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Extremer Radsport trotz Behinderung
Martyn Ashton unterwegs mit Freunden © Robin Kitchen

Sven Marx ist in den vergangenen Jahren 35.000 Kilometer weit geradelt – durch Europa, die USA und Japan. Solange er auf dem Rad sitzt, ist er für die Menschen ein Weltenbummler. Einer, der Dinge macht, von denen sie träumen und die sich viele nicht zutrauen. Steigt er jedoch ab und erklärt ihnen, warum er zum Laufen einen Stock braucht, behandeln ihn plötzlich viele wie ein rohes Ei.

Marx ist seit ein paar Jahren Frührentner. Er hat einen inoperablen Tumor im Hirnstamm, deshalb sieht er alles doppelt und hat Gleichgewichtsstörungen. Das Radfahren hat er sich mühsam erarbeitet. (ZEIT ONLINE berichtete). Doch es stört ihn, dass ihn Menschen schnell als hilfsbedürftig abstempeln und ihm ungefragt alltägliche Arbeiten aus der Hand nehmen. Deshalb radelt er ab August für das Projekt Inklusion braucht Aktion erst nach Rom und später nach Brasilien. Diesmal zwar nicht allein, wie sonst. Aber hilfsbedürftig klingt das eindeutig nicht.

Anfang August übernimmt Marx mit Karl Grandt die Inklusionsfackel in Berlin. Seit Mai 2014 tourt dieses Pendant zum olympischen Feuer durch die Republik. Es soll für mehr Verständnis zwischen behinderten und nichtbehinderten Sportlern werben. Grandt ist Projektkoordinator des gemeinnützigen Vereins Health-Media und betreut das Projekt. Sein Verein wirbt für eine bessere Integration von Menschen, die scheinbar anders sind als die Mehrheit.

Marx möchte wie jeder andere behandelt werden. Er will Menschen auf Augenhöhe begegnen und nicht als unselbstständig abgestempelt werden. Wenn er Hilfe braucht, bittet er darum, ansonsten will er einfach überall dabei sind – mitten im Leben ohne Sonderstatus.

Das geht viel öfter als man meint, das zeigt Martyn Ashton. Der Trialfahrer hatte sich im September 2013 während einer Stuntshow schwer verletzt. Seitdem ist er querschnittsgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Gestern hat er das erste Video veröffentlicht, das ihn auf einer Downhill-Tour mit Freunden zeigt. Er ist mit seinen berühmten Kollegen Danny MacAskill, Chris Akrigg und Blake Samson auf Mountainbikes unterwegs.

Ashtons Rad ist eine Spezialanfertigung des Sportrad- und Maßrahmenherstellers Nicolai aus Niedersachsen und des Federgabel- und Dämpferherstellers Mojo aus England. Das Besondere daran ist: Es ist im Grunde aufgebaut wie jedes andere Downhillrad. Das war Ashton wichtig, er wollte genauso unterwegs sein wie früher. Nur jetzt, wo er etwa ab Hüfte gelähmt ist, braucht er einen Sitz, der ihn hält. Außerdem ist das Sitzrohr verstärkt, da er nie aufsteht und die Kraft aufs Sitzrohr nun viel stärker ist. Es hat daher zwei zusätzliche Anschraubpunkte am Oberrohr. Ansonsten aber „ist es ein normales Mountainbike mit einem etwas längeren Rahmen“, sagt Nicolai-Chefentwickler Marcel Lauxtermann.

Nur wenn der Trail eben verläuft, schieben die Kumpels Ashton, weil er nicht pedalieren kann. Ansonsten fährt er gleichwertig mit den anderen mit. Das Video zeigt, dass viel mehr geht als man im ersten Moment denkt. Trotz seines Unfalls ist Ashton weiterhin Sportler – Radsportler. Man darf gespannt sein, welche Stunts er demnächst wieder ausprobiert. Denn für ungewöhnliche Aktionen ist er bekannt: 2012 fuhr er auf dem Rad des Tour-de-France-Siegers Bradley Wiggins über handbreite Holzzäune, schlug unglaubliche Rückwärtssaltos und tanzte durchs Gelände.

Ashtons Beispiel inspiriert und macht Mut. Ob Downhill oder Weltreise – die Reise beginnt oft im Kopf. Sven Marx und Karl Grandt radeln ab August über Polen und die Alpen nach Rom. Zwischen 80 und 120 Kilometer wollen die beiden täglich zurücklegen. Wichtiger als das Radfahren sind den beiden die Pressetermine in Städten wie Flensburg, Berlin und München. Auf denen erklären sie, was Inklusion eigentlich für sie ist.

Oft falle es Menschen gar nicht auf, dass sie andere – die vermeintlich Hilfe brauchen – durch ihr Handeln bevormunden, indem sie ihnen vorschnell Dinge abnehmen: „Sie meinen es ja gut“, sagt Marx. Grandt und er wollen auf ihrer Tour die Erkenntnis vermitteln, dass Radler auch mit Handicap viel eigenständiger sind, als viele denken.

 

Sven Marx fährt ein Sportrad von Patria © Sven Marx
Sven Marx fährt ein Sportrad von Patria © Sven Marx

Karl Grandt fährt nach einem Autounfall einen Skorpion - ein Dreirad von HP-Velotechnik © Lauro Müller
Karl Grandt fährt nach einem Autounfall einen Skorpion – ein Dreirad von HP-Velotechnik © Lauro Müller

Anfang September haben die beiden eine Audienz beim Papst in Rom. Er wird die Inklusionsfackel weihen. Von dem Tag an wird sie Marx‘ ständiger Begleiter sein. Der Berliner hat sich für kommendes Jahr viel vorgenommen. Er will durch Sibirien radeln und übers Nordkap in die Fahrradmetropole Kopenhagen. Von dort durch Deutschland, Frankreich und Spanien bis nach Casablanca in Marokko. Dort lädt er sein Rad ins Flugzeug nach Brasilien. Von São Paulo fährt er dann bis nach Rio de Janeiro, wo er die Fackel für die Paralympischen Spiele übergibt. Für Marx ist es der Probelauf für die große Weltreise, die er 2017 starten will.

Er ist gehandicapt, das spürt er täglich, wenn er auf zwei Beinen durchs Leben wankt. Auf dem Rad aber ist er souveräner. Die Sitzposition verschafft ihm einen klaren Überblick und die Gleichgewichtsprobleme fallen weg. Natürlich macht ihn seine Behinderung auf der Reise angreifbar. Dennoch lebt er sein Leben nach seinen Vorstellungen. Er ist so unabhängig wie eben möglich – wenn ihn seine Mitmenschen lassen.

Der Etappenstart für Inklusion braucht Aktion ist am 4. August, um 10 Uhr am Brandenburger Tor / Pariser Platz. Die Mitfahrer versammeln sich ab 9 Uhr. Sie begleiten die beiden Radler bis zur Stadtgrenze.

In einem weiteren Video erklärt Martyn Ashton hier die Besonderheiten seines Fahrrads.