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Der tägliche Fleischwahn

 

Die Daten, die die Böll-Stiftung und die Umweltorganisation BUND in ihrem Fleischatlas heute veröffentlichen, erinnern mich an meine Kindheit. Da gab es jeden Tag ein warmes Tellergericht – und Fleisch gehörte selbstverständlich dazu.

Quelle: Fleischatlas/zeo2/Vebu, CC-BY-SA

Offenbar hat sich seit den achtziger Jahren, in denen ich aufwuchs, nicht viel verändert. Der Vegetarierbund rechnet vor, dass jeder Deutsche im Durchschnitt am Ende seines Lebens 1.094 Tiere verzehrt hat, darunter vier komplette Rindviecher und 945 Hühner (siehe Grafik hier links).

Von den zahlreichen Skandalen und negativen Entwicklungen in der Ernährungsindustrie – Dioxin in Tierfutter, Analogkäse, Klebefleisch oder Hygienemängel in Hühnerställen – lässt sich der Verbraucher offenbar immer nur kurz beeindrucken. 85 Prozent der Deutschen essen täglich Fleisch.

Allerdings gibt es große Unterschiede: Männer, vor allem zwischen 19 und 24 Jahren, essen deutlich häufiger Fleisch als Frauen. Diese entdecken ihre Fleischleidenschaft etwas später, ihr Fleischkonsum ist zwischen 25 und 34 Jahren am höchsten.

Auch ist Fleischkonsum in Ostdeutschland verbreiteter als im Westen. Thüringens Männer führen die Tabelle an: Jeden Tag essen sie mehr als 70 118 Gramm Fleisch (beeindruckend, wenn ich überlege, wie oft ich hundert Gramm Aufschnitt kaufe, der dann für die Familie ein paar Tage reichen muss, einmal davon abgesehen, dass ich selbst kein Fleisch esse). Besonders zurückhaltend sind Frauen in Rheinland-Pfalz. Sie essen im Durchschnitt 20 bis 25 47 Gramm am Tag.

Welche Folgen hat der exzessive Fleischkonsum? Einerseits ist er für Unternehmen ein gutes Geschäft. Der deutsche Fleischverwerter Tönnies machte im Jahr 2011 einen Umsatz von beeindruckenden 4,6 Milliarden Euro. Mittlerweile hat sich eine globale Arbeitsteilung etabliert: Schwellenländer wie Argentinien, China und Russland produzieren für den internationalen Markt – und damit auch für Fleischesser in den Industrienationen.

Auf der anderen Seite hat der ausufernde Fleischkonsum Folgen für Umwelt und Klima. Agrarzentren in Europa wie etwa Niedersachsen, aber auch die Beneluxstaaten, haben schon heute ein Düngerproblem. Der exzessive Einsatz von Düngemitteln zerstört sensible Ökosysteme, Nitrate verschmutzen das Grundwasser, Wasser wird knapp. Rund zwei Drittel der Masthühner bilden mittlerweile Resistenzen gegenüber bestimmten Antiobiotika aus, warnen die Autoren.

Ein weiteres Problem: Die Artenvielfalt schwindet, weil nur noch Hochleistungstiere gefragt sind. Bis zu 30 Ferkel könne eine „moderne Sau“, wie die Autoren schreiben, inzwischen zur Welt bringen – und das pro Jahr. Wildschweine schaffen hingegen nur ein Dutzend. Die Folgen für das moderne Tier: Es muss mit Medikamenten gegen Gebärmutterentzündungen geschützt werden. Von den 8.000 Nutztierrassen, die die UN-Organisation FAO dokumentiert hat, ist ein Fünftel vom Aussterben bedroht.

Wer das nicht in Kauf nehmen will, dem bleibt der Verzicht auf Fleisch – komplett oder zum Teil. Oder zumindest der Kauf von Biofleisch. Das allerdings fristet noch immer ein Nischendasein. Biorindfleisch kam im Jahr 2010 gerade einmal auf einen Marktanteil von vier Prozent. Das habe unterschiedliche Gründe, schreiben die Autoren:

Wachstumsbremsen sind der Niedrigpreis und die irreführende Werbung für konventionelles Fleisch – und die manchmal aufwändigere Suche nach Alternativen dazu.

Aktualisierung 11.1.2013: Gerade hat sich der BUND gemeldet – leicht zerknirscht. Er korrigiert einige Zahlen zum Pro-Kopf-Verbrauch. Ursprünglich gaben die Daten nur den Wurstverzehr wieder, jetzt beinhalten sie Fleisch(!)- und Wurst. Der BUND gibt außerdem zur Studie den Hinweis, dass sich manche Zahlen unterscheiden, weil es unterschiedliche Datengrundlagen gebe, u.a. die Nationale Verzehrstudie aus dem Jahr 2008. Teilweise wurden Verbraucher befragt, teilweise Verkaufsdaten erhoben.