im Rat der Stimme enthielt.

Mit größerer Sorge verfolgen insbesondere die Briten das Treiben der liberalen deutsche Justizministerin. Britische Diplomaten in Brüssel sind dieser Tage nicht nur hoch interessiert daran, wie sich Sabine Leutheusser-Schnarrenberger korrekt ausspricht. Sondern auch, wie die Dame tickt. Erst klagte sie höchstpesönlich in Karlsruhe gegen die Vorratsdatenspeicherung, dann empfahl sie dem Europaparlament auch noch, gegen das Swift-Abkommen zu stimmen. Was kommt als nächstes?

1995, man erinnert sich, trat Leutheusser-Schnarrenberger unter Tränen als Justizministerin zurück, weil die FDP im Bundestag dem „Großen Lauschangriff“ zugestimmt hatte. Könnte sie sich vorstellen, ihr Schicksal mit ebensolcher Konsequenz an den Ausgang einer Abstimmung im Brüsseler Rat zu binden? Das sei, antwortet Leutheusser-Schnarrenberger der ZEIT, eine hypothetische Frage. „Jetzt geht es doch erst einmal darum, dass wir die Dinge nicht einfach auf uns zurollen lassen. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen, sondern müssen uns einbringen.“ Vom europäischen Parlament erwartet sie, dass es sich eine „starke Position erkämpft.“
 
Aber es gibt noch mehr wankelmütige Germanen, die das Brüsseler Diplomatenkorps derzeit mit Argus-Augen verfolgt. Allen voran die Richter in Karlsruhe. Noch, so machten sie in ihrer Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung klar, wollten sich sie an den Grundsatz des Solange-II-Urteils halten. Solange, urteilte das Bundesverfassungsgericht darin im Jahr 1986, und nur solange erkennbar sei, dass die europäische Rechtssetzung im Großen und Ganzen deutschen Grundrechtsstandards entspreche, solange werde das Karlsruher Gericht die Rechtmäßigkeit von EU-Vorschriften generell nicht überprüfen.

Ob genau dieser Standard aber noch erfüllt ist, daran haben nach dem Lissabon-Vertrag offenbar immer mehr der Richter Zweifel. In ihrem Urteil zu dem Reform-Vertrag machten sie vergangenes Jahr deutlich, dass sie sich die Prüfung von „ausbrechenden EU-Rechtsakten“ vorbehalten. Die Stimmung, mit anderen Worten, dreht sich merklich in Richtung eines Solange-III-Urteils. Kleinere Staaten verweigern der Rechtspolitik EU schon heute den Gehorsam. Irland, Österreich, Belgien, Schweden und Griechenland haben die Vorratsdaten-Richtlinie bis heute nicht in nationales Recht überführt.

Der SWP-Forscher Roderick Parkes vergleicht die zunehmenden Spannungen zwischen nationaler und internationaler Ebene in Europa mit einem drohenden „Supernova-Effekt“: „Jetzt, unmittelbar nach Inkrafttreten von Lissabon, strahlt der Stern sehr hell. Aber es kann zur Explosion kommen. Die europäische Justiz- und Innenpolitik steht an einem Wendepunkt.“

 

Die Freiheit nahm es sich

Das Europaparlament schont Berlusconi. Ein Glück, genau besehen

Die Mehrheit des Europäischen Parlaments hat gestern mehrere Resolutionen verworfen, die auf mangelnde Medienfreiheiten in Italien aufmerksam machen wollten. Das war gut so.

Denn in den Anträgen ging es nur vordergründig um die skandalöse Machtballung, die Silvio Berlusconi sich in Rom erlaubt. Sozialisten, Grüne und Liberale wollten vielmehr die EU-Kommission dazu aufrufen, die Medienvielfalt in Europa zu regeln. Damit würde die  EU allerdings ihre Kompetenzen überschreiten. Denn Medienpolitik ist, gerade weil sie so wesentlich ist für das Funktionieren der Demokratie, nationale Angelegenheit. Das sollte auch so bleiben.

Von allen vorgebrachten Vorschlägen scheiterte der Entwurf der Liberalen mit 338 Ja-, 338 Nein-Stimmen und 8 Enthaltungen am knappsten. Unter Verweis auf die „Risiken der Verletzung der Meinungs- und Informationsfreiheit in der EU, besonders in Italien“, hatten die Liberalen die EU-Kommission auffordern wollen, eine „Richtlinie“ zur Gewährung journalistischer Pluralität zu erarbeiten.

Die EVP-Fraktion, der auch die deutschen CDU-Abgeordneten angehören, stimmte dagegen. Daraus kann allerdings nicht geschlossen werden, dass die Unionsleute Herrn Berlusconi vor Kritik in Schutz nehmen wollten. Ihnen passte, so versichern sie, bloß der Nexus zwischen der Verurteilung Italiens und dem Ruf nach europäischer Gesetzgebung nicht.

„Das Thema ist nichts für die EU-Ebene“, sagt der deutsche EVP-Sprecher Thomas Bickl. „Die Presse- und Medienfreiheit ist in jedem Land garantiert. Deshalb muss sie auch jedes Land gewährleisten.“

Das sah sogar die zuständige EU-Kommissarin für Medien, Viviane Reding, so. Verkehrte Welt im Straßburger Plenarrund. Die Luxemburgerin versuchte den Parlamentariern verzweifelt klarzumachen, dass es diesmal nun wirklich nichts zu regeln gebe. Originalton Reding:

„Sie wissen, dass ich keine Kommissarin bin, die ein Problem mit Regulierung hat. Aber würde Gesetzgebung die Probleme lösen, die Sie bewegen? Könnten wir eine solche Gesetzgebung unter den bestehenden EU-Kompetenzen rechtfertigen? Besteht hier eine klare grenzüberschreitende Dimension?“

Es sind genau diese Testfragen, die sich das Europäische Parlament viel häufiger stellen sollte. Im Fall der Medienfreiheit lauten die Antworten: Nein. Nein. Und nein.

Natürlich ist es nicht hinzunehmen, dass der italienische Ministerpräsident zugleich der mächtigste Medienunternehmer des Landes ist. Aber die gefragten Instanzen, um dies zu ändern, sitzen nicht in Brüssel. Es ist zuerst der italienische Wähler. Dann die italienischen Gerichte. Mag sein, dass die richterliche Unabhängigkeit in Italien nicht gewährleistet ist. Aber das wird eine EU-Richtlinie zu Medienpluralismus nicht ändern. Wenn der Rechtsstaat unter Berlusconi nachweisbar erodiert, kann und sollte die EU mit ganz anderem Kaliber feuern. Sie könnte, initiiert durch das Europäische Parlament übrigens, Italien das Stimmrecht im Europäischen Rat entziehen.

Was hingegen auf nationaler Ebene repariert werden kann, muss auf nationaler Ebene repariert werden. Die Verstrickungen von Medien und Parteien  in den 27 EU-Mitgliedsstaaten sind zu länderspezifisch als dass Bürokraten in Brüssel sie sachgerecht entflechten könnten. Sicher, es gibt Probleme, nicht nur in Italien. Es gibt sie in Ungarn. In Rumänien. In Bulgarien. Auch in Frankreich und Deutschland. Aber soll sich wirklich die EU-Kommission künftig um die Grenzen der Beteilung, der, sagen wir mal, SPD an der Frankfurter Rundschau oder der WAZ  kümmern? Wollen wir das nicht doch vielleicht besser der nationalen Politik, den nationalen Parlamenten und Öffentlichkeiten überlassen?

Axel Heyer, der Pressesprecher der Liberalen im Europäischen Parlament, hält dagegen. „Die Pressefreiheit ist nun einmal ein europäischer Wert. Das Parlament muss sich dann schon die Freiheit nehmen können, die Dinge zu kritisieren. Wir können schlecht Resolutionen zur Lage in Burma erlassen, zu unseren eigenen Problemen aber schweigen.“

Das verlangt allerdings niemand, im Gegenteil. Dem Europäischen Parlament stünde es völlig frei, Silvio Berlusconis Medienpolitik ebenso durch eine Resolution zu verurteilen wie Unrecht in ferneren Gefilden. Ein solcher Vorstoß, ohne gleichzeitige Gesetzgebungsabsicht, wäre sogar hoch willkommen. Auch deshalb, weil er entlarven würde, wer sich in Straßburg wirklich traut, das Angemessene zu sagen.

Wir bleiben gespannt.

 

Mit einem SWIFT ist alles weg

Wie in der EU über Bürgerrechte verhandelt wird, ist Europa unwürdig

Es ist ein typischer Sommersaison-Nachmittag in Brüssel. Die Amts- und Redaktionsstuben der EU-Hauptstadt sind weitgehend geleert. Der politische Betrieb läuft aus, rund um den sonst so hektischen Place Schuman schweigen jetzt sogar die Baustellen. In diese Stille hinein fliegen am Montag die 26 Außenminister der Europäischen Union ins Justus-Lipsius-Gebäude ein, zu einem Rat über Allgemeine Angelegenheiten (RAA).

Sie reden über das Aufnahmegesuch Islands (die Kommission soll Beitrittsverhandlungen aufnehmen), über das Chaos in der Staatsruine Somalia (die EU soll eine Erkundungsmission entsenden), und beim Mittagessen debattieren sie über den Iran (man zeigt sich sehr besorgt über die Behandlung der gefangenen Oppositionellen, im übrigen soll mit Teheran weiter umgegangen werden wie bisher).

Und dann gibt es da noch einen vorverhandelten Punkt auf der Tagesordnung, dem die Minister ohne weitere Aussprache zustimmen. Schließlich scheint es nur um eine Kleinigkeit zu gehen: die Kooperation mit den USA in der Terrorbekämpfung, eine Formsache der Zeitgeschichte, wenn man so möchte. Einstimmig, nebenbei, nickten die Außenminister das Vorhaben ab: Die Europäische Union soll ein Abkommen schließen, das die Weitergabe von Bankdaten europäischer Bürger an die amerikanische Regierung erlaubt.

Die Außenminister erteilen auf diese Art ein Placet für einen Eingriff in Freiheitsrechte, der, würde er in den politischen Arenen der einzelnen Mitgliedsstaaten geplant, Wogen der Empörung auslösen würde. Was, anders gesagt, in Deutschland als Gesetz den Bundestag und eine geharnischte öffentliche Debatte passieren müsste, wird in Brüssel als Konferenzpunkt abgehakt. Es ist dieser Webfehler im politischen System der EU, der so vielen Menschen (und Verfassungsrichtern) Bauchschmerzen bereitet.

Und so lautet der Beschluss: Die Vereinigten Staaten sollen künftig über eine europäische Behörde Anfragen richten können, um die Daten von Swift-Überweisungen zu erhalten. Swift, die Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunications, ist eine Genossenschaft mit Sitz in Belgien, die für mehr als 8300 Banken und Finanzdienstleister in 208 Ländern internationale Transaktionen abwickelt. Jeder, der schon einmal eine Auslandsüberweisung getätigt hat, kennt die speziellen Swift-Codes, mit deren Hilfe die Empfängerkonten zugeordnet werden.

Was kaum jemand weiß, ist hingegen, dass die amerikanische Regierung seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 völlig unkontrolliert die Daten von Swift-Benutzern, also Name, Betrag, Bankkontakte und Verwendungszwecke überprüft und gespeichert hat. Denn Swift unterhält einen so genannten Spiegel-Server im US-Bundesstaat Virginia. Auf Grundlage einer Executive Order, also einer Anweisung des Präsidenten, hat sich das US-Finanzministerium bis Ende 2006 ohne jede Einschränkung aus dem Speicher bedient.

Dann flog die Abzapf-Aktionen auf, und auf Drängen der EU verpflichtete sich das US-Finanzministerium die Daten wenigsten nicht länger als fünf Jahre zu speichern sowie eine jährliche „Evalution“ der Sammelei durch einen europäischen Richter zuzulassen.

Schon an dieser Stelle wäre freilich die Frage erlaubt gewesen, warum die Europäische Union nicht wesentlich entschlossener reagiert hat. Die Swift-Daten erlauben es immerhin, ein umfängliches Profil europäischer Wirtschaftsbeziehungen zu erstellen. Wer handelt mit wem? Welche Umsätze machen welche Firmen? Wer exportiert wohin? Wie stark entwickelt sich Firma X? Wie geht es Konkurrent Y? 15 Millionen Transaktionen werden jeden Tag über Swift abgewickelt. Glauben die europäischen Regierungen allen Ernstes, das Interesse der US-Regierung an diesem Informationsschatz sei auf Terrorfinanzierung beschränkt geblieben?

Schon 2006 also, nach Bekanntwerden der Datenabschöpfung, hätte die Europäische Union mit den Amerikanern eine, um es vorsichtig zu sagen, ernsthafte Diskussion über dreisten Informationsklau führen können. Stattdessen sollen in Zukunft, wie es der Europa-Staatsminister Günter Gloser (SPD) am Montag in Brüssel formulierte, „Leitplanken“ eingezogen werden, um den Datenschutz zu stärken und Europäern den Rechtsweg gegen illegale Abschöpfung zu eröffnen.

Denn mittlerweile hat Swift gehandelt. Die Firma will ihren Server von Virginia in die Schweiz zu verlegen. Im Herbst soll der Umzug bewerkstelligt sein. Dem allzu leichten Zugriff der amerikanischen Behörden wären die Bankdaten damit entzogen.

Statt aber nun erst einmal in aller Ruhe – und vor allem unter Beteiligung der nationalen Parlamente – zu diskutierten, wie in Zukunft unter Abwägung aller Interessen verfahren werden sollten, wird aus dem „Pull-System“, so ein europäischer Diplomat, schlicht ein „Push-System“ gemacht. Die Amerikaner fragen nach Swift-Daten, die Europäer liefern – unter Voraussetzungen, die bis Dezember zwischen Kommission und USA ausgehandelt werden sollen.

Die Hauptfrage indes haben die Minister in Brüssel nicht diskutiert. Trägt die Datensammelei überhaupt in verhältnismäßiger Weise zur Terrorbekämpfung bei? Fragt man EU-Diplomaten, wie viele Anschläge denn bisher durch die Daten-Überprüfungen verhindert worden seien, verweisen sie auf einen Bericht des Richters Jean-Louis Bruguière vom Februar diesen Jahres. Nach Ansicht des Franzosen hat die Datenüberprüfung „maßgeblich zur Terrorismusbekämpfung in den Vereinigten Staaten, in Europa und in anderen Erdteilen“ beigetragen. Mehr als diese wertende Zusammenfassung des Bruguière-Berichts ist der Öffentlichkeit allerdings nicht zugänglich. Das Papier ist als geheim eingestuft. Mit anderen Worten: Wie sinnvoll der Datenscan ist, kann kein Parlamentarier, kein Journalist, kein Bürger nachvollziehen.

Jean-Louis Bruguière, soviel läßt sich allerdings sagen, ist kaum der beste Gewährsmann für die Verhältnismäßigkeit von Anti-Terror-Maßnahmen. Der Ermittlungsrichter hat sich seinen Fachruhm bisher weniger als neutraler Gutachten denn als hartgesottener Terroristenjäger erarbeitet. In europäischen Polizei- und Geheimdienstkreisen gilt Bruguière neben seinem spanischen Kollegen Balthazar Garzon als einer der Richter, an die man sich vertrauensvoll wenden kann, wenn er eines schnellen, unkomplizierten Haftbefehls gegen wandernde Dschihadisten bedarf.

Und Swift selbst gehört, nach allem was man weiß, kaum zu den bevorzugten Geldtransfermethoden von Islamisten. Sie bedienen sich vielmehr oftmals dem jahrhundertealten so genannten „Hawala“-System, auch bekannt als Underground Banking. Das funktioniert so: Möchte jemand aus dem Jemen Geld nach Pakistan überweisen, wendet er sich an eine Hawala-Wechselstube und gibt dem Betreiber den entsprechenden Geldbetrag. Im Austausch erhält er ein Codewort oder eine Zahlenkombination. Jedem, der den Code, einen persönlich überlieferten PIN gewissermaßen, kennt, wird der Betrag am Zielort ausgezahlt.

Wie viele Fälle von Terrorismus bisher durch den Swift-Überprüfung verhindert worden seien, konnte am Montag auch Staatminister Gloser nicht sagen. Ob das Bundeskabinett je mit der Angelegenheit befasst war und welche Meinungen sich dort bildeten, wusste Gloser ebenfalls nicht. „Wir stehen“, warb er vor den Journalisten um Verständnis, „erst am Anfang eines Verhandlungsprozesses.“
Bis der abgeschlossen ist, saugen die Amerikaner weiter weidlich Daten vom Swift-Server ab. Es wäre, sagt der EU-Justizkommissar Jacques Barrot, „extrem gefährlich, zum jetzigen Zeitpunkt die Überwachung des Informationsflusses zu stoppen.“

Beschlossen zur Sommerzeit in diplomatischen Hinterzimmern, beraten von einem Hardliner, abgeschirmt gegen jede inhaltliche Opposition – die Art, wie die EU über Bürgerrechte verhandelt, ist Europa schlicht unwürdig.

 

Wer war das?


Die EU verbietet die Glühbirne. Es soll Menschen geben,
denen das nicht gefällt. Bloß, wer in Brüssel ist eigentlich
dafür verantwortlich?

Reisende ins Ausland jenseits der EU werden künftig wohl mit neuen Mitbringselwünschen verabschiedet werden. „Oh, du fliegst in die Türkei? Bringst du mir eine Stange Glühbirnen mit?“
Tatsächlich hat die Europäische Union gestern die gute, alte, stromfressende Edison-Glühbirne verboten. Schon ab Herbst diesen Jahres wird die 100-Watt-Birne aus dem Verkehr gezogen, dann schrittweise bis 2012 auch all die anderen gewohnt heiß strahlenden Leuchtmittel.

Sicher, wir wissen, Glühbirnen wandeln nur fünf Prozent des Stromes in Licht um, den Rest in Wärme, und das ist ein beschämender Effizienzgrad für ein Elektroprodukt des 21. Jahrhunderts.

Aber wir wissen auch, dass Energiesparlampen einen hohen Anteil von Blaulicht enthalten, sprich: einfach eklig kalt wirken. Verschiedene Menschen mögen darauf unterschiedlich sensibel reagieren. Manche sind illuminativ abgestumpft (keine Kerze schmückte je ihr Schlafzimmer, kein Kaminfeuer rührte sie je an, und unter Neonröhren blühen sie auf). Für andere möchte man nicht die Hand ins Feuer legen, ob die Bestrahlung durch Sparleuchten nicht womöglich das Monster in ihnen weckt. Um es deutlich zu sagen: Wie sich die Abschaffung des menschlicheren Edison-Lichtes auf die Anzahl der spontanen Axt-Morde auswirken wird, weiß noch kein Mensch.

Auf der anderen Seite steht eine Einsparung des gesamtdeutschen CO2-Ausstoßes um 0,5 Prozent. Das ist nicht viel, aber zur Rettung der Welt müssen auch kleine Schritte erlaubt sein. Freilich kann man fragen, warum Brüssel sich nicht lohnender Energiesparprojekte vornimmt. Zum Beispiel fliegen die Flugzeuge am europäischen Himmel immer noch Zickzackkurse, weil sie sich an Luftverkehrwege halten müssen, die vor Urzeiten eingerichtet wurden. Gäbe es einen „European Open Sky“, sagen Verkehrsexperten, ließe sich der CO2-Ausstoß von Passagierjets um bis zu 20 Prozent senken. Allerdings würde das erhebliche internationale Koordinierungsarbeit erfordern. Außerdem wäre der Erfolg nicht so hübsch sichtbar im Ladenregal. Um im Bild zu bleiben: Die politische Energieeffizienz solcher Maßnahmen entspräche ungefähr der Edison-Quote. Also lässt man’s.

Die Verfechter der Energiesparlampe behaupten derweil, es gäbe schon Exemplare, welche genauso warm leuchten wie die herkömmliche Birne. Sie (wie die SPD-Europaabgeordnete Dagmar Roth-Behrendt) beruhigen uns auch damit, dass sie sagen, „die Industrie wird die Alternativen bis 2011 noch deutlicher verbessert haben.“

Das wollen wir mal annehmen, denn die Industrie ist ja nicht doof. Den Glühbirnenbauern ist schon das Licht aufgegangen, dass es in Zeiten steigender Strompreise einen Wettbewerbsvorteil mit sich bringt, Lampen mit sinkendem Verbrauch auf den Markt zu werfen. Sie werden schon dafür sorgen, dass wir auch die Ökokolben bald dimmen oder suggestiv wärmend leuchten lassen können.

Was uns zu der Frage führt, warum Brüssel glaubt, unser Einschraubverhalten durch Gesetze steuern zu müssen. Wenn Sparlampen tatsächlich sparen und außerdem noch angenehm lampieren, also einfach gar nichts dagegen spricht, die Teile zu kaufen, was soll dann der Zwang? Der Verdacht, dass die Verantwortlichen in Brüssel schlicht weniger vom eigentlichverantwortlichen denn vom steuerungsbedürftigen Europäer ausgehen, liegt nahe.

Bloß, wer sind „die Verantwortlichen in Brüssel“ eigentlich?

Hier wird’s interessant. Denn je tiefer man der Frage nachgeht, wer für die Zwangsökobestrahlung verantwortlich ist, desto unklarer wird das Bild.

Angefangen hat alles im Europäischen Rat, also der Versammlung der EU-Regierungen, im Jahr 2007. Unter dem Vorsitz von Angela Merkel trafen diese damals einstimmig den Beschluss, traditionelle Glühbirnen zu verbieten. Im Dezember vergangenen Planes billigten sie den Plan, die Birnen bis 2012 aus Europa zu verbannen. Also: Verantwortlich sind auf einer ersten Stufe schon einmal alle europäischen Regierungen, unter anderem auch das CSU-regierte Bundeswirtschaftsministerium.

Auf einer zweiten Ebene befassten sich mit der genauen Ausgestaltung des Verbots verschiedene Expertengremien der EU-Kommission, der Mitgliedsländer sowie des Europäischen Parlamentes (so genanntes Komitologie-Verfahren).

Auf einer dritten Ebene hätte sich das Plenum des Europäischen Parlamentes (EP) mit der Sache beschäftigen können. Dazu hätte der Umweltausschuss des EP beschließen müssen, über das Verbot noch einmal im großen Rund zu debattieren. Das lehnte dieser allerdings am Dienstag mit 44 zu 14 Stimmen ab.

Anhand des Abstimmungsverhaltens lassen sich nun immerhin grobe Parteienverantwortlichkeiten für das Glühbirnenverbot identifizieren. Die Sozialdemokraten stimmten bis auf einen Abgeordneten gegen eine Befassung durch das gesamte Parlament. Die Grünen stimmten geschlossen dagegen – und rühmten sich anschließend eines Sieges über den „schwarz-gelben Block der Fortschrittsverweigerer“. Das wiederum ist hinsichtlich der Schwarzen halb falsch und hinsichtlich der Gelben ganz falsch.

Denn von den 22 Vertretern der Konservativen im Umweltausschuss stimmten 12 für eine Befassung des EP und 10 dagegen. Von den 8 liberalen Abgeordneten stimmte lediglich einer, ein Deutscher, für eine Plenumsbefassung. Wie kann das sein?, wollen wir von der Pressestelle der Liberalen wissen. Glauben jetzt nicht mal mehr die Freidenker an die Klugheit des Markt und an die Vernunft der Bürger? Nun ja, heißt es, der deutsche Liberale im Ausschuss tue das schon, aber die Fraktionskollegen aus Großbritannien etwa neigten in Umweltfragen „eher zu einem grünen Verhalten.“

Wir halten fest: Die generelle Verantwortung für das Glühbirnenverbot trägt eine große Koalition aus allen europäischen Regierungen, Fachleuten aus der EU-Kommission sowie des Europäischen Parlaments. Die spezielle Verantwortung dafür, dass es über das Verbot keine öffentliche Plenardebatte gab, tragen vor allem die Sozialdemokraten, die Grünen und die Liberalen, plus – etwa zur Hälfte – die Konservativen. Welche Schlüsse sich daraus für die Stimmabgabe bei der Europawahl im Juni ziehen lassen, das muss nun jeder für sich beleuchten.

 

Stolz vor Freiheit

Siehe an. Die EU hat einen Kunst-Skandal

Vielleicht ist dem Künstler David Cerny noch gar nicht klar, welch grandioses Werk er vollbracht hat.

Seit Anfang Januar hängt eine gigantische Installation des Tschechen im Brüsseler EU-Ratsgebäude. Sie zeigt die 27 Mitgliedsländer als eigenwillige Skulpturen in einem Ausstanzrahmen. Die meisten der Allegorien sind zwar ausgesprochen unoriginell (Holland ist eine Flut, aus der nur noch Minarette herausschauen, Polen ein Kartoffelacker, Schweden ein Ikea-Karton und Deutschland ein Autobahnnetz, in dem stereotyp denkende Menschen ein Hakenkreuz erkennen können), aber wer vor dem Gesamtwerk steht, ist dann doch beeindruckt vom handwerklichen Können, dem Mut und der Komik, die Cerny sich erlaubt hat.

Denn nicht nur hat er die tschechische Ratspräsidentschaft genarrt, indem er einfach alle Skulpturen selbst anfertigte, statt sie (Vielfalt, wichtig in der EU!) auf 27 europäische Künstlerateliers zu verteilen. Er hat auch die Liberalität und Toleranz des angeblich so liberalen und toleranten Staatenbundes herausgefordert. Ergebnis: Die EU fällt erbärmlich durch.

Sicher, man mag es anstößig finden, dass Cerny Bulgarien als Stehtoilette darstellt. Aber es ist nicht so, als gäbe es dafür keine Gründe. Erstens: Stehtoiletten werden in der lingua franca der Sanitärindustrie als Turkish Toilets bezeichnet und Bulgarien war Jahrhunderte lang Teil des osmanischen Reiches, was mancher dort bis heute einfach echt schl…echt findet. Zweitens sind nach Auskunft des Künstlers die archaischen Keramiken in Bulgariens Badezimmern weithin verbreitet. Und drittens versickern in Bulgarien jedes Jahr viele Millionen Euro Brüsseler Fördermittel in privaten Kanälen. Regelrecht weggespültes Geld, sozusagen.

Der bulgarische Botschafter freilich fordert, das Klo müsse verschwinden, und die Tschechen wollen ihr Geld zurück. Mittlerweile ist die Skulptur mit einem Tschador-artigen schwarzen Tuch überhängt. Schade. Bisher hatten wir gedacht, das europäische Imperium unterscheide sich vom Osmanenreich gerade dadurch, dass die Kunstfreiheit der Nationalheiligkeit vorgeht.

 

Niemand hat die Absicht…

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… Weblogs zu regulieren!, stellt die Europaabgeordnete Marianne Mikko jetzt mal klar.

Die arme Estin. Hasstiraden von Bloggern aus ganz Europa sind ihr in den letzten Tagen entgegengeflogen. Denn die Sozialdemokratin hatte sich beklagt, dass in Weblogs oftmals „bösartig“ und mit „undurchschaubaren Motiven“ über die Europäische Union berichtet werde. „Lukaschenka!“, „Ceaucescu!“ habe der Cyberspace sie daraufhin getauft, berichtet sie. „Das war schon hart.“

Natürlich darf Frau Mikko (sie war zwanzig Jahre lang selbst Journalistin) die Inhalte von Wegblogs kritisieren. Wenn sie allerdings gleichzeitig einen Bericht für das Europaparlament verfasst, in dem davon die Rede ist, über den „Status“ von Weblogs müsse diskutiert werden, dann bekommt ihre Kritik gleich einen etwas anderen, nämlich doch regulatorischen Klang.

Nicht gerade beruhigend wirkt auch die Mitteilung der Grünen-Fraktion, das EU-Parlament sei gegen die „übermäßige“ Regulierung von Blogs.

Mit 307 zu 262 hat das Europäische Parlament gestern Mikkos Bericht über „Gemeinnützige Bürger- und Alternativmedien in Europa“ angenommen. Das Papier hält fest, dass Blogger einen Beitrag zur Meinungsvielfalt leisten. Die Abgeordneten fordern in der Resolution aber auch eine Diskussion darüber, was Blogger eigentlich sind (Journalisten oder nicht?) und welche Rechte und Pflichten für sie gelten sollten.

Nun könnte man meinen, diese Fragen seien durch die Wirklichkeit längst beantwortet.

Natürlich sind Blogger Journalisten, wenn sie regelmäßig und mit dem Anspruch auf Information über das Weltgeschehen berichten. Ebenso natürlich sagt das noch nichts über die journalistische Qualität ihrer Arbeit aus. In aller Regel wird die schlechter sein als die von professionellen Journalisten, weil viele Hobby-Blogger a) nicht gelernt haben zu recherchieren und zu schreiben und b) ihre Beiträge nicht von anderen Redakteuren gegengelesen und kritisch geprüft werden, bevor sie an die Öffentlichkeit gehen (mindestens Punkt b gilt übrigens auch für diesen Blog).
Andererseits gibt es Blogger, die in ihrem Spezialgebiet besser informiert sind und beeindruckender arbeiten als bezahlte Journalisten. Einen formalen Anspruch auf Anerkennung als Journalisten, sprich auf einen Presseausweis, haben sie freilich nur dann, wenn sie ihren regelmäßigen Lebensunterhalt aus der Bloggerei bestreiten.

Deshalb nichts wie rübergehuscht ins Parlament und Frau Mikko ein paar Fragen gestellt.

Also, Frau Mikko, was genau wollen Sie eigentlich regeln?

„Ich will darauf aufmerksam machen, dass Weblogs sehr trickreich sein können. Und dass sie bisweilen problematisch agieren, wenn es etwas darum geht, Quellen zu überprüfen oder Informanten geheim zu halten. Das beunruhigt mich ein bisschen. Sie wissen doch, wie viel Macht ein Wort haben kann. Worte können Menschen töten.“

Das stimmt. Aber damit das nicht passiert, gibt es doch längst Regeln in Europas Nationalstaaten, sogar solche, die die Freiheit des Wortes einschränken. Wer einen anderen beleidigt oder verleumdet, macht sich strafbar. Wer zur Gewalt aufruft, macht sich strafbar. Wer seine Informanten verrät, knippst sich als Journalist selber aus. Wer Unsinn berichtet, über den wird berichtet, dass er Unsinn berichtet.

Also, wo ist der Regelungsbedarf?

„Ich rufe dazu auf, dass Blogger wie menschliche Wesen handeln“, antwortet Mikko. „Ich rufe zum Humanismus auf!“

Das ist nie verkehrt. Gleichwohl provoziert es beim kritischen Blogger die Frage: Hat das Europaparlament eigentlich nichts Dringenderes zu tun? Zumal man dreimal raten darf, was aus Mikkos Bericht am Ende werden wird. Die Kommission wird ihn zur Kenntnis nehmen. Und der Rat (also die europäischen Regierungen) wird sich wahrscheinlich niemals mit dem Thema beschäftigen.

Zurück bleibt wieder einmal der Eindruck, dass sich das Europaparlament bisweilen benimmt wie eine NGO: Mit viel Tamtam „Bewusstsein schaffen“ für Probleme, und zwar im relativ sicheren Wissen, dass aus dem Tamtam nie Politik wird.

„Schreiben“, hat Mark Twain einmal gesagt, „ist gar nicht so schwer. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.“

Vielleicht sollte das Europaparlament diese journalistische Weisheit beherzigen, bevor es seine nächste Medieninitiative startet.

 

Blackbox Brüssel

Die Bundesregierung möchte an diesem Freitag wichtige Vorschriften des Strafprozessrechts ändern. Sie sagt der Öffentlichkeit allerdings nicht, welche genau. Denn die Änderungen sollen über die Bande des Brüsseler EU-Rats nach Deutschland gespielt werden. Und da gelten leider andere Transparenzregeln als im Bundestag. Zum Beispiel die, dass die Angelegenheit vorerst nicht für die Presse bestimmt ist.

Darum geht es: Der Europäischen Haftbefehl erleichert bereits heute die Auslieferung Verdächtiger bei bestimmten schweren Straftaten innerhalb der EU. Allerdings sind noch ein paar Verfahrensregeln offen. Diejenige zum Beispiel, wie die 27 Mitgliedsstaaten mit Strafurteilen umgehen wollen, die in dem einen oder anderen Land in Abwesenheit des Angeklagten ergangen sind.

Zwar werden schon seit dem Rat von Tampere 1999 innerhalb Europas Geldstrafen und Gerichtsbeschlüsse wechselseitig anerkannt. Doch das Strafprozessrecht, eine hochgradig grundrechtsrelevante Materie, ist in den EU-Mitgliedsländern noch immer höchst unterschiedlich ausgestaltet. Von der unterscheidlichen Integrität der Justizapparate ganz zu schweigen. Gleichwohl soll auch hier „harmonisiert“ werden, wie es im EU-Sprech heißt. Leider heißt das in der Praxis bisweilen, dass die europäischen Regierungen nur so tun, als herrschten überall vergleichbare Standards.

Möchten wir wirklich, dass in Italien, Bulgarien oder Rumänien erwirkte Strafurteile in Deutschland anerkannt werden, selbst wenn der Angeklagte (vielleicht ja mal ein deutscher Staatsbürger) gar nicht im Prozess anwesend war? Möchte das die Bundesregierung?

Offenbar. Denn laut Auskunft aus der EU-Kommission hat sie zusammen mit unter anderem Frankreich und Großbritannien die Initiative zu in absentia-Urteilen in den Europäischen Rat eingebracht.

Es droht eine Aufweichung deutscher Prozessrechtsgarantien durch die Hintertür.

In Deutschland ist ein Prozess gegen einen abwesenden Angeklagten nur in eng umrissenen Ausnahmefällen möglich (der Grundsatz der deutschen Strafprozessordnung lautet: „Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.“, § 230 Abs. 1). Unbedingte Freiheitsstrafen in Abwesenheit zu verhängen, ist in Deutschland gänzlich undenkbar. Abwesenheitsurteile, die im Ausland ergangen sind, werden in Deutschland bisher ebenfalls nur in seltenen Ausnahmefällen und nach intensiver Einzelfallprüfung anerkannt; zum Beispiel dann, wenn ein Angeklagter nach einem Geständnis vor der Gerichtsverhandlung geflohen ist.

Nun aber sollen nach der Vorstellung der slowenischen Ratspräsidentschaft Abwesenheitsurteile in allen Mitgliedsstaaten vollstreckbar werden. Im Vorschlag der slowenischen Ratspräsidentschaft heißt es:

Once adopted, the Framework Decision will overcome legal uncertainty over the mutual recognition of judgments rendered in the absence of the person concerned (in absentia). In addition to new information obligations, the text will establish that member states should recognise judgments rendered in the absence of the person concerned where he or she has been given a right to a retrial.

Mit anderen Worten: Solange der Angeklagte die Möglichkeit hat, später in Berufung zu gehen, sollen Abwesenheitsurteile gegen ihn erlaubt sein. – Dies wäre für deutsche Staatsbürger ein eklatanter Rückschritt im Rechtsschutz.

Welche Legislativvorschläge die Bundesregierung nun genau in die Ratssitzung am Freitag einbringen will, ist trotz dreifacher Nachfrage beim Bundesjustizministerium nicht zu erfahren.

Ein dortiger Pressesprecher gibt lediglich die Auskunft, die Bundesregierung strebe eine „Stärkung der Bürgerrechte“ an. Wie die Bürgerrechte allerdings stärker geschützt werden können als die durch bisherige Praxis der Einzelfallprüfung, kann der Sprecher nicht erläutern. Er bittet, die Pressekonferenz nach der Ratstagung abzuwarten.

Auf den Einwand, es sei aber wichtig zu wissen, was die Bundesregierung plane, bevor diese Ideen im Rat abgesegnet werden, entgegnet der Sprecher, das könne er verstehen. Helfen könne er aber nicht.

Verglichen mit Deutschland wäre das ungefähr so, als würde eine der großen Fraktionen im Bundestag der Öffentlichkeit den Inhalt eines Gesetzes vorenthalten, über welches das Parlament noch in dieser Woche abstimmen will. Mit anderen Worten: undenkbar. Die Auswirkungen des in Rede stehenden Brüsseler Verfahrens sind aber fast diesselben wie nationale Gesetzgebung. Denn wenn der Rat dem Rahmenbeschluss zu den Abwesenheitsurteilen zustimmt, dann müssen dessen Anweisungen in nationales Recht gegossen werden – egal ob der Bundestag dies möchte oder nicht.

Die Öffentlichkeit hatte damit nicht die Möglichkeit, potentiell einschneidende Veränderungen im deutschen Strafprozessrecht kritisch zu diskutieren.

Der Sprecher des Ministerium sagt, er verstehe, dass die Lage aus Sicht eines Journalisten „jetzt unbefriedigend“ sein müsse. Aber das führe dann zu einer „Grundsatzdiskussion“ über europäische Rechtssetzung.

Das tut sie in der Tat. Denn solche Mauschelmethoden sind Mitschuld daran, dass die Gesetzgebung aus Brüssel in den Ruf geraten ist, unter dem Radarschirm der Öffentlichkeit durchgedrückt zu werden. Falls der Lissabon-Vertrag, die ehemalige „Europäische Verfassung“, am 1. Januar 2009 in Kraft tritt, wird sich immerhin eines ändern: Die Ratssitzungen der Minister werden öffentlich.

Überrollt werden von innovativer Rechtspolitik kann die Öffentlichkeit dann freilich auch weiterhin. „Wir werden uns wohl daran gewöhnen müssen, uns von lieb gewordenen Rechtsstandards zu verabschieden“, sagt der FDP-Europaabgeordnete Alexander Alvaro.

Müssen wir das? Was wäre eigentlich im deutschen Blätterwald los, wenn ein Bundesminister einen solch deutlichen Satz von sich geben würde?

 

Muslime sind die besseren Katholiken – sagen sie in Dublin

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Lange ist es noch nicht her, da witzelte manch ein Ire, mit muslimischen Einwanderern habe man auf der Insel keine Probleme – solange sie bloß katholische Muslime seien und keine protestantischen. Mittlerweile hat man sich besser kennen gelernt. Und der Witz ist gar keiner mehr.

Schätzungsweise 32 500 Muslime leben heute in Irland, viele von ihnen sind Flüchtlinge aus dem Irak. Damit stellen sie nach den Anhängern der Römisch-katholischen Kirche und der Church of Ireland die drittgrößte Glaubensgruppe im Land. Presbyterianer und Methodisten sind auf den vierten Platz verdrängt – was auf überzeugte Papisten schon erfrischend wirken kann.
Regelrecht überschwänglich aber schreibt nun der Religionsreporter der Irish Times, dass der muslimische Glaube als er eine der abrahamitischen Religionen „in einigen Bereichen den [katholischen] Hauptrichtungskirchen recht ähnlich“ sei. So habe der Imam des Islamischen Kulturzentrums von Dublin erklärt, Verhütungsmittel seien nur zulässig, um Kinder zu planen und „die Gesundheit der Frau“ zu schützen. Abtreibung sei nur erlaubt, wenn das Leben der Mutter in Gefahr sei. Zudem sei der Islam „absolut gegen Homosexualität, gleichgeschlechtliche Ehen und Sex vor der Ehe.“

Vereint zu sein in Rückständigkeit – glücklicher Weise begreifen das nicht alle Iren als Integrationsfortschritt. Aber immerhin, gemeinsame moralische Fundamente mögen eine gute Grundlage sein, sich gemeinsam vorwärts zu bewegen. Die irische Regierung ist sich mit den muslimischen Verbänden nämlich einig, dass der gegenseitige religiöse Respekt auch die soziale Anerkennung fördert. „Anderswo“, sagt der Dubliner Imam Hussein Halawa, „werden muslimische Asylbewerber in Lager gesteckt. Hier bekommen sie Bildungschancen.“

 

Brüsseler Entgrenzung

Manchmal lohnt es sich, im Kleingedruckten der Brüsseler Pressemitteilungen zu stöbern. So gab die slowenische Ratspräsidentschaft vor wenigen Tagen bekannt, sie habe vor, Verbalterrorismus hart zu bestrafen.

Es sei, so der slowenische Innenminister, der Wunsch einer Mehrheit der EU-Justizminister, bei der Änderung des Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung neben der Aufnahme neuer Straftatbestände wie Anwerbung und Ausbildung für terroristische Vorhaben auch bestimmte Äußerungen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu erfassen. Die Präsidentschaft wolle auf der nächsten Ratstagung im April zu einer gemeinsamen Ausrichtung kommen.

Der Rat ist der Teil des Brüsseler Apparats, der verbindliche Beschlüsse für alle Mitgliedsstaaten fasst.

Es gehe darum, „bestimmte Formen rassistischer Meinungsäußerungen und Fremdenfeindlichkeiten mit den Mitteln des Strafrechts“ zu bekämpfen, heißt es in der Mitteilung der Slowenen (Seite 14).

Dieses Vorhaben könnte wieder einmal eins von der Art sein, das die nationalen Parlamente in Aufregung versetzt – falls und wenn sie irgendwann davon Wind bekommen. Man stelle sich einmal vor: Künftig soll auch derjenige unter Terrorismusverdacht geraten, der dumme, ausländerfeindliche Sprüche klopft? Wollen wir das ernsthaft? Wollen wir, dass sich den Staatsanwälten das ganze Arsenal strafprozessualer Möglichkeiten (Telefon- und Videoüberwachung, Observation, siehe Paragraph 100a StPO) eröffnet, welches eine Straftat gegen die öffentliche Ordnung nach sich ziehen kann – nur weil jemand Stuss erzählt hat?

Vor allem aber: Braucht Deutschland eine solche Gesetzgebung? Schon heute ist Beleidigung ebenso strafbar wie die Äußerungen bestimmter Meinungen, sofern sie den öffentlichen Frieden zu gefährden geeignet sind (Volksverhetzung). Wo also ist die Lücke, die es zu stopfen gilt?

Hin und wieder ist es ratsam, Brüsseler Rechtsakte auf einen alten Grundsatz hin zu überprüfen, den niemand gerne in den Mund nimmt, weil er so furchtbar schwierig auszusprechen ist. Er lautet Subsidiarität. Und bedeutet, dass die EU nur das zu regeln hat, was europaeinheitlich geregelt werden muss.

Die Frage ist bloß, wer bestimmt, was am besten europaeinheitlich geregelt werden muss? Die nationalen Parlamente tun jedenfalls nicht viel, um die Definitionshoheit über diese Frage zu behalten. Im Gegenteil. Was richtig und wichtig für die europäische Integration sei, wird zunehmend in Brüssel entschieden.
Dies führt zu einer – sorry für das schwierige Wort – antisubsidiären Eigendynamik. Will sagen: Je vereinheitlichter Europa wird, desto leichter lässt sich jede neue Vereinheitlichung begründen. Argumentationstheoretisch könnte man sagen, dass sich die EU eine immer breitere Prämisse verschafft. Die Tatsache, dass a, b und c europaweit geregelt ist, dient als Rechtfertigung, demnächst auch noch d europaweit zu regeln. Oder, wie es im Umgangsdeutsch heißt, sowas kommt von sowas. Eine solche schleichende Selbstbegründungsbewegung führt das Subsidiaritätsprinzip irgendwann ab absurdum.

(Dazu eine aktuelle Anekdote:
Auf dem gestrigen Brüsseler Wahlkampfauftakt der EVP-Fraktion tauschten sich an einem Bistrotisch zwei britische konservative Europaparlamentarier über die Grundsatzreden aus, die Minuten zuvor ihre Parteiführer vor großem Publikum erläutert hatten.
Der Kommentar des einen lautete: „Wir verkaufen den Leuten mit dieser Verfassung die Illusion eines sicheren Europas. In Wahrheit geht es darum, dass die Nationen immer mehr Hoheitsrechte abtreten sollen.“
Die Antwort seines Parteikollegen: „Ja, natürlich.“
An diesem Punkt gab sich der hinzugetretene Gast als deutscher Journalist zu erkennen.
„Oh. Sie schreiben das hoffentlich nicht, oder?“
Sicher nicht mit Namensnennung, entgegnete ich, zugleich lobend, dass ich diese Offenheit durchaus erfrischend fände.
„Ja, wissen Sie“, sagte der Brite, „zwischen dem was wir in Brüssel sagen können und dem, was von uns an Äußerungen im Wahlkreis erwartet wird, öffnet sich manchmal eine Schere.“
Wenige Sekunden später hatte ich den Bistrotisch für mich allein.)

In der Terrorismusbekämpfung drängt sich längst der Eindruck auf, dass es den europäischen Innenministern nicht mehr um das Notwendige geht, sondern um das Mögliche.

Es gibt viel Sinnvolles, das Brüssel für ganz Europa festlegen sollte, weil es nicht nur um nationale Interessen geht, sondern um übergeordnete, um die des gesamten Kontinents. Dazu gehören Kleinigkeiten wie Wärmedämmvorschriften für Gebäude ebenso wie Größeres, etwa Regeln für freien Wettbewerb im Binnenmarkt.

Die Einschränkung von Bürgerrechten gehört ganz sicher nicht dazu.

 

Europa scannt seine Illegalen

Im Keller des Hauses einer Bekannten hier in Brüssel, in einem kleinen, fensterlosen Kabuff neben der Waschküche, lebt eine Südamerikanerin. Ihr Name steht nicht an der Haustür. Sie bügelt Hemden für einige der Nachbarn, bei anderen putzt sie. Für 10 Euro die Stunde. „Eigentlich ganz schön teuer für eine Illegale“, belehrte eine Mitbewohnerin meine Bekannte kurz nach dem Einzug.

Im belgischen RTL-Fernsehen trat unlängst ein Mann namens „Alex“ auf, der sich als Sprecher des Kommites für illegale Einwanderer zu erkennen gab. Er gab zu, ein Schwarzarbeiter zu sein. Der Moderator wollte von ihm wissen, ob er sein Chef Steuern und Sozialabgaben für ihn abführen würde, wenn er einen Aufenthaltstitel besitzen würde.

„Alex“ wirkte daraufhin etwas perplex. „Nein“, sagte er dann. „Ich bin mein eigener Chef. Ich habe sieben Angestellte.“

Unter anderen um solche Schattenwirtschaft künftig zu unterbinden, will Europas Sicherheitskommissar Franco Frattini jetzt allen Nicht-EU-Bürgern bei der Einreise in den Schengenraum biometrische Daten abnehmen.

In dieser Woche stellt Frattini seine Vorschläge zur verbesserten Einreisekontrolle vor. Er reagiert damit auf die Kehrstehe der inneuropäischen Reisefreiheit. Da die Grenzkontrollen zwischen den mittlerweile 22 Ländern des Schengenabkommens von 1995 weggefallen sind, haben die Behörden kaum noch eine Chance nachzuvollziehen, wo – und vor allem wie lange – sich Nicht-EU-Bürger in Europa aufhalten.

Bis 2015, schlägt Frattini nun vor, soll ein Einreiseregister erstellt werden, in dem Finger- und Gesichtsabdruckdaten von allen Einreisenden aus Drittstaaten gespeichert werden könnten.
Die Idee des Kommissars klingt erst einmal böse.
Biometrische Erfassung? Mit so etwas quälen doch nur terrorhysterische Amerikaner unschuldige Europäer!

In dieser Tonlage jedenfalls reagierten umgehend die europäischen Grünen. Die „massive Anhäufung von Daten nach dem Vorbild der USA“ werfe schwere bürgerrechtliche Bedenken auf und stehe in keinem Verhältnis zu ihrem Ertrag. „Um zu wissen, wie viele legal eingereiste Besucher illegal in der EU bleiben, reicht auch ein Papierformular“, schreiben die Grünen in einer Pressemitteilung. Als würden die Betreffenden dergleichen ausfüllen. Zudem geht es nicht darum zu wissen, wie viele Menschen illegal in der EU bleiben. Sondern darum, diese Zahl zu senken.

Hat Europa – gerade wenn es seine Reisefreiheit im Inneren aufrechterhalten will – schließlich nicht ein berechtigtes Interesse daran, kontrollieren zu können, wer sich in seinen Grenzen aufhält? Wenn Einreisende künftigt Fingerabdrücke hinterlassen müssten, gäbe dies den Behörden immerhin die Möglichkeit, notfalls auch ohne Personaldokumente überprüfen zu können, ob der Aufenthalt von Zugereisten (noch) legal ist.
Die große Mehrheitsmeinung aller euopäischen Regierungen ist es, Zuwanderung nur dann zuzulassen, wenn es entweder um hochqualifizierte Manager oder Facharbeitskräfte handelt, um echte Asylsuchende oder es darum geht, Familien zusammen zu führen.

Einmal in den Schengenraum eingereist können illegale Einwanderer oder Kriminelle bisher, wenn sie es denn darauf anlegen, trefflich verstecken spielen mit den Sicherheitsbehörden. Droht ihr dreimonatiges Visum für ein Mitgliedsland der EU abzulaufen, können sie sich unbemerkt in ein Nachbarland absetzen, wo sie dann untertauchen oder schwarz arbeiten. „Overstayers“ heißen diese Kandidaten im Behördenjargon. Die Süddeutsche Zeitung zitiert heute Schätzungen, wonach sowohl in Amerika wie auch in Europa 40 bis 50 Prozent aller illegalen Einwanderer auf diese Weise unerlaubt im Land bleiben.
Die EU-Kommission geht davon aus, dass dies im Jahr 2006 etwa 8 Millionen Menschen waren, 80 Prozent davon im Schengen-Raum. „Uns geht es wie dem Hotelmanager, der zwar sieht, wie seine Gäste einchecken, aber nicht mitkriegt, ob sie auch wieder ausreisen“, zitiert die SZ weiter Frank Paul, der bei der EU-Kommission zuständig ist für die technische Grenzkontrolle.
Die EU will bis 2013 170 Millionen Euro ausgeben, um ihre 91 000 km langen Land- und Seegrenzen dichter zu kontrollieren.

Möglich ist natürlich auch, dass Einwanderer später einfach den Pass wegwerfen, mit dem sie eingereist sind. Dann ist für die Behörden nicht nachvollziehbar, wann sie eingereist sind und wie lange sie sich schon – wie etwa so manche Kellerbewohnerin in Brüssel – in Europa aufhalten.

Oder aber sie sind – die bedenklichste Variante, wenn sie weniger harmlosen Beschäftigungen nachgehen wollen als Hemdenbügeln – schon mit gefälschten Dokumenten eingereist. Auch dann können sie sich ungestört von Madrid bis Warschau bewegen. Schengen ist eben auch für dunkle Geschäftsmänner ein Geschenk.
„Die einzigen, die vom Binnenmarkt in vollem Umfang profitieren, sind die Gangster und Banditen. Die haben verstanden, dass sie ihr Gewerbe über ganz Europa ungehindert ausdehnen können“, sagt selbst Mr. Maastricht, der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker.

Deswegen sollte es nicht gleich sämtliche vorhersehbaren Abwehrreflexe auslösen, wenn Frattini ein „Entry-Exit-System“ fordert.

Die Frage ist aber in der Tat, ob seine Ideen verhältnismäßig sind.

Sämtlichen Einreisenden Fingerabdrücke abzunehmen, auch solchen, die kein Visum benötigen, ist ein schwerwiegender Eingriff in die Bürgerrechte und öffnet zahlreichenden Missbrauchsmöglichkeiten die Tür (siehe die treffende Argumentation von Juli Zeh in ihrer Verfassungsbeschwerde gegen den „ePass“). Kann die EU wirklich sicher stellen, dass die Fingerabdrücke nicht in die falschen Hände geraten? Gibt es keine mildere Mitteln, um denselben Effekt zu erzielen? Zum Beispiel, Einreisende einfach zu fotografieren und sie eine Schriftprobe abgeben zu lassen? Könnte es womöglich auch helfen, wenn die EU sich – darauf weisen die Grünen heute zu Recht hin – konzertierter mit einer vernünftigen Einwanderungspolitik beschäftigen würde?

Mit seiner Idee einer Bluecard für Europa stieß Frattini allerdings im Herbst vergangenen Jahres auf den geballten Widerstand der großen Mitgliedsstaaten.

Die Frage ist also: Wie repressiv darf die EU gegenüber Nicht-Europäern auftreten, um ihre innere Freiheit zu schützen?
Diese Frage stellen wir beständig Richtung Amerika.
Warum stellen wir sie zur Abwechslung nicht einmal uns selber?

Schließlich sind, wie die belgische Ministerin für Migration, Annemarie Turtelboom am 30.Mai 2008 in der IHT feststellte, „in den vergangenen Jahren mehr Einwanderer nach Europa gekommen als in die USA und nach Kanada zusammen. Es halten sich derzeit schätzungsweise acht Millionen illegale Einwanderer auf dem Kontinent auf, etwa zwei Drittel mehr als in Nordamerika.“ Für das, was sie hier oft erwartet, findet die Ministerin drastische Worte: „Wenn ein Sohn Afrikas Europa erreicht, wird er meist eine illegale Unterkunft von Dickenscher Verkommenheit finden, die gewöhnlich von einem skrupellosen Immigranten unterhalten wird, der viele Jahre hergekommen ist. Für seine Arneit wird er zwischen 2 und 3 Euro erhalten, zumeist in irgend einer dreckigen, illegalen Fabrik. Um ihre Kinder zu ernähren, müssen sich Frauen um einen Job als Haushaltshilfe bemühen oder sich sogar der Prostitution zuwenden.“

Über Frattinis Vorschlag müssen übrigens die Innenminister aller EU-Länder entscheiden, und zwar mit Einstimmigkeit. Sollten die nationalen Parlamente etwas gegen die Pläne haben, dann sollten sie sich also ganz schnell zu Wort melden.

Die belgische Ministerin hat einen Vorschlag für eine klare Priorität: „Wir sollten als erstes dafür sorgen, dass die Anzahl der legalen Einwanderer höher wird als die der illegalen.“