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Chinas Wirtschaftswunder geht weiter

 

Seit Wochen kursiert unter Ökonomen diese Zahl, nun ist sie offiziell: Chinas Ministerpräsident Li Keqiang hat zum Auftakt des diesjährigen Volkskongresses das Wachstumsziel gesenkt. Um nur noch „etwa 7 Prozent“ werde Chinas Wirtschaft in diesem Jahr wachsen, verkündete der Premier am Donnerstag in seinem Rechenschaftsbericht vor den knapp 3.000 Delegierten in der Großen Halle des Volkes. Dabei ist die chinesische Volkswirtschaft mit 7,4 Prozent bereits 2014 so langsam gewachsen wie seit fast einem Vierteljahrhundert nicht mehr.

Kommentatoren im In- und Ausland sehen wirtschaftlich düstere Zeiten auf China zukommen. Von „harter Landung“ ist die Rede und dem „Ende des Wirtschaftswunders“. Manche Beobachter sehen gar den Zusammenbruch der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt unmittelbar bevorstehen.

Von einem Crash ist China weit entfernt. Trotzdem stellt sich die Frage, wie es um das Land bestellt ist, wenn seine Wirtschaft nur noch halb so stark wächst wie im Jahr 2007, als das Wachstum 14 Prozent erreicht hat. Galten acht Prozent nicht vor Kurzem noch als Minimum, um den Arbeitsmarkt stabil zu halten?

Um die Antwort vorweg zu nehmen: Das Wirtschaftswunder geht weiter. Nur anders.

Danny Quah, Ökonomieprofessor an der renommierten London School of Economics, hat Chinas Wachstumszahlen der vergangenen Jahre verglichen und kommt zu dem Ergebnis, dass die chinesische Wirtschaft mit einer Wachstumsrate von 7,4 Prozent im vergangenen Jahr sogar einen höheren Zuwachs erzielt hat als vor neun Jahren. Damals lag der Anstieg bei zwölf Prozent.

Das klingt zunächst paradox. Die Erklärung: Quah betrachtet das tatsächlich erzielte Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die absolute Veränderung. 2005 lag das BIP bei 2,3 Billionen US-Dollar; das Plus von zwölf Prozent entsprach 274 Milliarden Dollar. Damals jubelte die ganze Welt über das sensationelle Wachstum. China galt als Boomland.

Behält Premier Li mit seiner Prognose von plus sieben Prozent Recht, dann wird die Volksrepublik in diesem Jahr eine um 790 Milliarden Dollar höhere Wirtschaftsleistung erbringen als im Vorjahr. Das heißt: In absoluten Zahlen wird Chinas Wirtschaft 2015 fast drei mal so stark anschwellen wie 2005. Trotzdem ist nun von einer drohenden Wirtschaftskrise die Rede.

Zwar sind auch Chinas Probleme größer und vor allem kostspieliger geworden. Viele dieser Probleme gehen mit der gestiegenen Wirtschaftsleistung einher: China betreibt sehr viel mehr Fabriken, benötigt mehr Kraftwerke und auch die Konsum- und Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung haben sich drastisch verändert. All das verursacht gewaltige Folgekosten. Und sicherlich lässt sich das Geld zum Beispiel für den so dringend benötigten Aufbau eines Gesundheitssystems in China mit Wachstumsraten von zehn Prozent sehr viel leichter abzweigen, als wenn die Wirtschaft nur um sieben Prozent wächst.

Knapp die Hälfte der Chinesen sind nach wie vor arme Bauern auf dem Land. Sie müssen sich aus den Erträgen des Ackers versorgen, den ihnen der Staat einst zugeteilt hat. Doch die Kinder dieser Bauern sollen einmal wesentlich produktiveren Jobs in den Städten nachgehen. Dafür muss die Regierung jedes Jahr zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Dieses Ziel scheint nicht gefährdet: Bei sieben Prozent Wachstum kommen auch in diesem Jahr zehn Millionen Jobs hinzu. Die Mechanismen funktionieren also noch.

Wir haben die Gewohnheit entwickelt, Wachstum als prozentuale Veränderung darzustellen. Chinas prozentuale Steigerung mag sehr viel geringer ausfallen als in früheren Jahren. Die absoluten Zahlen haben aber weiter zugenommen. Besonders verblüffend ist der Blick auf die Basisdaten: 2009 lag Chinas Wirtschaftsleistung bei etwa fünf Billionen Dollar, 2010 bei sechs Billionen, 2012 lag sie schon bei über acht Billionen Dollar – eine atemberaubende und zugleich sehr gleichmäßige Steigerung.

Tatsächlich vollzieht die Volksrepublik gar keine ungewöhnliche Entwicklung. Auch in Deutschland erfolgte der absolute Zuwachs der Wirtschaftsleistung über die Jahrzehnte ziemlich stetig, während die Prozentzahlen deutlich gefallen sind. 1955 lag das Wachstum der Bundesrepublik bei zwölf Prozent, 1999 bei zwei Prozent. Heutzutage freut sich Deutschland über eine Eins vor dem Komma.

Wir sollten froh sein, dass die chinesische Regierung die Abflachung akzeptiert. Nicht auszumalen, wenn Chinas Wirtschaft bei ihrer heutigen Größe auch in diesem Jahr noch mit zwölf Prozent wachsen würde. Es ginge gar nicht. Die Rohstoffe würden genauso wenig ausreichen wie die Nachfrage nach Waren “Made in China”.