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Das Ende der autogerechten Stadt

 

Querstadt mahü – E3 from Querstadt Wien on Vimeo. Das Video zeigt die Reaktionen der Wiener auf die Mariahilfer Straße, in der Autos nur noch 20 km/h fahren dürfen

Wien hat ambitionierte Pläne: Trotz wachsender Bevölkerungsdichte plant die Metropole den Autoanteil am Verkehr auf 20 Prozent zu senken, bis 2030 sogar auf 15 Prozent. Die Wiener sollen zum Radfahren und zum zu Fuß gehen motiviert werden und öfter auf Bahn und Bus umsteigen.

Zurzeit baut Österreichs Hauptstadt daher die stark befahrene Einkaufsstraße Mariahilfer in eine Begegnungszone um. Das Projekt startete 2013. Die Straße ist eine der wichtigsten Einkaufsstraßen der Alpen-Republik, mehr als 700 Läden machen einen Umsatz von mehr als einer Milliarde Euro. Nun dürfen Autos nur noch maximal 20 km/h fahren, Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer sind gleichberechtigt. Anders als die New Yorker, die von der teilweisen Sperrung des Times Squares sofort begeistert waren, reagierten die Wiener anfangs zurückhaltend. Als die Straße beim Test gesperrt wurde, blieben die Fußgänger auf ihren Wegen und mieden die Fahrbahn der Autos. „Sie hatten nicht das Gefühl, die Straße gehöre ihnen“, sagt Thomas Berger, zuständig für die Stadtentwicklung und Stadtplanung in Wien.

Vor einer Bürgerbefragung im vergangenen Jahr, die über den Umbau entschied, hatte die Wiener Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou an vielen Wochenenden in der Mariahilfer Straße die Fragen der Anwohner beantwortet. Die Geschäftsleute fürchteten Umsatzeinbußen und die Anwohner hatten Sorge, ihren Wagen nicht mehr in Wohnungsnähe parken zu können. Vassilakou entkräftete die Befürchtungen. Dennoch war das Ergebnis knapp. Mit 53 Prozent lagen die Befürworter vorn. Die Einkaufsstraße wurde umgebaut.

Wiener waren erst skeptisch, jetzt begeistert

Heute sind die Wiener von ihrer neuen Straße begeistert. Aber das Beispiel zeigt: Einschneidende Veränderungen müssen gut vorbereitet und wieder und wieder erklärt werden. Die Vorteile einer Stadt mit einem reduzierten Autoverkehr werden von Politikern selten anschaulich beschrieben. Dabei könnten sie mit diesem Thema punkten. Eine repräsentative Studie des Umweltbundesamtes ergab Anfang des Jahres: 82 Prozent der Deutschen wünschen sich in den Städten einen stärkeren Ausbau von Fuß- und Fahrradwegen, Car-Sharing-Angeboten und des öffentlichen Nahverkehrs.

Es braucht einen Kulturwandel

Radfahren wird in der Stadt der Zukunft eine wichtige Rolle im Mix der Verkehrsmittel spielen. Darin sind sich Politiker, Zukunftsforscher, Stadt- und Verkehrsplaner einig. Über den Ausbau der Infrastruktur und dem Anteil der Radfahrer am Gesamtverkehr allerdings gehen die Meinungen auseinander. Gerade in autoaffinen Nationen wie Deutschland braucht es nicht nur einen Wandel auf der Straße, sondern auch einen Kulturwandel in den Köpfen der Menschen.

„Wir befinden uns an einer Verkehrswende“, sagt etwa Steffen de Rudder von der Bauhaus Universität in Weimar. Die Epoche der autogerechten Stadt neige sich nach fast einem halben Jahrhundert dem Ende zu. De Rudders These provoziert natürlich Gegenwehr, gerade in einem Land wie der Bundesrepublik, deren Geschichte und wirtschaftlicher Erfolg eng mit der Entwicklung der Autoindustrie verwoben ist. 775.000 Menschen haben im vergangenen Jahr in der Automobilbranche ihren Lebensunterhalt verdient, über Jahrzehnte war das Auto für viele Menschen das Fahrzeug der Wahl für die meisten Wege. Das prägt eine Gesellschaft.

Doch die Bedingungen ändern sich. Immer mehr Städte weltweit kommen zu dem Schluss: Mit weniger Autos wären wir besser dran. Die Schadstoffbelastung ist zu hoch in den Stadtzentren. Zu viele Menschen sind dort mit dem Pkw unterwegs, verstopfen die Straßen, parken in zweiter Reihe oder auf Fuß- und Radwegen. Die Städte reagieren erst, wenn der Druck so groß ist, dass sie keine andere Wahl mehr haben. Paris hat deshalb 2007 einen großen Fahrradverleih initiiert. Die Bürgermeisterin der Metropole erklärte im Dezember vergangenen Jahres, dass die Autos weitestgehend aus dem Zentrum verbannt werden sollen. In der Mariahilfer Straße übt Wien das nun schon erfolgreich im Kleinen.