Eigentlich beginnt das chinesische Frühlingsfest erst in neun Tagen. Doch schon jetzt setzen sich in der Volksrepublik wieder die alljährlich größten Wanderungsströme der Welt in Bewegung. Wie die englischsprachige Auflage von Chinas auflagenstärkster Zeitung Global Times berichtet, werden in den kommenden drei Wochen mehr als 3,4 Milliarden Zug-, Flug- und Bahnreisen stattfinden. Flughäfen und Bahnhöfe erleben seit Tagen Massenanstürme, und im ganzen Land staut sich auf den vielerorts erst vor Kurzem fertiggestellten Autobahnverbindungen der Verkehr. Auf dem Bahnhof in der zentralchinesischen Stadt Xi’an etwa hat die Stadtverwaltung bereits zusätzliche Großzelte aufgestellt, um die vielen Reisenden zu bewältigen. Von anderen Städten wird Ähnliches berichtet.
Was sich bereits in den vergangenen Jahren abzeichnete, dieses Mal aber wahrscheinlich alles Bisherige übertreffen dürfte: Chinas regelmäßige Völkerwanderung findet nicht mehr nur innerhalb der Landesgrenzen statt. Anlässlich des Frühlingsfestes bereisen die Chinesen inzwischen die ganze Welt. Seit Wochen sind nicht nur Zugtickets nach Hefei, Changsha oder Jingdezhen schwer erhältlich. Tickets für Flüge nach Phuket, Sydney, Singapur, Los Angeles, Vancouver, New York und London gelten ebenso als ausverkauft.
Dabei galten die Feiertage rund um das chinesische Neujahr eigentlich als Familienfest. Vor allem die Industrialisierung der vergangenen 20 Jahre gerade im Süden und Osten des Landes hatte dazu geführt, dass die meisten Großfamilien nicht mehr an einem Ort leben. Die Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter sparten deswegen regelmäßig ihren gesamten Jahresurlaub an, um zum chinesischen Frühlingsfest dann für zwei, drei Wochen von ihrer Arbeit in den Städten nach Hause aufs Land zu fahren. Und da zudem oft ihre Kinder noch bei den Großeltern aufwuchsen, kündigten viele von ihnen vor dem Frühlingsfest komplett ihre Arbeit, um ein paar Wochen länger mit ihrem Nachwuchs verbringen zu können. Mehr als ein Drittel aller Chinesen verfuhren so. Bauherren und Unternehmer planten die lange Abwesenheit ihrer Arbeiter zu dieser Jahreszeit fest ein. Allen war klar: Das Frühlingsfest gilt der Familie.
Doch das ändert sich nun. Immer mehr Wanderarbeiter können ihre Kinder inzwischen das ganze Jahr über zu sich in die Städte holen. Und im Zuge der Urbanisierung wächst die städtische Mittelschicht. Damit verändert sich auch das Reiseverhalten. Mit steigendem Wohlstand, aber auch aufgrund der kleineren Familien im Zuge der Ein-Kind-Politik, steht für immer mehr Chinesen zum Frühlingsfest nicht mehr die Großfamilie im Mittelpunkt, sondern das Reisen in die Welt.
Schon sehen Experten das Ende der innerchinesischen Reisewelle während der chinesischen Neujahrsfeiertage. Das hätte durchaus seine guten Seiten: Die Ausweitung des Reisens auf die gesamte Welt würde den alljährlichen Wahn auf den chinesischen Bahnhöfen etwas abmildern. Touristenorte in aller Welt wiederum können sich nicht mehr nur über Weihnachten, den Osterfeiertagen und im Sommer über sprudelnde Einnahmen freuen, sondern erleben mit den reise- und konsumfreudigen Chinesen eine weitere Hauptreisezeit schon Anfang Februar.