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Eckensteher

Erst gehen Erdbeeren, dann Regenschirme

 

Wie tickt Poppenbüttel? Anja Knauer von „Mit Vergnügen Hamburg“ hat sich einen Tag lang an die Ecke Heegbarg/Kritenbarg gestellt. Ihre Eindrücke in Text, Bild und Ton.

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8.00 Uhr: Mario und Sina betreten ihren Arbeitsplatz, eine acht Kubikmeter große Erdbeere aus Stahl. Wie ein Fremdkörper steht sie unter dem futuristischen Plastikdach des neuen Poppenbütteler Busbahnhofs. Hier liegt ein Zentrum, an dem jeder Bewohner des weiten Hamburger Nordens irgendwann vorbeikommt: Gleich gegenüber von dem Bahnhof für Bus und S-Bahn erhebt sich eine  große Mall, das Alstertal Einkaufszentrum.

Die Chancen auf einen frühen Feierabend für Mario und Sina stehen heute gut:  sie bleiben, bis keine Ware mehr da ist. Und: Es ist Samstag und das Wetter ist schön. „Da verkaufen wir mit etwas Glück bis zu 200 Kilo Erdbeeren“, sagt Mario.

Ein 24er-Bus aus Volksdorf fährt ein, eine alte Dame in einem grünen Polohemd steigt aus, sie kauft das erste Körbchen Erdbeeren. Dann stellt sie sich direkt wieder an die Bushaltestelle für den 24er Richtung Volksdorf.

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Ein Mann und eine Frau mit Gitarre und Mandoline betreten die Brücke, die über die S-Bahn-Gleise führt. Sie stellen schweigend zwei Campinghocker und einen Notenständer auf. Eine Weile sitzen sie regungslos da. Dann nicken sie sich zu und beginnen zu spielen.

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Die S-Bahn aus Wedel fährt ein und spuckt Menschen aus, die zu den Bussen hasten. Ein kleines Mädchen mit Puppenwagen trottet verträumt hinterher und bleibt vor den Musikern stehen. Sie holt ihre Puppe aus dem Wagen, trägt sie zu der offenen Gitarrentasche und wirft ihren Stoffarm hoch — so, als würde diese Münzen in die Tasche werfen. Die Frau an der Mandoline sagt sehr ernst: „Vielen Dank“ und sieht dabei nur die Puppe an. Von den Treppen ruft es „Paula“. Das Mädchen greift Puppe und Wagen und läuft davon.

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10.30 Uhr: Eine Gruppe dunkelhaariger Männer in Anzug und Krawatte verlässt den Bäcker an der Ecke mit Kaffee im Pappbecher. Der Verkehr an der Ampel Heegbarg/Ecke Kritenbarg wird immer dichter, auf beiden Straßenseiten sammeln sich Passanten.

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Auch Ley und Shei aus Taiwan stehen an der Ampel. Sie halten Deutschland für sehr gut organisiert: „Germany is so well organized, the city, the people, – everything„, sagt Ley.

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Grün! Zwei Jungs tragen große Sporttaschen über die Straße und verschwinden im Fitnesscenter Meridian. Aus seinen geöffneten Fenstern schallen Technobeats. Dahinter zeichnen sich die Silhouetten steppender Frauen in Leggins ab.

Eine ältere Dame überquert schnellen Schrittes die Straße Richtung Alstertal-Einkaufzentrum: Ingrid, 72 Jahre alt, schlank wie ein Teenager, wache Augen. Ihr gehe es gerade sehr gut, da ihre Familie am Wochenende zu Besuch komme, sagt Ingrid. Sie müsse nur noch schnell ein paar Sachen einkaufen. „Es kommt darauf an, dass man die Menschen, die man um sich hat, von ganzem Herzen liebt“, sagt sie. Dann kommt Ingrid schnell noch auf andere Themen zu sprechen: auf ihre Zeit als erfolgreiche Geschäftsfrau und ihr Verhältnis zu Europa. Wichtig sei es, immer über den eigenen Tellerrand zu schauen.

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Dann macht Ingrid sich auf, um ihre Einkäufe zu erledigen.

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11.25 Uhr: Ein junges Paar mit Kinderwagen bleibt vor der bronzenen Walross-Statue stehen: Jaqueline und Anta , 20 und 22 Jahre alt. Ihre kleine Tochter Johanna ist seit fünf Monaten auf der Welt. Es sei alles nicht so einfach, sagt Jaqueline. „Aber wir sind sehr glücklich“. Sie wohnt im Moment im Mutter-Kind-Heim. Ihr Freund Anta kommt aus Tunesien und hat noch keine Aufenthaltsgenehmigung. Für das Baby sei es aber besser, mit beiden Elternteilen aufzuwachsen. Bald wollen sie heiraten. Auf die Frage, was sie sich für die gemeinsame Zukunft wünschen, überlegen beide lange, dann antworten sie: „Arbeit.“

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13.15 Uhr: Otto radelt über die Straße. Er wolle in die Markthalle im Einkaufszentrum, sagt er. „Für ein bisschen Mett, Kartoffeln und Gans.“ Der Mittsiebziger trägt eine große alte Porschebrille, die er in den Siebzigern auf den Kanaren gekauft hat. Die habe er erst vor Kurzem wieder aus der Schublade geholt, erzählt er — in der Zeit, in der er sich habe scheiden lassen.

Morgen gibt es bei Otto Gänsekeule mit Kartoffeln. Nur für ihn. Otto kocht gern für sich allein: „Ich bin Rentner, da ist jeden Tag Sonntag, da ist jeden Tag Weihnachten.“ Manchmal gibt es bei Otto auch Fisch, er fängt ihn frisch aus der Alster. Er sagt: „Da sind alle Fische drin: Hecht, Barsch, Forelle, Aal, Rotaugen.“ Er würde so viel fangen, dass er die Hälfte immer gleich zurück ins Wasser schmeiße: „Das kann ich alleine alles gar nicht essen.“

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Zwei Arbeiter der Stadtreinigung tragen Besen und Müllsäcke auf den Bahnübergang. Sie beginnen zu fegen, dabei lächeln sie. Ihr Arbeitstag ginge nur noch bis 14.03 Uhr, erzählen sie. Vierzehn Uhr drei, soll das ein Scherz sein? Nein, nein, das sei wirklich so, schließlich beginne ihr Arbeitstag auch immer um 6.03 Uhr. „Die drei Minuten sind halt von der Stadtreinigung eingeplant zum Umziehen und für einen kurzen Kaffee“.

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16.00 Uhr: Ein Mann mit Cap, Sonnenbrille und Kamera bleibt auf dem Bürgersteig stehen. Er blickt kritisch in den Himmel. Dicke Wolken schieben sich vor die Sonne. Der Name des Mannes: Horst. Er redet schnell und leise, als hätte er große Geheimnisse preiszugeben. Er sei in Riga geboren, lange Fotograf gewesen und habe 16 Jahre in Südamerika gelebt, sagt er. „Im Zweiten Weltkrieg war ich Flüchtling, dann Auswanderer und seit 50 Jahren bin ich als Rückkehrer wieder hier in Hamburg.“ Er hält inne, bis eine große Gruppe lärmender Jugendlicher vorbeigegangen ist. Am Schönsten sei es in Bahia gewesen, da ließe es sich gut leben — „wenn es einem denn ums Leben geht, um die Romantik, wenn man nicht nach dem Geld trachtet“.

Heute wohnt Horst in Poppenbüttel. Das sei auch ganz schön. Es hätte sich nur sehr verändert in letzter Zeit: „Immer mehr Ausländer, immer mehr Zuwanderer“, das gefalle ihm nicht so. „Also, nichts gegen Ausländer.“ Horst greift in ein abgewetztes Portemonnaie aus Krokodilleder.  Er hält zwei Dollar-Münzen und eine D-Mark in der Hand — seine Glücksbringer.  Er flüstert von Abenteuern im brasilianischen Dschungel. Dabei dreht er die Münzen in der Hand wie ein Glücksspieler.

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Eine Frau mit einem gelben Jutebeutel und einer roten Tasche kreuzt auf. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „Dream Big“. Ihre Taschen sind voll mit Äpfeln und Pfirsichen. Sie heißt Ursula und gibt mindestens zehn Euro am Tag nur für Gemüse und Obst aus. Das sei zwar mitunter etwas strapaziös für die Rente, sagt sie. Aber das müsse sein, „schließlich will ich 100 Jahre alt werden“. Ursula hat keine Kinder, sie ist Single — „und das ist gut so“. Sie sagt, sie hätte keine Lust mehr, sich unterzuordnen und große Zugeständnisse zu machen. „Ich lass mich nicht mehr verrückt machen.“

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16.51 Uhr: Wie aus dem Nichts beginnt es zu regnen.

16.52 Uhr: Eine Drogeriefachverkäuferin bei Rossmann stellt den Korb mit den Schirmen für 2,95 Euro vor die Tür.

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17.30 Uhr: Frierende Leute sammeln sich auf dem Bahnübergang, der Regen prasselt immer noch auf das Plastikdach, laut und dicht. Unter den Schutzsuchenden ist Joachim. Er trägt ein gelbes Regencape, er wollte gerade eine kleine Fahrradtour durchs Alstertal machen. Die Musiker packen Mandoline, Gitarre und Campinghocker ein und gehen runter zur S-Bahn. „Sonne ist mir lieber“, sagt Joachim.

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18.00 Uhr: Der Bäcker am Heegbarg schließt seine Türen. Die Gruppe wartender Passanten, die sich bei ihm untergestellt hatte, läuft durch den Regen auf die überdachte Brücke. Ein Frau und ihre Kinder steigen unter großen, schwarz-rot-goldenen Schirmen die Treppe hinauf.

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Ein paar Jungs in Kapuzenpullis lehnen am Geländer und rauchen. Sie haben gerade ihren Realschulabschluss gemacht.

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„Erst mal chillen“, sagt der Älteste. Drei von ihnen haben schon Ausbildungsplätze. Einer muss ein Jahr wiederholen. Was alle gemein haben: Sie wollen auf eine Goa-Party nach Wilhelmsburg.

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18.50 Uhr: Es hört auf zu regnen. Die Kassiererin bei Rossmann ist zufrieden: „18 Schirme waren es heute wohl, 17 Stück davon in den letzten zwei Stunden.“