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Streiks – makroökonomisch sinnvoll

 

Jetzt also auch noch die Metaller. Nach dem öffentlichem Dienst, den Ärzten, streiken nun die Metaller, wenngleich erst mal nur für Stunden. Chaos in Deutschland? Weit gefehlt. Kapitalistische Normalität nun auch in Deutschland, lautet die wahre Interpretation.

Deutschland war immer das Land in der kapitalistischen Welt, das den Arbeitskampf nicht kannte, zumindest fiel er nie ins Gewicht. Vier ganze Tage pro Jahr auf 1000 Arbeitnehmer sind im Schnitt der vergangenen zehn Jahre für einen Streik draufgegangen. In den Vereinigten Staaten sind es 44, in Irland 78 und in Frankreich fast 100. Wenn dieses Jahr in Deutschland zehnmal mehr gestreikt würde als früher, wäre das kein Beinbruch. Im Gegenteil: Aus makroökonomischer Sicht sogar notwendig. Das soll nicht heißen, dass Streiks der Volkwirtschaft auf den ersten Blick nicht schadeten. Aber es kommt immer auf den zweiten Blick an. Wenn das Ergebnis der Streiks höhere Löhne bedeuten, dann kann die Volkswirtschaft sehr wohl davon profitieren, trotz kurzfristiger Produktionsunterbrechung.

Der Reihe nach. Warum gab es in Deutschland in der Vergangenheit so selten Streiks? Na, weil das Land bis vor kurzem nach den Regeln des Rheinischen Kapitalismus tickte (wie ich ausführlich im Beitrag „Eine Träne für den Rheinischen Kapitalismus“ versucht habe darzulegen). Das alte System war auf Konsens angelegt. Weder waren die Aktionäre am Drücker, noch die Gewerkschaften, vielleicht am ehesten die Banken, die die Deutschland AG finanzierten. Im alten System wurden die Produktivitätsgewinne aufgeteilt zwischen den beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Durch die starke Stellung der Banken wurde sogar mehr Wert auf den Cash flow denn auf die Rendite gelegt, wie einige Studien nahe legen. Das alles hat sich ab Mitte der 90er Jahre allmählich verändert, als die Shareholdervalue-Bewegung Einzug hielt. Beschleunigt wurde der Abschied vom alten System durch die Einführung des Euro und den Jahrtausend-Crash am Aktienmarkt, in dessen Folge die deutschen Banken in arge Bedrängnis gerieten und ihre Finanzierungsaufgabe vorübergehend einstellen mussten. Damit stieg der Kapitaleigner und mit ihm seine maximalen Renditevorstellungen an die Spitze der Interessenshierarchie. So wie in den meisten anderen Ländern.

Wenn es aber keinen institutionalisierten Rahmen für Kompromisse zwischen Kapital und Arbeit mehr gibt, müssen die Arbeiter ihren Forderungen Druck verleihen – und das geht nur über Streik. Ganz treffend, wenngleich unbeabsichtigt, hat das Alexander Dibelius, Deutschland-Chef von Goldman Sachs, auf einer Veranstaltung in Bad Homburg auf den Punkt gebracht. Auf die Frage, ob Unternehmen selbst das Weihnachtsgeld noch streichen müssten, nur um die Eigenkapitalrendite von 16 auf 18 Prozent zu erhöhen, sagte er sinngemäß: Dagegen spreche nichts. Auf Renditepunkte sollten Manager nur dann verzichten, wenn die Kosten eines Streiks dies rechtfertigten. Genau das ist die neue Denkweise in Deutschland und die alte im Rest der kapitalistischen Welt.

Streiks beziehungsweise die glaubhafte Drohung mit Streik sind das einzige Verhandlungsmittel, das die Arbeitnehmer in dieser Form des Kapitalismus haben. Jeder Arbeitgeberverband, jedes Unternehmen sollte sich also überlegen, in wie weit es den Forderungen der Gewerkschaft entgegen kommen möchte, um den Streik zu vermeiden.

Warum die nun drohenden Streiks, wenn sie zu höheren Löhnen führen, makroökonomisch sinnvoll sind? Die Arbeitnehmer in Deutschland haben neun Jahre Lohnzurückhaltung geübt, verdienen heute real (um die Inflation bereinigt) weniger als 1997. Für mich sprechen viele volkswirtschaftliche Größen dafür, dass Deutschland seine Anpassungskrise vom Rheinischen Kapitalismus zum ordinären Kapitalismus überwunden hat. Da ist zum einen die Entwicklung der Gewinnquote. Sie ist 2005 auf den höchsten Stand seit den 60er Jahren gestiegen. Da ist zum anderen die durchschnittliche Eigenkapitalrendite der 30 Dax-Werte. Sie liegt mit 16 Prozent auf einem Rekordhoch. Das historische Mittel beträgt zwölf. Aber auch die Entwicklung der Lohnstückkosten ist beeindruckend: Sie liegen um 8,7 Prozent unter ihrem langfristigen Durchschnitt wie die Bundesbank berechnet hat (vgl. Tabelle). Das erklärt auch die unheimlichen Exporterfolge der Deutschen Industrie.

Entwicklung der Preislichen Wettbewerbsfähigkeit
Veränderung 4. Quartal 2005

 gegenüber
 4. Quartal 1998
zum langfristigen Durchschnitt seit 1975 
in Prozent in Prozent
Deutschland  -9,5 -8,7
Belgien 7,1 3,5
Frankreich -5,2 -6,3
Griechenland 8,7 16,06
Italien 9,4 13,6
Holland 5,5 -1,95
Österreich 0,5 3,45
Portugal 3,6 13,09
Spanien 13,7 13,17

Anmerkung: Ein negatives Vorzeichen bedeutet eine Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit, bzw. gemessen am langfristigen Durchschnitt, eine günstige preisliche Wettbewerbsfähigkeit.

Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit für Lohnerhöhungen reif?

Die Schwäche Deutschlands ist seit Jahren die Binnennachfrage. Warum? Weil die Löhne stagnieren. Das muss jedem Volkwirt einleuchten! Wenn aber die Wettbewerbsfähigkeit wieder hergestellt ist, die Unternehmen klotzig verdienen, dann ist es ratsam, endlich wieder etwas für die Binnennachfrage zu tun, also die Löhne um drei bis vier Prozent zu erhöhen.

Das gewichtigste Gegenargument, das jetzt gleich kommen dürfte: Wir haben fünf Millionen Arbeitslose. Es sei geradezu zynisch für höhere Löhne zu plädieren. Denn, wie jedes Kind wisse: Die Arbeitslosigkeit verschwindet nur dann, wenn die Löhne so niedrig sind, dass die Arbeit auch nachgefragt wird. Das ist ein schön verquastes Argument der Neoklassiker, das unhaltbar ist. Sehr instruktiv in diesem Zusammenhang der heutige Gastkommentar in der FTD von Hubert Gabrisch, Leiter der Forschungsdirektion des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle. Seine zentrale These, die ich teile: Lohnzurückhaltung hilft dem Export, nicht aber der Binnenwirtschaft.

Ein weiteres Gegenargument könnte lauten: Die Binnennachfrage stiege wegen der vielen neuen Beschäftigten, die dank der Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre nun einen Job fänden. Auch hier habe ich meine Zweifel, die heute EZB-Direktor Lorenzo Bini-Smaghi in der FTD auf den Punkt bringt: Gehaltskürzungen erhöhten per saldo das volkswirtschaftliche Einkommen nur, wenn die Beschäftigung so stark steige, dass die Einbußen mehr als wett gemacht würden. „Die vorliegenden Informationen scheinen nicht zu bestätigen, dass die Bedingung derzeit erfüllt ist“, so Bini-Smaghi im O-Ton.

Wenn die Streiks zu höheren Löhnen führen, dann trägt auch Deutschland seinen Anteil zum Abbau der Ungleichgewichte in Euroland und der Weltwirtschaft bei. Denn dann wird nicht mehr nur wie verrückt ins Ausland exportiert, sondern auch wieder stärker aus dem Ausland importiert. Das lässt den unverantwortlich hohen Außenhandelssaldo Deutschlands schrumpfen. Und: Eine stärkere Binnennachfrage schützt Deutschland auch zu einem gewissen Maße vor der potenziellen Wirtschaftsabschwächung bei den großen Handlespartnern, allen voran die Vereinigten Staaten.