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Zurück in den Sattel 3: Wenn Muskeln zu wenig Sauerstoff aufnehmen

 

© Sandra Jaques
© Sandra Jacques

„Ich esse gar nicht viel“, hatte Christian Krämer gesagt, als wir uns das erste Mal trafen. Er bewege sich nur sehr wenig, aber das schon seit vielen Jahren. Ein Test im Staps-Institut für Leistungsdiagnostik in Köln hat seine These bestätigt. Mehr noch: Die Wissenschaftler lieferten ihm die Erklärung, warum es ihm so extrem schlecht geht, sobald er sich anstrengt.

Am ersten Samstag im August will Krämer eine Runde bei Schlaflos im Sattel (SIS) drehen. Das Moutainbike-Rennen ist einzigartig in der Bikeszene. Die Teilnehmer rasen nachts durch den Pfälzer Wald und wer nackt unterwegs ist, bekommt auf jeden Fall einen Preis. Warum er ausgerechnet dort starten will? Christian Krämer alias „Phaty“ hat sich das Rennen ausgedacht und organisiert es seit neun Jahren. Sein Handicap: Er ist Fußgänger und viel zu schwer. Deshalb muss der 46-Jährige abnehmen und bis zum Sommer Mountainbiker werden. ZEIT ONLINE begleitet ihn dabei. Dieses Mal zur Leistungsdiagnostik in Köln.

Für Phaty waren die drei Stunden im Institut eine Offenbarung. Alles, was er in den vergangenen Monaten angefangen hatte, endete in Schmerzen. Jetzt war er acht Kilometer pedaliert, ohne zu spucken und hatte beim Absteigen immer noch eine weiche Wadenmuskulatur. Das hatte er seit Jahren nicht mehr geschafft. Seine Ziele für 2014 erschienen ihm plötzlich machbar – und zwar ohne auf dem Weg dorthin unzählige kleine Tode zu sterben.

Während er sich auf dem Rad langsam einfuhr und ein paar eingestellte Sprints absolvierte, sammelte der Institutsleiter Marc Wonneberger alle Werte, die er brauchte.

VO2-Messung © Sandra Jaques
Marc Wonneberger misst den VO2-Wert. © Sandra Jacques

Wonnebergers Diagnose überraschte den Pfälzer. „Gewicht abbauen ist bei dir zweitrangig“, sagte der promovierte Sportwissenschaftler. Selbst wenn Phaty 30 Kilo leichter sei, würde es ihm bei Anstrengung schnell so schlecht gehen wie heute. Sein Problem seien die Muskeln, sie nähmen zu wenig Sauerstoff auf.

Deshalb wird Phatys magische Zahl in den kommenden Monaten der VO2-Wert sein. Dieser beschreibt die Fähigkeit der Muskelzellen, Sauerstoff aus dem Blut aufzunehmen. Noch rauscht in Phatys Muskeln der Sauerstoff ungenutzt an den Fasern vorbei.

In welchen Niederungen sich Phatys VO2-Wert zurzeit bewegt, zeigt ein Vergleich: Ein untrainierter Mann kann, wenn er sich anstrengt, normalerweise 36 bis 39 Milliliter Sauerstoff pro Minute und Kilogramm Körpergewicht verwerten. Phatys Wert liegt mit 23 weit darunter. „Selbst Multiple-Sklerose-Kranke haben mit 25 bis 30 bessere Werte als er“, beschreibt Wonneberger das Dilemma.

In der Praxis heißt das: Auf dem Rad kann Phaty die Leistung, die er bringt, nicht umsetzen. „Sein Hubraum ist zu gering“, sagt der Wissenschaftler. Der Hubraum müsse aufgebohrt werden, Phaty müsse mehr Sauerstoffabnehmer in den Muskeln ansiedeln. Das geschieht Wonnebergers Theorie zufolge am schnellsten durch Sprints. Sie lösen den Reiz aus, der die Abnehmer aufbaut. Wobei die kurzen Einheiten genau auf Phatys aktuelles Leistungsvermögen ausgelegt sind.

Wonneberger (links) misst den Anteil des Körperfetts © Sandra Jaques
Wonneberger (links) misst den Anteil des Körperfetts © Sandra Jaques

Dreimal pro Woche soll Christian Krämer 30 Minuten trainieren. Eine Trainingseinheit sieht so aus: Fünf Minuten locker einfahren – das heißt: durchweg kurbeln, aber es soll sich für ihn entspannt anfühlen – anschließend vier Mal 30 Sekunden mit 210 Watt fahren. In den kurzen Pausen jeweils 30 Sekunden ohne Widerstand pedalieren. Nach der Einheit soll er locker 6 Minuten ausfahren.

Die erste Runde ist Phaty bereits gefahren – allerdings noch ohne Kurbel zur Wattmessung. Das macht es etwas komplizierter. Denn er muss über die 30 Sekunden hinweg seine Trittfrequenz kontinuierlich steigern. Zum Ende der Zeitspanne soll er so schnell treten wie er kann, allerdings ohne an seine Leistungsgrenze zu kommen. „Am liebsten würde ich mich auf ein Ergometer setzen, weil es mir sagt, was ich machen muss“, sagt Phaty.

Die Angst, sich zu überanstrengen, ist bei ihm allgegenwärtig. Verständlich, vor allem, wenn die Kollapsschwelle so niedrig liegt. „Das ist Rehasport“, sagt er nach der ersten Ausfahrt. Was ihn motiviert? „Zu wissen, dass es besser wird.“

„Eine Verdopplung des VO2-Werts ist überhaupt nicht ausgeschlossen“, sagt Wonneberger. Wenn Krämer sich an den Trainingsplan hält, wird er im Sommer die geplante 100 Kilometerrunde mit seinen Freunden in Hamburg schaffen. Phaty will dort mit Freunden Rennrad fahren. Das steht noch vor SIS und erscheint momentan realistischer als die Runde durch den Wald. „Allerdings darf er jetzt keine Zeit verlieren, er muss trainieren“, schränkt der Wissenschaftler ein.

Die Theorie hilft Phaty. Etwa anderthalb Stunden hat ihm Wonneberger erklärt, was in seinem Körper vor sich geht. Jetzt weiß er, dass er sich bereits auf Rehasport-Niveau an seiner Leistungsgrenze abrackert und deshalb mit jeder Ausfahrt seinen Körper effektiv fordert.

Im Kölner Institut ist der schwergewichtige Pfälzer eine Ausnahme. In dem Fachwerkhaus trifft man in der Regel durchtrainierte Ausdauersportler, Profis und Hobbysportler, die für Olympia oder den Ironman auf Hawaii trainieren.

Das ist nicht Phatys Umfeld. Viel zu elitär. Normalerweise hätte er spätestens in dem Moment die Staps-Webseite weggeklickt, als der Rennradprofi Tony Martin ihm auf einem Foto seine Olympiamedaille entgegenstreckte. Aber ein Freund hatte ihm das Institut empfohlen, und von seinem Urteil hält er viel.

Also bringt er zwischen Sprints und Theorieteil bei Wonneberger seine Kritik direkt an. „Dicke kommen nicht vor, sie fühlen sich überhaupt nicht angesprochen“, beklagt Phaty. Dabei sei das die Zielgruppe der Zukunft. Der Vorwurf und das Gespräch mit dem Pfälzer machen Wonneberger nachdenklich. „Wir überlegen jetzt, wie man diese Zielgruppe adäquat ansprechen kann“, sagt der Sportwissenschaftler.

Um sinnvoll zu beginnen, brauchen Übergewichtige Informationen, wo sie ansetzen müssen. Werden die falschen Stellrädchen bewegt, verpufft ihre Anstrengung. „Wer einfach loslegt, macht das drei Wochen und sitzt dann wieder auf dem Sofa“, sagt Wonneberger. Wenn man aber weiß, wo man ansetzen muss, stellt sich schnell ein Erfolg ein.

250 Euro kostet die Leistungsdiagnose, die Phaty lieber Bestandsaufnahme nennt; etwa 140 Euro fallen pro Monat nochmal für die fortlaufende Betreuung mit Test, Trainingsplänen und Beratungsgesprächen am Telefon an – sofern man das will. Wonneberger sagt: „Generell wird in Deutschland mehr ins Equipment investiert als in die eigene sportliche Leistung. Und gerade Übergewichtige investieren erst mal in andere Dinge als in den eigenen Körper.“ Nach drei Jahrzehnten als Übergewichtiger beginnt Phaty jetzt in seinen Körper zu investieren. Er ist überzeugt, dass sich das langfristig auszahlt.

Teil 1: Zurück in den Sattel

Teil 2: Schöne Sportbekleidung für Dicke? Fehlanzeige