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Beach Boys

Heiser, aber oho

 

44 Hits in drei Stunden: Die Beach Boys spielen im Mehr!-Theater groß auf. Und auch wenn Sänger Mike Love nicht mehr jeden Ton trifft, wird Boogie getanzt.

Das Drama um den dysfunktionalen Beach-Boys-Clan – wann wird es enden? Buch um Buch, Rockmagazin um Rockmagazin wird die Berg- und Talfahrt der seit 1961 aktiven kalifornischen Band durchleuchtet. Im Zentrum stehen dabei stets zwei der Musiker: Das labile Superhirn Brian Wilson, dessen Geniestreich Pet Sounds (1966) regelmäßig zur besten Platte aller Zeiten gewählt wird, und der kolportiert klotzköpfige Bandtexter und Leadsänger Mike Love. All die wunderbare Musik trotz des ganzen Ärgers zwischen ihnen? Oder gerade deswegen?

Im Jahr 2012 gingen Wilson und Love erstmals seit den Sechzigern wieder zusammen mit der ganzen Band auf Tour, nun sind sie wieder getrennt unterwegs. Wilson steht mit Kollege Al Jardine in den USA auf der Bühne. Love, inzwischen alleiniger Eigner des Bandnamens, gibt mit dem Beinahe-Originalmitglied Bruce Johnston und dem „neuen Star“ John Stamos parallel in Europa zahlreiche Gastspiele. Stamos ist mit seinen 53 Jahren etwa zwei Jahrzehnte jünger als die anderen beiden, gehört aber schon seit 1985 zum engeren Zirkel der Beach Boys. Bekannt wurde er auch als US-Seriendarsteller (Full House, Emergency Room).

Halt der drei Beach Boys am Mittwochabend: das fast ausverkaufte Hamburger Mehr!-Theater. „One night, all hits“, so lautet das Tourmotto. Und tatsächlich präsentiert die neunköpfige Band in juveniler Auftrittslaune und traumwandlerisch eingespielt in drei Stunden zwei Sets und 44 Songs. Beach-Boys-Filme aus den Sixties und schöngeistige Naturbilder sorgen im Bühnenhintergrund nonstop für nostalgische Folklore. Braucht man nicht, lenkt ab von den Musikern, gehört aber doch irgendwie dazu. Wenn der verstorbene Carl Wilson God Only Knows von der Leinwand singt, während die Band dazu spielt, sind wir dann aber doch bei Event-Zinnober à la Elvis in concert und Sinatra and Friends.

Meisterhaft, spirituell, die alte Beach-Boys-Magie!

Es stehen doch begnadete Sänger auf der Bühne! Mike Love allerdings gehört in Hamburg nicht zuvorderst dazu. Wie Bruce Johnston im legeren Golfrentner-Look inklusive der obligatorischen Baseballkappen führt er onkelig und leicht heiser durchs Programm: „Über 50 Jahre, und ich spaße nicht: Wo die Zeit nur bleibt?“ Bei den frühen Rock’n’Roll-Hits wie Surfin’ Safari und Little Honda kommt er kaum gegen die aufgekratzt rockende Band an, nicht unbedingt jeder Ton sitzt. Im häufig mehrstimmigen Gesang fällt das kaum auf, und bei Song Nummer sieben, dem Comeback-Hit Getcha Back von 1985, klingen die Beach Boys wie eine hochoktanige Achtziger-Jahre-Powerpop-Combo.

Als kurz darauf der Gitarrist Jeffrey Foskett bei Darlin’, dem einzigen großen Hit der Platte Wild Honey, den Leadgesang übernimmt, wird aber deutlich, dass Mike Love stimmlich nicht in Topform ist. Fosketts heller Tenor sorgt für Glanz. Ähnlich gut und mit noch mehr Kraft feuert John Cowsill den Gesang für Cotton Fields und das soulige Wild Honey ab. Oft wurde seine Performance mit der des wilden Originaldrummers Dennis Wilson (1983 gestorben) verglichen. Das betrifft vor allem auch dessen speziellen Schlagzeugstil. Wenig spitzes Hi-Hat-Becken, viele dumpf wummernde Beats auf den Toms.


Sänger Mike Love im Mehr!-Theater (c) dpa

Die erste Gesangsstimme übernehmen auch Bassist Brian Eichenberger im mächtigen I Can Hear Music und Leadgitarrist Scott Totten in The Warmth Of The Sun, der Brian Wilsons leise Ballade von 1964 mit makelloser Kopfstimme nachstellt. John Stamos, der launig zwischen Gitarre und Schlagzeug hin- und herwechselt, ist bei Forever gefordert, er meistert Dennis Wilsons sentimentalen Softrockklassiker vom Album Sunflower (1970) ansprechend.

Ein Jahr später erschien Surf’s Up mit Bruce Johnstons Trademark-Ballade Disney Girls. Seine hohen Vokalparts sind im Mehr!-Theater im Flüstergesang zu hören; eine zarte Version, die zu Recht viel Beifall erhält. Beim a capella intonierten Choral Their Hearts Were Full Of Spring bleibt einem die Spucke weg: meisterhaft, spirituell, die alte Beach-Boys-Magie! Mike Love jetzt ohne Fehl und Tadel.

Good Vibrations macht allem Ärger ein Ende

Loves gefürchtete Bühnenwitze bleiben weitestgehend aus. Nur die leicht anzüglich gemeinte und einstudierte Ansage, er wäre sehr gut mit der Mutter von „Youngster“ John Stamos bekannt gewesen, worauf dieser wutschnaubend auf sein Schlagzeug eindrischt, sorgt für leise Heiterkeit.

Loves Solonummer Pisces Brothers, ein braves Lied über seine Indienreise im Jahr 1968 mit seinem „Freund“ George Harrison, Hare-Krishna-Happenings im Hintergrund, muss ausgesessen werden. Ebenso der dürre Plastiksound des Beach-Boys-Spätwerks Summer in Paradise (1992), Loves‘ Vorstellung von sozialkritischem Radiopop. Auch gehört einiges dazu, den Song Kokomo zwischen Help Me, Rhonda und dem letzten Stück Good Vibrations zu ertragen. Der karibisch gewürzte Soundtrack-Song aus dem Tom-Cruise-Film Cocktail auf einer Stufe mit zwei von Brian Wilsons größten Würfen? Musikalisch keinesfalls – dreimal Platz eins in den US-Charts sprechen dagegen eine andere Sprache. Und man darf nicht vergessen, dass Kokomo auch mit Beteiligung von Brian Wilson und Al Jardine zur Setliste gehören würde.

Dann aber macht Good Vibrations im Handumdrehen allem Ärger ein Ende: Cowsill und Stamos liefern an zwei Schlagzeugen den mächtig rollenden Backbeat zu einer fulminanten, so nicht mehr erwarteten Superversion des Klassikers. Die Leadvocals kommen vom besten Sänger auf der Bühne, Jeffrey Foskett. Wie schon einmal im Konzert, bei Wouldn’t It Be Nice, wird im Publikum kollektiv Boogie getanzt. Viel jünger als die Bandleader sind die meisten nicht.