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Mit Militärdrill gegen Internetsucht

 

Vieles erinnert an eine Militäranlage: Die jungen Männer und Frauen tragen grüne Hosen und gefleckte Tarnjacken. Auf dem Gelände stehen kasernenartige Gebäude, hohe Zäune und Trainingsgeräte. 

Doch hier, am Stadtrand von Peking, leben nicht Rekruten, sondern Süchtige. Genauer: Internetsüchtige.

China ist die Gamer-Hochburg der Welt. Eine Milliarde Nutzer geht laut offizieller Statistik regelmäßig online – und etwa ein Drittel spielt online. In China gibt es damit mehr Gamer als Menschen in den Vereinigten Staaten. Rund 24 Millionen Gamer sind wiederum laut offizieller Einschätzung internetsüchtig. Sie verbringen demnach drei Monate lang mindestens sechs Stunden am Tag oder länger im Internet. Angesichts dieser hohen Zahlen ist in der Volksrepublik bereits von „digitalem Heroin“ die Rede.

In Peking gibt es daher seit 2004 sogenannte Bootcamps, in denen Internetsüchtige behandelt werden. Chinaweit sollen es mittlerweile rund 250 sein. Abgeschirmt von der Außenwelt, ohne Kontakt nach draußen, sollen die oft jugendlichen Teilnehmer lernen, ohne Smartphones, Laptops, Tablets und Spielkonsolen ihr Leben zu organisieren. Die Teilnahme ist freiwillig. Rund 2.000 Euro kostet ein Aufenthalt, das ist mehr als das doppelte des durchschnittlichen Pekinger Monatslohns.

Die meisten Patienten bleiben für drei Monate in den exklusiven Bootcamps. Die Tage sind durchorganisiert: Aufstehen um 5.30 Uhr mit Frühgymnastik, dann militärische Drilleinheiten, Sport, Lesen, Therapiesitzungen und Hausarbeiten. In Einzelgesprächen und Gruppensitzungen sollen die Ursachen für die Internetsucht gefunden werden. Physio- und Sporttherapeuten bringen den Teilnehmern bei, sich viel zu bewegen. In den Camps sollen die Teilnehmer ihren Lebensstil komplett ändern. Sie müssen nicht nur die Betten machen und die Toiletten putzen, sondern auch ihr Essen selbst zubereiten. Viele Jugendliche haben sich schließlich monatelang nur von Instantnudeln und Fast Food ernährt. Beides ist im Camp verboten. Die Behandlungsmethoden sind umstritten, der britische Telegraph berichtete, dass auch Antidepressiva und Beruhigungsmittel gereicht werden. Um 21.30 Uhr herrscht Nachtruhe.

Fachleute vermuten, dass gerade die umstrittene Ein-Kind-Politik der Regierung (die erst im Oktober nach 35 Jahren offiziell beendet wurde) Jugendliche ins Netz treibt und Internetsucht fördert. Die staatliche Bevölkerungspolitik habe nicht nur viele verwöhnte Einzelkinder hervorgebracht. Zugleich habe sie zu einem Leistungsdruck geführt. Bereits mit 12 oder 13 Jahren würden Kinder zu Abendkursen geschickt, um sich sich für die Aufnahmeprüfung an einer Universitäten vorzubereiten. Viele Kinder litten unter Bewegungs- und Schlafmangel. An den Unis lässt der Druck keineswegs nach. Das Internet sei für viele ein Weg, vor dem Frust und der Verantwortung zu fliehen. Es biete ihnen Zuflucht.

Die „Heilungsquote“ der Bootcamps ist hochumstritten. Tao Rang, einer der prominentesten Betreiber einer solchen Anlage, behauptet, von seinen insgesamt mehr als 3.000 Patienten seien 70 Prozent in seinen Bootcamps geheilt worden. Experten sprechen jedoch von eher kurzfristigen Erfolgen. Viele würden schon nach wenigen Wochen wieder rückfällig.