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In Stuttgart gilt Critical Mass als Versammlung

 

Critical Mass Stuttgart © Felix Keuling
Critical Mass Stuttgart © Felix Keuling

Stuttgart ist sicherlich kein Vorzeigepflaster für Radfahrer. Aber in einem ist die schwäbische Metropole Vorreiter: Das Verkehrsministerium von Baden-Württemberg wirbt für die Stuttgarter Critical Mass. Mit schöner Regelmäßigkeit kündigt das Ministerium auf seiner Homepage die Ausfahrt an.

Zu einer Critical Mass treffen sich in der Regel einmal im Monat mindestens 16 Radfahrer scheinbar zufällig und unorganisiert, die dann als Fahrradkorso durch die Straßen fahren. Das ist zulässig, da laut Paragraf 27 Absatz 1 der Straßenverkehrsordnung mehr als 15 Radfahrer einen geschlossenen Verband bilden. Sie werden dann wie ein Fahrzeug betrachtet, und sie dürfen auf der Fahrbahn fahren, müssen nicht mehr Pflichtradwege nutzen. Mit der Aktion wollen die Teilnehmer fürs Radfahren werben, aber auch für mehr Platz und eine bessere Infrastruktur für Radfahrer eintreten.

In Stuttgart kam es bei der Critical Mass allerdings immer wieder zu Konflikten mit der Polizei. Als 1999 die ersten Radfahrer zu der Ausfahrt in Stuttgart aufbrachen, wurden sie von der Polizei gestoppt und ihre Räder zeitweise konfisziert. Als sich das bei jeder Ausfahrt wiederholte, gaben sie nach einigen Monaten auf.

2010 waren dann wieder 20 bis 30 Radler zur Hauptverkehrszeit im Verband auf der Straße und fuhren durch die Stadt. Ihre Räder wurden zwar nicht mehr einkassiert, aber die Polizisten hielten die Gruppe schon mal 30 Minuten fest, bis sie weiterfahren durften.

Derlei Auseinandersetzungen sind nicht jedermanns Sache. Viele Alltagsradler, die eigentlich gerne bei einer Critical Mass dabei wären, schreckt so ein möglicher Konflikt ab. Für Alban Manz und weitere Teilnehmer der Protestfahrt stand deshalb 2011 fest: Wenn die Critical Mass in der Stadt wachsen soll, müssen wir mit der Polizei kooperieren. Seitdem meldet Manz die Ausfahrt bei Polizei und Ordnungsamt an. Mittlerweile gibt es ein Critical-Mass-Team, das abwechselnd den Versammlungsleiter für die Ausfahrt in Stuttgart stellt. Dieser spricht vor dem Start am Treffpunkt am Feuersee im Stuttgarter Zentrum kurz mit der Polizei.

Verpflichtungen entstehen für den Versammlungsleiter dadurch nicht. Mit der Polizei und dem Ordnungsamt haben drei Critical-Mass-Teilnehmer die Rahmenbedingungen für den Job schriftlich festgehalten. Sollte es beispielsweise aufgrund eines großen Unfalls Probleme während der Fahrt geben, kann der aktuelle Versammlungsleiter die Verantwortung sofort an die Polizei übergeben.

Seit die Polizei die Critical Mass begleitet, wächst die Protestbewegung in Stuttgart laut Manz stetig an. „Viele Leute schätzen es, dass es in Stuttgart sicher und entspannt ist, bei der Critical Mass mitzufahren“, sagt er. Die Motorradstaffel der Polizei begleitet die Radfahrer. Sie sperrt Kreuzungen und ermahnt Autofahrer, die sich hupend über die Störung auf der Straße beschweren oder versuchen, die Kreuzung trotz der Radfahrer zu überqueren.

Critical Mass Stuttgart © Alban Manz
Critical Mass Stuttgart © Alban Manz

„Viele Radfahrer sehen die Critical Mass als eine Art Refugium“, sagt Jan Hinrich Wurzel, einer der Mitorganisatoren. Anders als im Alltag seien sie während der Tour sicher und ruhig auf großen Straßen unterwegs, die sie aufgrund der hohen Autodichte sonst nicht nutzen können.

Der Anteil der Radfahrer in Stuttgart ist niedrig. Im Jahr 2009/2010 lag er laut einer Haushaltsbefragung des Verbands Region Stuttgart gerade mal bei 7,4 Prozent. Doch anscheinend wächst auch hier die Zahl der Radfahrer. Jedenfalls sieht Manz dafür einige Anzeichen. „Vor vier, fünf Jahren stand ich noch alleine als Radfahrer an den Ampeln, mittlerweile stehen wir dort zu fünft und warten darauf, dass es grün wird“, sagt er. Außerdem sehe er mehr abgestellte Räder in den Straßen.

Auch bei der Critical Mass zählt Manz jeden Monat mehr Teilnehmer als im Vorjahresmonat.

Natürlich kann man sich über das Verhalten der Polizei in Stuttgart streiten. Schließlich ist der relevante Paragraf der Straßenverkehrsordnung eindeutig. Aber mit ihrem Kompromiss haben die Stuttgarter offensichtlich eine breitere Gruppe von Radfahrern mobilisieren können als jemals zuvor.

Manz sieht in der Absprache viele Vorteile. Durch den festgelegten Zielort sei auch im Anschluss immer ein Austausch unter den Teilnehmern möglich. In den Wagenhallen Stuttgart, einem Kulturbetrieb mit großem Freigelände und Konzerthalle, gibt es zurzeit nach der Fahrt stets einen Imbiss. Neben dem Essen kann sich der Critical-Mass-Organisator auch kulturelle Beiträge zum Thema oder Vorträge vorstellen.

Werden seine Ideen umgesetzt, kann sich die Critical Mass in Stuttgart auch inhaltlich entwickeln. Pendler, Rentner, Rennradfahrer, Mountainbiker und Alltagsradler hätten plötzlich einen Ort, wo sie sich regelmäßig treffen und austauschen können. Radfahrer aller Couleur könnten hier ein Netzwerk knüpfen und neue Wege finden, um ihr Anliegen weiter zu tragen – so etwas gibt es in dieser Dimension noch nicht. Diese Idee hat Potenzial.

Zur Critical Mass treffen sich Stuttgarts Radfahrer heute um 18.30 Uhr am Feuersee.