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Niemand hat die Feuerwehrkräfte über die Gefahren informiert

 

Wer mit dem Auto von der Innenstadt der 15-Millionen-Metropole Tianjin über die Autobahn nach Binhai kommt, stößt auf ein Industriegebiet, das selbst chinesischen Stadtplanern den Atem raubt. Und sie sind Gigantonomie eigentlich gewohnt. Lebten hier vor wenigen Jahren noch Fischer, reiht sich nun auf einer Fläche, das fast der halben Fläche der Schweiz entspricht, eine moderne Fabrikanlage neben der anderen. 121 der weltweiten Top-500-Unternehmen haben sich mit Fabriken in dieser Wirtschaftszone mit dem Namen Binhai New Area angesiedelt, darunter auch Firmen wie Airbus, Volkswagen und Nestlé. Dahinter erstreckt sich der ebenfalls erst vor wenigen Jahren modernisierte Hafen. Gemessen am Containerumschlag ist er der zehntgrösste der Welt.

Nicht nur die meisten dieser Anlagen sind neu. Sehr viele von ihnen sind auch ausgestattet mit moderner Technik. Sie erfüllen die höchsten Sicherheitsanforderungen – so zumindest heißt es in Werbebroschüren der Stadtverwaltung von Tianjin. Und trotzdem ist es in der Nacht zum Donnerstag in einen dieser Anlagen zu den verheerenden Explosionen gekommen. Dabei haben viele in China gedacht, so etwas könnte nur in alten maroden Anlagen passieren.

Nach dem bisherigen Stand sind bei dem Unglück 114 Menschen gestorben, über 700 wurden verletzt. Noch immer werden 70 Menschen vermisst, darunter 64 Feuerwehrkräfte. Ihre Leichen liegen wahrscheinlich noch in den Trümmern. Auch die chinesische Feuerwehr ist eigentlich längst mit modernen Geräten ausgestattet. Doch anscheinend nützt alle moderne Technik nichts, wenn die Menschen versagen, kommentierte ein Blogger auf einer chinesischen Webseite.

Trotz der Sperre von unabhängiger Berichterstattung und Löschungen zahlreicher Blog-Einträge lässt sich inzwischen nachkonstruieren, wie es zu dieser verheerenden Katastrophe inmitten dieser modernen Wirtschaftszone kommen konnte.

Kurz vor 23 Uhr am vergangenen Mittwochabend brach in einer Lagerhalle der chinesischen Logistikfirma Ruihai ein Feuer aus. Feuerwehrkräfte rückten an. Mit Wasser versuchten sie den Brand zu löschen. Die südchinesische Zeitung Nanfang Zhoumo, die bekannt ist für ihre etwas kritischere Berichterstattung, zitiert einen überlebenden Feuerwehrmann. Niemand habe ihm gesagt, dass dort gefährliche Chemikalien lagern, die nicht mit Wasser in Berührung kommen dürfen. Deswegen hätten er und die anderen Feuerwehrkräfte den Brand wie üblich bekämpft. Bei den nachfolgenden Explosionen kamen die meisten Feuerwehrkräfte ums Leben. Der Bericht mit dem Zitat des Überlebenden wurde später gelöscht – wahrscheinlich auf Anweisung der staatlichen Zensoren.

Dabei hatte die chinesische Führung nach einer Vielzahl von schweren Unglücken in Industrieanlagen die Arbeitsschutzbestimmungen in den vergangenen Jahren deutlich verschärft. Internationale Arbeitsorganisationen haben bestätigt, dass es an den offiziellen Sicherheitsvorschriften nur wenig zu beanstanden gibt. Sie entsprächen internationalen Standards. Sie werden häufig allerdings nicht eingehalten.

Dass es in China an der Umsetzung der Arbeitsschutzbestimmungen hapert, ist aber keineswegs nur auf skrupellose Fabrikleiter und mangelnder Kontrolle zurückzuführen. Auch viele Mitarbeiter nehmen es mit den Vorschriften nicht genau. Immer wieder ist auch in Pekinger Bürogebäuden zu sehen, dass Notausgänge zugestellt sind, in ganzen Stockwerken Feuerlöscher fehlen und andere Sicherheitsvorkehrungen nicht beachtet werden.

Dieses Muster findet sich auch bei den Rettungsarbeiten. Bei der Katastrophe in Tianjin waren zunächst nicht nur professionelle Feuerwehrmänner im Einsatz, sondern auch ungelernte Hilfskräfte. Aber selbst die Profis waren nicht informiert über die gefährlichen Stoffe in der Lagerhalle.

Die Katastrophe von Tianjin zeigt zudem, dass die Behörden auch in Sachen Transparenz nichts gelernt haben. Schon vorher hatten chinesische Medien über Behälter auf dem Gelände berichtet, in denen wahrscheinlich bis zu 700 Tonnen hochgiftigem Natriumzyanid lagerten. Die Behörden wollten von diesen „Gerüchten“ aber nichts wissen. Sie drohten sogar mit Strafen, wer sie verbreitet. Am Samstag, also erst am dritten Tag des Unglücks, hat das chinesische Militär dann bestätigt, dass dort Giftfässer lagerten.

Ein ausländischer Firmenvertreter, der eine Fabrik in der Zone verwaltet, hat angesichts dieses Vorgehens der Behörden nur noch Spott übrig. „Klingt doch alles sehr vertrauenserweckend für eine Wirtschaftszone, die sich damit rühmt, die modernste der Welt zu sein.“