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Eckensteher Schulterblatt

Sekt und Selfies vor der Flora

 

Wie tickt Hamburg? Um das herauszubekommen, hat sich Sophie Lagies einen Tag lang in der Sternschanze an die Ecke Schulterblatt / Juliusstraße gestellt. Ihre Eindrücke in Bild, Text und Ton

Ich habe Glück, denn für mein stundenlanges Rumlungern am Schulterblatt habe ich einen zwar kalten, aber sehr sonnigen Frühlingstag erwischt. Ich stehe vor dem Restaurant La Pazza, Schulterblatt/Ecke Juliusstraße, und beobachte wie drüben bei den Cafés die Tische und Bänke rausgetragen werden. Neben mir gönnt sich der Pizzabudenbesitzer in der Sonne sein erstes Gläschen Rotwein. Um 11 Uhr. Na gut.

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Es ist noch ruhig, zumindest für „Blatt“-Verhältnisse. Ein paar Autos brettern über das Kopfsteinpflaster, an der Roten Flora wird Polnisch gesprochen, von irgendwoher ertönt ein Schellenring.

Es riecht nach Frittenfett vom Imbiss Schmitt. Vor der Sparkasse stehen die ersten Bettler.

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Ein Wechsel auf die andere Straßenseite. Zwei junge Frauen genehmigen sich in der Frühlingssonne ein Sektfrühstück. Sabrina (25) kommt aus Bad Pyrmont und besucht gerade ihre Freundin Anna (24) in Winterhude. Gestern Nacht waren sie auf dem Kiez, erst um sechs Uhr sind sie ins Bett gekommen. Weil das Wetter so toll sei und sie sich nicht so oft sehen würden, seien sie schon um zehn Uhr wieder aufgestanden.

Nun sitzen Sabrina und Anna gegenüber der Roten Flora. Warum sind sie zum frühstücken extra in die Schanze gekommen? „Irgendwie ist das so sozial hier, alle achten aufeinander, trotz der Yuppies, die hier auch viel rumlaufen“, sagt Sabrina. Ich grinse, sie scheint sich ertappt zu fühlen. „Ja, gut, heute wirken wir selbst ein wenig dekadent, aber das ist eine Ausnahme“, sagt sie und schiebt hinterher: „Ich finde auf jeden Fall, dass die Rote Flora hierher gehört, so was darf nicht fehlen in der Schanze.“

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Mittagszeit. Immer mehr Touristen trudeln ein. Zu hören: vielerlei deutsche Dialekte, Italienisch, Englisch und Spanisch. Es wird viel Cappuccino geschlürft und Eis geschleckt. Und im Minutentakt werden Selfies vor der Flora geschossen.

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Während auf der einen Seite des Schulterblatts sonnenbebrillte Kaffeetrinker ihre Nasen in die Sonne strecken, liegt die andere im Schatten. Sechs Grad, viel wärmer ist es bei den Obdachlosen, die vor der Roten Flora liegen, jetzt bestimmt nicht.

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Früher Nachmittag. Ein Saxofonspieler stellt sich direkt vor die portugiesischen Cafés und dudelt irgendwelche mehr oder weniger bekannten Melodien. Der Geräuschpegel in der Schanze ist längst angestiegen. Wie halten das nur diejenigen aus, die oben in den Gründerzeithäusern wohnen? Wie gestalten sie ihren Alltag im Touri-Hotspot? Es hilft – Achtung, witzig – wohl nur eins: sich verschanzen.

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Ich blicke immer wieder auf die Obdachlosen, die unter einem Vordach der Flora leben. Mein Interesse an ihnen steigt parallel zu meiner Scheu, sie anzusprechen. Dann überwinde ich mich. Zwei Stufen hoch, dann stehe ich vor Jacek (44) aus Polen und Jan (57) aus der Ukraine. „Wir leben seit ungefähr 15 Jahren in Deutschland, davon sechs Jahre vor der Roten Flora“, sagt Jan mit gebrochenem Deutsch. Ich will mich setzen, doch Jacek hält mich auf: „Nicht auf den Boden, der ist dreckig, nimm lieber die Kiste.“ Hinter mir schläft ein Bewohner, eingemummelt in einen Schlafsack. Es ist 15 Uhr.

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Die Gruppe um Jacek und Jan besteht nur aus Männern. Sie können nebenan im Jesus Center essen und duschen, schlafen müssen sie aber das ganze Jahr über hier draußen. „Ein Zimmer wäre toll“, sagt Jacek. Solange er das nicht habe, bleibe er auf dem Schulterblatt. Auch wenn die meisten Leute mit gesenktem Blick an ihnen vorbeigehen würden: Hier könne man „recht gut Geld erbetteln“.

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Zurück auf der anderen Straßenseite. Ich sitze wieder vor dem La Pazza. Ein Pärchen, Mitte 20, steht direkt vor mir. Keine Chance, ihnen nicht zuzuhören. Sie essen Eis mit Plastiklöffeln. „Kackeis hier in Deutschland“, sagt er. Dann machen sie sich über die Haartransplantation von Hassan, einem gemeinsamen Bekannten, lustig: „Der sieht jetzt aus wie Ken von Barbie“, sagt sie.

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Vor Schmitt entdecke ich einen der vielen Plakatierer der Sternschanze. Marco, 41 Jahre alt, seit vier Jahren in diesem Job.

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Anfangs plakatierte Marco „nur nebenbei“, mittlerweile arbeitet er aber so viel, dass er es hauptberuflich macht. „Meistens so fünf Stunden am Tag, wenn das Wetter okay ist“, erzählt er. Bei Regen mache es keinen Spaß. „Da werden die Poster total nass, gehen kaputt. Das ist ätzend.“ Seine Aufträge erhält der Hamburger oft auf der Straße, Leute beobachten ihn bei seiner Arbeit und sprechen ihn an.

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Dann begegnet mir ein Mann, der tanzt, als würde er Goa-Musik hören. Er hat aber keinen Gettoblaster dabei, er trägt auch keine Ohrstöpsel. Er läuft an Passanten vorbei, die wegen seines wunderlichen Bewegungsdranges lächeln. Er biegt um die Ecke und verschwindet.

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Später Nachmittag. Die Kaffeeschlürfer verrücken ihre Stühle mit dem Lauf der Sonne, wie Narzissen. Dann geht es nicht mehr weiter. Die Sonne verschwindet hinter den Dächern.

Das Team von Mit Vergnügen Hamburg hat sich bereits an folgende Orten gestellt und sie multimedial festgehalten: SternenbrückeWandsbek, St. Pauli, Poppenbüttel, Jungfernstieg.