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Wenn die Wanderarbeiter einfach nach Hause gehen

 

Die Aktienkurse fallen. Die Baustellen stehen still, viele Maschinen in den Industrieanlagen sind ausgeschaltet. Wie schlecht steht es um die chinesische Wirtschaft? Jüngster Indikator: der Einkaufsmanagerindex der chinesischen Industrie. Er fiel im Januar auf 49,6 Punkte. Ein Wert unter 50 Punkten heißt zwar nicht, dass die Wirtschaft schrumpft, signalisiert aber, dass die befragten Einkaufsmanager die wirtschaftlichen Aussichten für die nächste Zeit schlechter beurteilen als momentan.

Die miserablen Daten aus China werden sogar schon als Hauptursache für die jüngsten Turbulenzen auf den Weltfinanzplätzen gesehen. Zahlreiche Währungen der Schwellenländer sind vergangene Woche ins Trudeln geraten. Dax, Nikkei, Hang Seng und Dow Jones sind um mehrere Prozentpunkte gefallen. Schon wird der Niedergang der chinesischen Wirtschaft befürchtet. Ist es wirklich so schlimm, wie die Zahlen suggerieren? Ja, das ist es. Aber das war in den vergangenen Jahren um diese Zeit auch schon so.

Grund für den jährlichen Durchhänger ist das chinesische Frühlingsfest, das sich nach dem Mondkalender orientiert und in diesem Jahr auf Ende Januar und die erste Februarwoche fällt. Es ist das wichtigste Fest der Chinesen, an dem die Großfamilie zusammenkommt, üppig speist, Mahjong spielt und den Ahnen ehrt. In diesem Jahr beginnt es am Donnerstag mit dem Neujahrsvorabend (Chuxi). Am Freitag ist Neujahr (Chuyi). Die Feiertage enden 15 Tage später mit dem Laternenfest (Yuanxiao), an dem Klößchen aus klebrigem Reis mit schwarzer Sesamfüllung gegessen und überall auf den Straßen Lichter aufgehängt werden, um die bösen Geister zu vertreiben.

Das wirtschaftliche Leben in der Volksrepublik steht rund um das Frühlingsfest in weiten Teilen still. Feiertage, an dem alles ruht, gibt es in Deutschland und anderswo etwa zu Weihnachten und Ostern auch. Doch was das Frühlingsfest in China zu einer unberechenbare Größe macht: der unzureichend geregelte Arbeitsmarkt der rund 250 Millionen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter.

Weil unmittelbar vor und nach den Neujahrsfeiertagen Bahn-, Bus- und Flugtickets nur schwer erhältlich sind, beginnen Hundertmillionen von Wanderarbeitern schon Wochen vor dem eigentlichen Fest die Baustellen und Fabriken zu verlassen. Sie wollen vor dem allgemeinen Reiseansturm in ihre Heimatdörfer zurückkehren. Regulär Beschäftigte haben der offiziellen Regel nach zehn Tage frei und müssen für zusätzliche freie Tage Urlaub beantragen. Wanderarbeiter hingegen, die meist ohnehin über keinen Arbeitsvertrag verfügen, erscheinen einfach nicht mehr. Sie verlassen die Fabrikhallen, wann sie es für richtig halten und kehren zurück, wenn es für sie günstig erscheint. In dieser Zeit erhalten sie freilich auch keinen Lohn. Dennoch bleiben nicht Wenige viele Wochen der Arbeit fern. Für viele ist es die einzige Zeit im Jahr, in der sie ihre Eltern, Geschwister und Kinder zu Gesicht bekommen.

Das macht den Arbeitsmarkt für den Arbeitgeber zwar äußerst flexibel, zugleich aber auch höchst unberechenbar. Die meisten Entlassungswellen, die China seit Einführung der Marktwirtschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten erlebt hat, erfolgten rund um das Frühlingsfest. Inzwischen ist jedoch zu beobachten, dass aufgrund des zunehmenden Arbeitskräftemangels viele Arbeitgeber freundlicher werden und sich mehr um ihre Angestellten bemühen, je näher das Frühlingsfest naht. Sie befürchten, dass viele ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter nach den Feiertagen nicht mehr zu ihnen zurückkehren.

Das wiederum macht die Kalkulation für Unternehmer so schwierig. Werden die Einkaufsmanager im Januar nach ihren Geschäftsaussichten befragt, geben sie daher meist schlechte Werte an. Sie wissen schlicht nicht, wann genau die Arbeiterinnen und Arbeiter aus ihren Heimatdörfern zurückkehren und die Fabriken wieder auf Hochtouren laufen können.

Auch ohne diesen Sondereffekt sieht es 2013 mit Chinas Wirtschaft nicht mehr ganz so rosig aus wie etwa noch in den Jahren 2010 oder 2011, als die Wirtschaft zweistellig wuchs. Viele Unternehmen haben zu viel investiert und leiden nun unter Überkapazitäten. Auch der Absatz im Ausland stockt. Doch spätestens wenn ab Mitte März die meisten Wanderarbeiter zurückgekehrt sind, zeigen die Einkaufsmanager erfahrungsgemäß wieder sehr viel mehr Zuversicht. Die saisonbereinigten Zahlen sind dann völlig andere.