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Nur mal eben mit dem Speedster ins Büro

 

© Reidl
Velotraum Speedster © Reidl

Auf manche Räder steigt man – und will dann immer weiter fahren. Der Speedster von Velotraum ist so ein Modell. Gedacht ist das Rad für Pendler. Allerdings ist die Gefahr, dass Sie damit morgens einfach an Ihrem Büro vorbeifahren, ziemlich groß.

Seit Tagen ist die Fahrt ins Büro eine einzige Versuchung. Die Linden verströmen ihren sommerlichen Duft, mühelos rollen die profillosen Kojakreifen des Speedster über den Asphalt. Es ist kühl, aber die ersten Sonnenstrahlen verheißen einen warmen Tag. Perfektes Radfahrwetter. Es rollt gut, aber im Büro will ein Ergonomie-Text geschrieben werden.

Dabei sitze ich bereits so gut im Sattel. Freunden antworte ich auf Nachfrage stets, dass ihr Rad passen muss wie ein guter Schuh. Das hört sich selbstverständlicher an, als es ist. Menschen das Rad passgenau anzufertigen, so dass ihnen auf langen Touren weder die Hände einschlafen noch der Nacken schmerzt, der Hintern oder ihr Rücken, ist eine Kunst. Sie beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und viel Erfahrung, und sie wird immer noch unterschätzt.

Stefan Stiener, Inhaber von Velotraum, hat für den Speedster die genauen Maße meines Reiserads abgefragt. Normalerweise vermisst er seine Kunden auf der eigens entwickelten Messmaschine direkt in seinen Geschäftsräumen in Weil der Stadt, rund 30 Kilometer entfernt von Stuttgart. Für mich hatte vor anderthalb Jahren die Ergonomie-Expertin Juliane Neuss mein Reiserad angepasst. Statt mich auf den Weg zu machen, habe ich ihm diese Werte geschickt.

Komfortabel zu greifen und leicht zu schalten © Reidl
Komfortabel zu greifen und leicht zu schalten © Reidl

„Passend ist immer kundenspezifisch“, sagt Stiener. Er beachtet für seine Gesamtdiagnose viele Aspekte. Von mir wusste er, dass ich seit einiger Zeit Rückenprobleme habe. Deshalb hatte er unter anderem den maßgeschneiderten Speedster vorsorglich mit einem zweiten, kürzeren Vorbau auf den Weg geschickt. Bereits bei der ersten Probefahrt saß ich gut auf dem Velotraum, aber mit dem kürzeren Vorbau war es perfekt. Ein auf den Fahrer exakt zugeschnittenes Rad hat natürlich seinen Preis: Das von mir getestete kostet, so wie es oben auf dem Foto zu sehen ist, 3.638 Euro.

Stiener hat das Rad für Pendler konzipiert. Für Menschen, die am liebsten mit dem Rennrad zur Arbeit fahren würden, es aber aus Vernunftgründen unterlassen. Entweder weil sie ihr Gepäck und ihre Ersatzkleidung auf dem filigranen Rad nicht unterbringen oder weil sie im Büro im Anzug erscheinen müssen.

Scheiben- oder Felgenbremse?

Mit dem Speedster geht das. Mit Schutzblechen, der ebenso kleinen wie feinen SON-Lichtanlage und einem Gepäckträger ist das Rad straßentauglich und schnell. Zu schnell für die paar Kilometer zu meinem Büro. Deshalb lasse ich das heute einfach links liegen und fahre weiter. Raus aus der Stadt, rauf auf die Geest.

Die Geest ist eine kleine Erhebung im Norddeutschen Tiefland. Anders als im Alten Land, wo Apfel- und Kirschbäume die Landschaft bestimmen, gibt es hier zwischen den kleinen Dörfern vor allem Wald, Moore, Felder und viele einsame Landstraßen, die einen schnell von Alltag und Pflichten entfernen.

Der Berufsverkehr ist schon lange weg. Jetzt dösen nur noch die Pferde auf ihren Weiden. Der Asphalt ist so plan, dass die 26 Zoll großen Räder lautlos rollen und nur das Surren der Kette zu hören ist. Meine Hände ruhen an den Ultegra-Schalthebeln der Shimano-Bremse. Sie aktivieren auf leichten Druck zwei mechanische Scheibenbremsen. Das Thema Scheibenbremsen oder Felgenbremse für den Speedster sieht Stiener ambivalent.

Scheibenbremse und SON-Nabendynamo © Reidl
Scheibenbremse und SON-Nabendynamo © Reidl

Betrachtet man nur die Bremsleistung, ist die Scheibenbremse für ihn zurzeit die bessere Wahl. Aber er hat auch Einwände. „Viele Leute sind mit dem Handling überfordert“, erklärt Stiener. Der Ein- und Ausbau des Laufrades sei bedeutend anspruchsvoller als der einer Felgenbremse. „Es kommt auf Zehntelmillimeter an“, sagt er. Allerdings sind seine Kunden in der Regel Rad-Enthusiasten, die wissen, wie sie ihre Räder behandeln müssen.

Wie sie ihre Räder behandeln müssen? Momentan stellt sich eher das Gefühl ein, dass der Speedster die Kontrolle übernimmt. Oder wer lenkt das Rad, die immer schneller werdende Jagd über den Asphalt abbremsend, auf die schmalen unbefestigten Wege, die sich rechts und links der Route anbieten? Bedeutend langsamer, aber souverän rollen die prallen Reifen durch sandige Passagen und über Schotterpisten.

Von der Leichtathletik zum Radbau

Diese Eigenschaft ist allen Velotraum-Rädern eigen. Es sind extrem sportliche, aber auch sehr gutmütige Nutzfahrzeuge – im besten Wortsinn. Sie haben alle ihren spezifischen Einsatzzweck, so wie der Speedster, der eigentlich ein Rennpferd ist, aber eben eines, das sich auch für schlechten Untergrund nicht zu schade ist, wenn sein Fahrer gerade etwas Besonderes erleben will. Ein Velotraum zickt nicht.

Das würde auch nicht zu seinem Erbauer passen. Stefan Stiener ist ein echter Kerl, riesig, breit, muskulös, sportlich. Früher wollte er mal in den Leichtathletik-Kader. Dann verletzte er sich beim Weitsprung und begann kurze Zeit später, Räder zu bauen.

Als Architekturstudent hat er mit einem Freund in dessen Kellerräumen geschraubt. Zunächst Rennräder, aber auch diese bereits gerne für die Reise. Dann kam der Mountainbike-Boom, und ihre Werkstatt wurde, wie Stiener sagt, „das größte Kellergeschäft für Mountainbikes von Marken wie Klein und Specialized in Süddeutschland“. Nach einer weiteren Zwischenstation wurde Velotraum zur eigenen Marke.

„Unsere Räder sind sportlich, aber sie sind auch Nutzgeräte“, sagt Stiener. Er baut Räder, die er selber fahren will. Keine Hochleistungsmaschinen, sondern Velos, mit denen man gerne unterwegs ist. Für ihn steht das Erleben im Vordergrund.

Ich habe an diesem Tag bei Weitem nicht genug erlebt. Aber irgendwann konnte ich den Speedster dazu bewegen, umzudrehen. Mit drei Stunden Verspätung kamen wir beide ins Büro. Ich etwas müde, er etwas verstaubt, beide glücklich.

Klein aber oho: Das SON- Toplight Line Small Plus für Gepäckträger oder Sattelstütze ist erst ab September im Handel.  © Reidl
Klein aber oho: Das SON- Toplight Line Small Plus für Gepäckträger oder Sattelstütze ist erst ab September im Handel. © Reidl