Wer sich in China über die Regierung beklagt, kann verhaftet werden. Wer faule und korrupte Beamte anschwärzt, läuft Gefahr, Ärger mit den Behörden zu bekommen. Die meisten Chinesen schlucken daher ihren Ärger über Bürokratie und Willkür eher herunter, als öffentlich aufzubegehren.
Nicht so Wu Hai. Der Pekinger Hotelier schrieb sich seinen Ärger über die Gängelei durch Beamte in einem offenen Brief von der Seele. Der Adressat: Premier Li Keqiang persönlich. Warum jemand Geringeren ansprechen als den Regierungschef und Vize-Generalsekretär der allmächtigen Kommunistischen Partei?
Zudem war eine TV-Rede des Premiers der Auslöser für Wus Aktionismus. Li hatte darin angekündigt, die Zentralregierung entschlacken zu wollen. An sich eine gute Idee, dachte Wu. Doch er schreckte auf, als Li weitersprach: Befugnisse höherer Ebenen sollten auf niedrigere Ebenen verlagert werden. Sie rücken damit näher an den Bürger, glaubte der Premier.
Doch Wu hatte Erfahrung mit den Ämtern auf niedriger Ebene: Sie seien unberechenbarer und korrupter als die nationalen Institutionen. Die Verlagerung nach unten macht den Bürgern und Unternehmern das Leben also nicht leichter. Sondern sie gibt dem schlimmsten Typus des kleinen Lokalbeamten mehr Macht. Das alles schrieb Wu nieder – und wurde vorgeladen.
Aber nicht, wie insgeheim befürchtet, von der Staatspolizei. Sondern von den höchsten Beamten der Planungsbehörde. Er erhielt eine Einladung, im Allerheiligsten der chinesischen Politik eine Präsentation zu seinen Kritikpunkten zu halten. Der Regierungssitz Zhongnanhai im Zentrum Pekings ist von hohen Mauern umgeben. Wer nicht zum innersten Zirkel gehört, hat hier nichts verloren. Wu Hai gehört nun zu den wenigen, die Zhongnanhai von innen gesehen haben.
Nein, Premier Li hat ihn nicht persönlich empfangen, gibt Wu zu. Aber er ist überzeugt, dass er seine Argumente da vortragen konnte, wo sie wirklich etwas bewirken. Er hofft, die Regierung damit von einem verhängnisvollen Fehler abzuhalten. Und er hat konkrete Vorschläge gemacht, wie sich die Lage verbessern lässt. Für viele Regulierungen sind mehrere Behörden zuständig – Wu fordert klarere Regeln und Zuständigkeiten. Viele Bußgelder liegen im Ermessen des Beamten. Warum nicht eindeutige Definitionen niederlegen? Wer ein kleines Geschäft betreibe, wolle vor allem in Ruhe gelassen werden, hat Wu den Spitzenbeamten eingeschärft.
Der Hotelier sagt, er wolle das bestehende System von innen verbessern. Doch seine Gedanken sind brisant. Sie kratzen am Fundament des Einparteienstaates.
Das Kernproblem in China ist: Weil die Partei alles kontrolliert, kontrolliert keiner die Partei. Es ist immer noch sehr schwer, den Staat in Form seiner unzähligen Behörden zu verklagen, wenn ein Beamter Schmiergeld will oder eine Genehmigung verweigert. Denn die Gerichte sind nicht unabhängig. Die Richter sind Teil des Systems, nicht seine Überwacher, genau wie die Presse.
Als Unternehmer will Wu vor allem gute Geschäfte machen. Er will keinen Umsturz, sondern stabile Rahmenbedingungen. Er freut sich, dass die Regierung seine Argumente angehört hat. Doch er besteht darauf, dass es einer grundlegenden Änderung des Machtgefüges zwischen Beamtenschaft und Öffentlichkeit bedarf, um China vitaler zu machen. Denn das ist das Ziel von Premier Li: Er will Dynamik schaffen, um einen Durchhänger in der Wirtschaft zu überwinden.
Jetzt liegt es an der Regierung, aus dem wertvollen Rat Wus auch etwas zu machen. Premier Li, der in diesen Tagen vor allem mit einem Schiffsunglück beschäftigt ist, steht vor einer schwierigen Aufgabe: Er muss die Strukturen ändern, ohne den Einparteienstaat anzufassen.
Bei früheren Reformschüben war das bereits gelungen, aber damals hingen die Früchte niedriger: Schon eine vorsichtige Abkehr vom Betonkommunismus hat zu Zeiten des Staatsführers Deng Xiaoping enorme Kräfte freigesetzt. Heute müsste Li viel mehr Kontrolle abgeben, um noch einen Effekt zu erzielen. Vor allem um die von ihm versprochene kreative Innovationsgesellschaft zu schaffen.
Bis dahin ist es ein weiter Weg. Denn auf seine Weise ist Wu auch nur ein Einzelfall. Viele Bürger ärgern sich über Bürokratie und Schmiergeldforderungen. Außer Wu versuchen auch andere, ihre Probleme öffentlich zu machen. Bei ihnen meldet sich jedoch nicht der Staatsrat. Sondern die Staatspolizei.