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Mehr als die Summe seiner Teile

 

Was für eine Aufregung! 3.600 Euro für ein Fahrrad, das empfanden viele Leser des Velophil-Blogs geradezu unanständig teuer und kommentierten unter dem Artikel „Nur mal eben mit dem Speedster ins Büro“ entsprechend: Es wurde aufgelistet und nachgerechnet, dass dieser Preis nie und nimmer zu rechtfertigen sei.

Aber was steckt eigentlich hinter dem Preis – ausschließlich die Summe seiner Teile? Und wie ist es beim Auto? Es wird Zeit, genauer hinzuschauen.

Deutschland gilt als Autonation. Knapp drei Millionen Neuwagen wurden laut dem Kraftfahrtbundesamt im vergangenen Jahr neu zugelassen. Im Schnitt gaben die Deutschen 27.030 Euro für ihren Neuen aus, wie die Deutsche Automobil Treuhand (DAT) ermittelt hat. Für ein neues Fahrrad dagegen gerade mal 520 Euro.

Doch diese Durchschnittswerte sagen wenig aus. Das beweist bei den Rädern der Speedster. Beim Auto gibt jeder vierte Deutsche gern mehr aus: 14 Prozent haben zwischen 30.000 und 40.000 Euro für den Neuwagen bezahlt, 11 Prozent sogar über 45.000 Euro. Überträgt man die Teile-Diskussion aus dem Kommentarbereich auf den Automarkt, wäre die Frage zu stellen, was diese Autos eigentlich alles können, oder ob ihr Motor vergoldet ist.

Das ist natürlich Quatsch. Man bezahlt die Marke, den Hubraum und was das jeweilige  Modell verspricht. Das kann unter anderem Spaß, Komfort, Sportlichkeit oder Sicherheit sein.

Hochwertiges fährt sich besser

Meine Familie gehörte im vergangenen Jahr auch zu den Kunden eines Neuwagens. Unser Dacia Logan kostete deutlich weniger als der Durchschnittspreis der DAT. Das Auto fährt zufrieden stellend, hat eine Klimaanlage und verbraucht wenig Sprit. Für uns, die weniger als 7.000 Kilometer im Jahr damit unterwegs sind, reicht das.

Allerdings ist der Unterschied zu seinen beiden Vorgängern erheblich. Das waren Volvos, deren höhere Qualität sich in vielen Details zeigte: in der Straßenlage, in der Lenkung, der ganzen Haptik und Kleinigkeiten wie dem satten Klang, wenn die Tür zuschlägt.

Beim Fahrrad greifen ähnliche Mechanismen. Zum einen halten hochwertige Komponenten länger. Aber sie verhalten sich auch anders. Selbst Laien erkennen hochwertige Schaltungen, die gut in der Hand liegen und auf leichten Druck mit einem satten Klack den neuen Gang einlegen. Das machen sie selbst dann noch, wenn ihr Fahrer am Berg geschlafen hat und zu spät schaltet.

Was sie mit Autos ebenfalls gemein haben: Die teuren Räder liegen auch anders auf der Straße als ihre günstigeren Verwandten. Der Speedster rast noch mit 20 Kilogramm Gepäck den Berg so souverän hinunter, dass man das Gefühl hat, man kann die Hände vom Lenker nehmen und nur mit Körperspannung das Rädchen lenken. Man nennt das Laufruhe. Mit einem 300-Euro-Rad ist das nicht zu schaffen. Auf dem fährt man auch nicht, ohne zu schwitzen, mit 27 km/h 30 Kilometer ins Büro. Mit dem Speedster schon.

Interessiert sich etwa der Porsche-Fahrer für den reinen Nutzwert?

Sicher, für 1.000 Euro gibt es tolle Räder. Aber Fahrräder sind wie Autos mehr als die Summe ihrer Komponenten. Wenn man sie ernsthaft nutzt und damit nicht nur ein paar Hundert Kilometer im Jahr zurück legt, sondern ein paar Tausend, sieht man sie als Fahrzeuge mit einem spezifischen Zweck.

Im Grunde ist es wie beim Auto: Der eine braucht ein sportliches Fahrzeug, der andere ein Reisefahrzeug, eine Familienkutsche, einen Offroader oder eine Rennmaschine. Von der Länge der üblicherweise zu fahrenden Strecken, von dem Untergrund, dem Können und den Vorlieben des Fahrer hängt dann die Ausstattung ab. Die muss beim Fahrrad allerdings bedeutend maßgeschneiderter sein als beim Auto, weil der Fahrer den Motor gibt.

Kostet ein Fahrrad erst einmal über 2.500 Euro, wird die Spezialisierung mit jedem 500-Euro-Schritt immer größer. Hier hört der reine Nutzwert auf, hier beginnt die Nische, die kleinteilige Wunscherfüllung, die Freude am Fahren. Warum sollen die nur Autofahrer spüren? Oder glaubt man allen Ernstes, dass Porsche- oder Teslafahrer der reine Nutzwert ihres Autos interessiert?