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L’Eroica: Radfahren im alten Stil

 

Jörg Maltzan und Margret Hucko bei der 'Eroica © Melind
Jörg Maltzan und Margret Hucko bei der L’Eroica © Melind

Wasser ist aus, es gibt nur noch Wein! Im ersten Moment konnte Jörg Maltzan kaum glauben, was er hörte. Kein Wasser? An der Verpflegungsstation einer Radrundfahrt? Er war gerade 40 Kilometer mit seiner Frau über eine staubige Schotterpiste geradelt. Auf einem Renntandem von 1975. Fast 100 Kilometer lagen noch vor ihnen. Doch bevor er lamentieren konnte, hatte er schon einen Becher Rotwein in der Hand, außerdem Salami, Parmesan und Baguette.

Das war im vergangenen Herbst. Maltzan und seine Frau Margret Hucko nahmen an der L’Eroica ­– der Heldenhaften – teil. Das ist eine traditionelle Ausfahrt, die jedes Jahr im Oktober auf historischen Rädern in ebensolcher Kleidung durchs Chianti in der italienischen Toskana führt. Wer hier mitfährt, verneigt sich vor dem Radsport alter Schule und ackert sich mit Stil, guter Laune und gutem Essen über die Schotterpisten der Region, der Strade Bianche.

Diese Pisten sind einer der Gründe, warum es diese Ausfahrt überhaupt gibt. Ende der 1990er Jahre sorgten sich die Menschen der Region um ihre Strade Bianche. Die fürs Chianti so typischen hellen Schotterpisten wurden immer öfter zugeteert. Diesen Trend wollten die Bewohner stoppen. Statt mit Plakaten zu hantieren, machten sie aus ihrem Protest ein Revival-Radrennen. Sie polierten ihre betagten Rennräder, streiften ebenso alte Wolltrikots über, legten sich Ersatzschläuche um die Schulter und pedalierten los.

Seitdem strömen jedes Jahr mehr Fahrradverrückte in den kleinen Ort Gaiole, das Herz der L’Eroica. 5.500 waren es im vergangenen Jahr. Bereits einen Tag vor dem Start bevölkern die Teilnehmer die Straßen. Maltzans Fotos geben einen lebendigen Eindruck von dem Treiben: Drahtige Großväter in wollenen Radtrikots fahren im Pulk durch die Stadt, Frauen posieren fein frisiert in bodenlangen Röcken vor ihren Rädern, und auf dem Teilemarkt türmen sich Naben und die detto pietro, die typischen schwarzen Radschuhe mit den Löchern in den Flanken.

© Melind
© Melind

Style over speed, dasist das stille Motto der L’Eroica. Wie weit der Einzelne fährt, scheint ebenfalls zweitrangig. Die Streckenlängen reichen 38, 75, 135 oder 205 Kilometer weit. Noch im Finstern radeln die Fahrer morgens im Schein von flackernden Fackeln in die Pampa. Anfangs noch über Asphalt. Der Schotter kommt bei etwa Kilometer 20 und bleibt.

Maltzan und Hucko waren auf einem Gitane-Renntandem unterwegs. Das hatten sie zuvor im Hamburger Umland ausgiebig getestet. Auf ihrer ersten Radtourenfahrt hatten sie vier Pannen – alle zehn Kilometer eine. Im Chianti rollten sie sorgenfrei an den Zypressen vorbei. Sogar recht komfortabel. Denn ihr Rad rollte auf 650b Reifen. Eine Laufradgröße, die die Mountainbike-Szene gerade für sich entdeckt hat und nun viel diskutiert.

Bei dem Gitane-Modell war sie 1975 Standard. Die alten Michelinreifen sind recht breit, und das Tandem hatte laut Maltzan auf den Schotterpisten einen guten Grip. Jedenfalls im Vergleich zu ihren Mitstreitern. Die mussten auf ihren schmalen Rennradreifen bei den Steigungen bis zu 23 Prozent oft aufgeben und schieben. Sie gehören ebenso zum Bild der L’Eroica wie Fahrer, die am Wegesrand ihre Reifen flicken.

© Melind
© Melind

Aber bei Kilometer 83 knackte es im Kettenblatt von Huckos und Maltzans Tandem. Innerhalb von Sekunden wurde aus dem Rad mit 15 Gängen ein Fixie. Das hieß Kurbeln ohne Unterlass – auch bergab.

Normalerweise wäre das das Aus gewesen. Aber die beiden waren mit Freunden und einem alten Peugeot als Versorgungsauto angereist. Auf dessen Dach standen zu Dekozwecken die Rennräder ihrer Jugend: ein Winora und ein Motobécane – beide aus den Achtzigern. Ein kurzer Tausch, und es ging weiter.

Auf den schmalen Reifen war die Tour jedoch beschwerlicher – vor allem für Hucko, die mit glatten Ledersohlen immer von den Pedalen rutschte. Aber sie schafften es ins Ziel.

Glücklich rollten sie nach 135 Kilometern verschwitzt und staubig zum Kontrollposten und legten ihr Stempelheft vor. Eigentlich gibt es für die Fahrer dann Wein und Käse als Preisgeschenk. Doch die Italiener winkten kopfschüttelnd ab. „Replika!“, sagten sie mit einem Fingerzeig auf die Trikots der beiden. Das Design war zwar alt, aber sie waren aus Funktionsmaterial statt aus Wolle. Ein Regelverstoß, deshalb kein Preis für die beiden. Aber Wein gab es im Ziel ohnehin genug.

Ein sehr schönes L’Eroica-Video von 2010 gibt es hier:

Die Route der L’Eroica ist ausgeschildert und kann das ganze Jahr über befahren werden.

Maltzan und Hucko haben über die Ausfahrt im Fahrradladen XXL Marcks in Hamburg berichtet. Dort gibt es regelmäßig interessante Fachvorträge zum Thema Radsport und auch gemeinsame Trainingsfahrten. Ein Blick ins Programm lohnt sich.