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Bangladesch kann von China lernen

 

Zustände, wie sie die Katastrophe um die eingestürzte Textilfabrik in Bangladesch offenbaren, sind auch vielen Chinesen bekannt: Illegal errichtete Fabrikanlagen, unzureichende Brandschutzmaßnahmen, nicht selten sind die Arbeiterinnen und Arbeiter giftigen Chemikalien schutzlos ausgesetzt. Hinzu kommen Hungerlöhne, Akkordarbeit und eine schlechte soziale Absicherung. Niemand in China beklagt deshalb, dass die Textilindustrie nach und nach abwandert.

Noch ist die Volksrepublik zwar der größte Textilproduzent der Welt. Doch Bangladesch hat in den vergangenen Jahren Marktanteile hinzugewonnen. Das Land ist mittlerweile der zweitgrößte Exporteur. Vor allem die steigenden Löhne in China haben die weltweite Textilindustrie in das verarmte Land am Gangesdelta getrieben. Doch nicht nur deshalb produzieren Nike, H&M, Zara und Esprit seltener in China. Anders als noch vor ein paar Jahren werden in den chinesischen Fabriken häufiger die Arbeitsschutzbestimmungen eingehalten. Das treibt die Kosten für die internationale Kleidungsindustrie in die Höhe.

Mehr als 2.000 Gesetze und Bestimmungen beschäftigen sich nach offizieller Lesart im chinesischen Arbeitsrecht mit dem Arbeitsschutz. Nach Angaben der chinesischen Behörden hat die Führung in Peking landesweit 2.700 Beschwerdestellen mit mehr als 30.000 Angestellten eingerichtet, an die sich betroffene Arbeitnehmer wenden können. Verstoßen Unternehmen gegen diese Gesetze, haben die Beschwerdestellen zwar weiterhin nicht die Schlagkraft westlicher Arbeitnehmervertretungen. Unabhängige Gewerkschaften sind in China noch immer verboten. Solange das so ist, werden sich Arbeitnehmerrechte nie komplett durchsetzen lassen.

Dennoch gibt es Fortschritte. Wer neue Fabrikhallen errichtet, muss inzwischen Sicherheits- und Arbeitsrechtsstandards einhalten, wie sie in westlichen Industriestaaten üblich sind. Die Arbeitsräume sind klimatisiert, die sanitären Anlagen müssen den nationalen Hygienestandards entsprechen. Wenn Arbeiter mit gesundheitsschädigenden Gasen und Materialien in Berührung kommen, müssen die Arbeitgeber für Schutz sorgen. Feuerschutzübungen sind heute die Regel. Auch der Brandschutz folgt heute höheren Standards.

Inzwischen gibt es kaum eine Fabrik in China, die jünger als zwei Jahre ist, und die nicht über moderne Kantinen und Ruheräume verfügt. Beim Solarpanelenhersteller Yingli in der Stadt Baoan etwa können die Mitarbeiter ihre Mittagspause in einem Park mit See verbringen. Im Werk des Baumaschinenherstellers Sany in der Stadt Changsha gibt es Ruheoasen mit Springbrunnen in der Fabrikhalle selbst. Sogar morgendliche Gymnastikeinheiten gehören in vielen Betrieben zum Arbeitsprogramm. Yingli und Sany sind derzeit noch Vorzeigeunternehmen. Aber sie setzen Standards, an die sich Unternehmer künftig landesweit messen wollen.

Das Kalkül der Unternehmer: Wenn die Arbeitszufriedenheit steigt, werden auch die Produkte hochwertiger. Chinas Unternehmer wollen weg von Billigprodukten, hin zu qualitativen Industrieprodukten. Sie lernen, dass es sinnvoll ist, gute Mitarbeiter zu halten. Dafür braucht es gute Arbeitsbedingungen. In der internationalen Textilindustrie sind die Spielregeln anders. Für viele der Konzerne spielt es keine Rolle, ob zufriedene Arbeiterinnen in den Fabrikhallen die Jeanshosen, Hemden, T-Shirts und Sneakers zusammennähen. Oder ob sie zu Tausenden in stickigen Hallen zusammengepfercht und in Akkordarbeit Kleidungsstücke für den Massenmarkt anfertigen. Der Preis entscheidet.

Unter Chinas Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern ist die Arbeit in den Textilfabriken mittlerweile verpönt. Nur der Bergbau genießt einen noch miserableren Ruf. Aber auch die Behörden verlieren ihr Interesse an der Textilindustrie. Viele von ihnen sind zu der Erkenntnis gekommen, dass die Umweltkosten, aber auch die Sozialkosten, sehr viel höher sind als die Steuereinnahmen, die die Konzerne schaffen.

Bangladesch ist heute dort, wo China einst war. Hoffentlich wird es bald dort sein, wo China heute ist.