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China verabschiedet sich vom Wachstumswahn

 

Vielleicht war es der Rekordsmog vom Januar in Peking. Vielleicht war es schlicht ökonomischer Sachverstand, der Chinas Führung umdenken ließ. Erstmals sagt sie öffentlich, dass doppelstellige Wachstumsraten einer Volkswirtschaft auf Dauer nicht bekommen.

Bei seiner Abschiedsrede am Dienstag auf dem Nationalen Volkskongress (NVK) hat Chinas scheidender Premierminister Wen Jiabao zum ersten Mal eine Abkehr vom „Wachstum um jeden Preis“ gefordert. Chinas Führung werde sich künftig mehr um das Wohlbefinden der Menschen und um die Umwelt kümmern, sagte Wen zum Auftakt der jährlichen Sitzung des Kongresses. Sein wichtigster Satz: „Sozialprogramme werden künftig Priorität erhalten, wirtschaftliche Entwicklungsvorhaben dafür zurück genommen.“ Chinas Führung werde „das Sichern und Verbessern des Wohlbefindens der Menschen zum Ausgangspunkt und Ziel aller Regierungsarbeit“ machen. Es war der letzte Regierungsbericht des Premiers. An diesem Dienstag übergibt er nach zehnjähriger Amtszeit an seinen Nachfolger Li Keqiang.

Während Wens Amtszeit war Chinas Wirtschaft fast jedes Jahr zweistellig gewachsen. Im vergangenen Jahr betrug das Wachstum hingegen nur noch 7,8 Prozent. Für dieses Jahr strebt die Regierung eine Rate von nur noch 7,5 Prozent an. Das Wachstumsziel ist mehr als Prognose. „Es ist eher ein Signal an die Provinzpolitiker, dass die Zeiten zweistelliger Wachstumsraten vorbei sind und sie sich weniger auf große Investitionsprojekte verlassen dürfen“, schreibt das Wall Street Journal.

Tatsächlich hatten die hohen Wachstumsraten der Vergangenheit einige Nebenwirkungen. Nicht nur der Immobilienmarkt drohte zu überhitzen. Die vielen neuen Baustellen, Fabriken und Autos haben auch die ohnehin schlechten Luftwerte in weiten Teilen des Landes weiter in die Höhe getrieben. „Die Wirtschaftsentwicklung läuft zunehmend dem Umweltschutz entgegen“, sagte Wen in seiner Rede. Zwar habe sich der Wohlstand in den vergangenen fünf Jahren nahezu verdoppelt. Dennoch sei die wirtschaftliche Entwicklung in China „unausgewogen, unkoordiniert und nicht aufrecht zu erhalten“. Es gebe mehr Überkapazitäten, auch die Unternehmen seien oft zu wenig innovativ. Zudem sei die Kluft zwischen Arm und Reich zu groß geworden. Es gebe mehr soziale Probleme als früher.

Aus Sicht von Chinas Führung sind das alles Gründe, den Märkten nicht völlig freie Hand zu lassen. Immer mehr Fabriken und immer mehr Produktion, das war einmal. Stattdessen sollen die Löhne steigen. Mehr Geld soll auch in Bildung, sozialen Wohnungsbau, das Gesundheitssystem und den Aufbau einer Alters- und Krankenversorgung fließen. Insgesamt will die Führung die Staatsausgaben um rund acht Prozent auf umgerechnet etwa 860 Milliarden Euro erhöhen. Der chinesische Staat kann sich das leisten. Der Anteil des Defizits an der jährlichen Wirtschaftsleistung liegt bei gerade einmal zwei Prozent.

Für eine so große Volkswirtschaft wie China sind auch einstellige Wachstumsraten kein Beinbruch. Ein Anstieg der Wirtschaftsleistung um 7,5 Prozent für 2013 bedeutet in absoluten Zahlen noch immer ein Plus von fast vier Billionen Yuan (493 Milliarden Euro). Zum Vergleich: 2010 wuchs Chinas Wirtschaft mit 10,3 Prozent doppelstellig ebenfalls um 4,1 Billionen Yuan. Das heißt: In absoluten Zahlen ist das Wachstum 2013 gar nicht so viel geringer als im Boomjahr 2010.