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Hamburger Tatsachen

Die Ratte aus der Hafencity, Teil 3

 

Sie haben sich für Hamburg bislang nicht interessiert? Jetzt sollten Sie, denn es gibt die Kolumne “Hamburger Tatsachen”.

Die  Ratte, die in der Hafencity starb, hatte – wie das bei Ratten eben so ist – sehr viele Verwandte.  Von den rund 3,6 Millionen Hamburger Ratten konnte sie 121.431 zu ihren näheren Verwandten zählen und  435.322 zu den ferneren Verwandten. Natürlich kennen sich nicht alle persönlich, auch wenn man nicht unterschätzen darf, wie oft sich Ratten am Tag treffen und dabei die Möglichkeit haben, sich kennenzulernen. Trotzdem, es kommt sehr oft vor,  dass die miteinander verwandten Ratten, wenn sie sich irgendwo in dem weit verzweigten Kanalsystem Hamburgs über den Weg laufen, ohne Gruß aneinander vorbeihuschen. So beschäftigt sind diese Tiere, immerzu wühlen sie, graben, nagen und  fressen sie.

Die familienorientierten Ratten nehmen das grußlose Vorbeihuschen als Affront und schimpfen über ihre grobe Verwandtschaft, die nichts auf die Pflege von Familientraditionen gebe.  Dieses Schimpfen klingt in menschlichen Ohren wie ein helles, kurzes und schmerzliches Pfeifen. Wer dafür empfänglich ist, der wird es vor allem abends hören, wenn sich die Ratten an ihren Esstischen versammeln und die Gelegenheit haben, sich in Ruhe auszutauschen und ihrem Ärger über die achtlose Verwandtschaft Luft zu machen.

Unsere Ratte, die Verstorbene, hatte unter ihren Verwandten einen widersprüchlichen Ruf. Die einen sagten, sie sei eine Spinnerin, die aus reiner Eitelkeit immer das Besondere suche und absolut beratungsresistent sei. Die anderen hingegen sagten, sie habe gewiss ihre Eigenheiten, aber sie sein nun einmal  abenteuerlustig und im Grunde ihres Herzens ein sehr liebenswertes Tier.  Diese ihr wohlgesinnten Verwandten gaben der Ratte den Spitznamen Marco Polo.

Denn so wie der berühmte venezianische Handlungsreisende aus dem 13. Jahrhundert sei auch diese Ratte  von unbekannten Ländern und Weiten magisch angezogen worden. Was für Marco Polo die Mongolei und China waren, das sei für die Ratte Marco Polo nun einmal die neu errichtete Hafencity gewesen.

Die Wahrheit ist, dass sich zunächst kaum eine Ratte dorthin traute, so viel beunruhigende wie auch unglaubwürdige Gerüchte verbreiteten sich unter den Ratten über dieses Neuland, das sich die Stadt Hamburg erschloss.  Freilich, alles was am Wasser gebaut wird, gefällt den Ratten, doch die Geschichten über die Hafencity klangen so phantastisch, dass die Ratten daran zweifelten, dass dieser Stadtteil real sei.

Die Misstrauischen unter den Ratten behaupteten gar, die sogenannte Hafencity sei nichts anderes  als eine Falle. Die Hamburger wollten sie nur anlocken, um ihnen allen dort den Garaus zu machen. Der tödliche Hass der Menschen auf die Ratten ist ja allseits bekannt. Die Hafencity? Ein Massengrab für Millionen Ratten! Das war der Plan der Hamburger, deren Hinterhältigkeit – wie die meisten Ratten meinten – man nicht unterschätzen dürfe.

Die Ratte Marco Polo machte sich trotzdem auf in dieses unbekannte, gefährliche Land namens Hafencity. Bevor sie dort zu Tode kam, hatte sie die Gelegenheit zu berichten, was sie erlebte. Sie tat es mündlich, weil Ratten, auch wenn sie Marco Polo heißen, nicht schreiben können und daher keine Reiseberichte verfassen. Was sie alles zu erzählen hatte und wie es von Rattenmund zu Rattenmund wanderte, das ist so erstaunlich, dass an dieser Stelle noch viel darüber zu berichten sein wird.