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Woher das Wachstum kommt

 

Drollig, wie die Untergangspropheten jetzt versuchen, Ihre in den vergangenen Jahren aufgestellten Thesen vom Niedergang der deutschen Wirtschaft zu retten. Denn das kräftige Wachstum will einfach nicht zu ihren Katastrophenszenarien passen, die nur mit Blut-Schweiß-und-Tränen-Reformen eigentlich hätten verhindert werden können.

Ich habe in den vergangenen Tagen mit einigen aufgeklärten Frankfurter Bankvolkswirten telefoniert. Alle frohlocken schon, mit welchen Kniffen, Tricks und Unverschämtheiten uns die Fraktion der Verkrustungstheoretiker und Basarökonomen in den kommenden Wochen beglücken werden. Zwei platte Strategien seien schon mal skizziert:

Das Wachstum sei zu stark, die deutsche Wirtschaft überhitze. Mehr als ein Prozent sei nicht drin, weshalb jetzt Maßnahmen gegen ein Heißlaufen getroffen werden müssten. Nein, kein Scherz. Zumindest das mit der Überhitzung („im roten Bereich“) haben die Volkswirte der Dekabank geschlussfolgert. Diese Strategie wird scheitern, sie ist einfach zu borniert.

Etwas geschickter stellen es jene wie Hans-Werner Sinn an, die jetzt von Konjunktur statt Wachstum sprechen und damit suggerieren, dass sie langfristig mit dem Niedergang Recht hätten, aber die kurzfristige Konjunktur Deutschland besser aussehen lässt. Dazu passen auch all jene Kommentare, die den Zenit im zweiten Quartal überschritten sehen und für Anfang nächsten Jahres Schlimmes befürchten. Das kräftige Wachstum ein Ausrutscher. Diese Fraktion muss man fragen, warum es bis 2006 gedauert hat, bis Deutschland endlich an der Weltkonjunktur partizipiert. Warum nicht schon 2004 und 2005 – Spitzenjahrgänge der Weltkonjunktur? Diese Frage lässt sich nicht mit dem verkrusteten Arbeitsmarkt und den nominal hohen Löhnen erklären. Denn daran hat sich in den vergangenen Jahren nichts Wesentliches geändert.

Last but not least im Wachstumszusammenhang ein großes Lob an die Volkswirte der Financial Times Deutschland (FTD). Thomas Fricke, Sebastian Dullien, Mark Schieritz und Christiane von Hardenberg haben über Jahre hinweg dem deutschen Mainstream die Stirn geboten. Sinns-Thesen mutig zerfetzt und immer wieder einen neuen Dreh gefunden, warum das, was uns all die anderen Tageszeitungen serviert haben in puncto Niedergang der deutschen Wirtschaft nicht stimmen muss, dass man auch anders auf die Probleme schauen kann.

Ich habe hier meinen Erklärungsversuch angehängt, den treue HERDENTRIEB-Leser kennen mögen. Es ist meine Story 2006, die ich im April für das Fachmagazin der Assetmanager „dpn“ aufgeschrieben habe:

DEUTSCHLANDS WUNDERSAME WIEDERAUFERSTEHUNG

Überall regt es sich in diesem angeblich so stark verkrusteten Land. Was ist nur los mir Deutschland? Große Koalition, kaum eindrucksvolle Strukturreformen und dennoch: Der Optimismus der Industrie, gemessen am berühmten Ifo-Index, liegt auf Niveaus, die zuletzt 1991 erzielt worden sind. Die Investitionen ziehen wieder an, die Beschäftigung nimmt wieder zu, obwohl die Löhne noch immer ganz weit über denen in Osteuropa liegen, von China ganz zu schweigen. Und selbst die Baubranche meldet sich zurück, obwohl das Land doch angesichts der demografischen Entwicklung angeblich keine Steinbauten mehr braucht.

Was vor sechs Monaten noch als unvorstellbar galt, ein Wirtschaftswachstum von zwei Prozent und mehr, wird immer mehr zur Gewissheit. Niemand muss sich die Augen verwundert reiben oder mit offenem Mund staunen. Erst recht sollte sich niemand lächerlich machen und versuchen, einen irgendwie gearteten Merkel-Faktor ausfindig machen zu wollen. Das ist Folklore.

Schneller Abschied vom Rheinischen Kapitalismus

Der Schlüssel zum Verständnis des Anpassungsprozesses der vergangenen Jahre sind die Finanzierungsbedingungen der deutschen Wirtschaft. Sie haben sich so grundlegend gewandelt, dass dieses Land ins Straucheln geraten ist. Innerhalb von fünf Jahren hat sich das Land vom Rheinischen Kapitalismus verabschiedet und ist zu einem ganz normalen kapitalistischen Land mutiert. Ganz plötzlich war der billige Kredit verschwunden, ganz plötzlich reichte den Kapitalbesitzern eine traditionell geringere Eigenkapitalrendite als im Rest Europas nicht mehr. Diese Anpassungskrise hat das Land zum mehrjährigen Schlusslicht verdammt. Notgedrungen ging die Anpassung von dem einen institutionellen Rahmen zum anderen mit einer enormen Umverteilung zwischen den beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital einher, die die Binnennachfrage gelähmt und das Land vom Export abhängig gemacht hat. Doch inzwischen meldet sich die Binnennachfrage zurück.

Parallel dazu scheint auch die Wiedervereinigung halbwegs verkraftet. Sie hat über ein Jahrzehnt das Wachstum massiv gehemmt. Der durch die Wirtschaftspolitik des Altkanzlers Helmut Kohl künstlich aufgeblähte Bausektor hat einen zehnjährigen Schrumpfungsprozess hinter sich mit Massenentlassungen von insgesamt rund 1.000.000 Menschen, mit einer geplatzten Immobilienblase und in letzter Konsequenz mit der Bankenkrise der Jahre 2002/2003. Jetzt sieht es so aus, als sei das Schlimmste überstanden. Der Bausektor dürfte dieses Jahr erstmals keine Wachstumspunkte mehr kosten, der Immobilienmarkt scheint sich stabilisiert zu haben und die Banken machen wieder ordentliche Gewinne.

Strukturreformer aus gutem Grund sprachlos

Kurzum: Deutschland hat seine zwei schweren Schocks, Wiedervereinigung und Euro, überstanden und es spricht nichts dagegen, dass es in diesem Land wieder aufwärts gehen kann – und nicht nur für ein Jahr. Der Boden ist bereitet. Das heißt natürlich nicht, dass die deutsche Wirtschaft immun wäre gegen einen Dollarcrash, gegen eine weltweite Wachstumsabschwächung oder ähnliches. Aber das zur Gewohnheit gewordene Starren auf den Arbeitsmarkt und seine vermeintlichen Verkrustungen bringt niemanden weiter. Der Arbeitsmarkt und der „ausufernde Sozialstaat“ waren nie das Hauptproblem der vergangenen Jahre. Es war der Kapitalmarkt und die daraus abgeleiteten Finanzierungsbedingungen. Doch so blicken die vielen Wirtschaftspropheten selten auf die Wirtschaft. Deshalb sind die Strukturreformer in letzter Zeit ob der Dynamik der Wirtschaft so sprachlos: Aus ihrer Sicht hat sich nichts Wesentliches an den Rahmenbedingungen geändert.

Der Euro hat die Karten neu gemischt

Es war die Einführung des Euros Anfang 1999: Sie hat unbemerkt den Katalysator für die grundlegende Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gespielt. Zum einen verlor Deutschland mit der D-Mark die latente Aufwertungsspekulation. Diese über Jahrzehnte berechtigte Spekulation hatte das deutsche Wirtschaftssystem lange Zeit gegenüber dem Rest der Welt abgeschottet.

Denn die Renditeanforderungen an die hiesigen Unternehmen durften geringer sein. Die Aufwertung der D-Mark hatte aus Sicht der internationalen Anlegerschaft diesen Nachteil wettgemacht.

Deutschland ist lange mit einer signifikant geringeren Eigenkapitalrendite ausgekommen als der Rest Eurolands. Wenn die Renditeanforderungen des Produktionsfaktors Kapital geringer sind, bedeutet das zwangsweise, dass mehr investiert wird und dass der Produktionsfaktor Arbeit mehr vom Kuchen abbekommen kann. Beides war lange Zeit in Deutschland der Fall.

Nicht nur die Eigenkapitalrendite lag im D-Mark-Zeitalter niedriger als heute, auch die Kreditzinsen waren relativ zu den europäischen Nachbarländern billiger. Das resultierte aus der Funktion, die die D-Mark im Europäischen Währungssystem inne hatte. Sie war die Leitwährung und konnte deshalb ihren Währungsraum mit den günstigsten Finanzierungsbedingungen versorgen. Durch die Einführung des Euros wurde dieser Vorteil nivelliert und plötzlich hatten die Unternehmen in Italien oder Spanien die selben niedrigen Finanzierungskosten. Hinzu kamen die Abschaffung der Gewährträgerhaftung für die öffentlich-rechtlichen Institute und die ganze Umstellung der Kreditvergabe auf die Anforderungen von Basel II. Alles zusammen hat die Kreditanforderungen für die Unternehmen extrem erhöht und zu dem schwachen Wachstum beigetragen.

Das Finanzierungssystem der Deutschland AG …

Während die beiden eben beschriebenen Effekte noch relativ problemlos mit jedem Standardlehrbuch für Wirtschaft erklärbar sind, ist der dritte, wichtige Mechanismus nicht ganz so offensichtlich. Denn hierbei handelt es sich eher um Corporate Governance als um Volkswirtschaft. Der Rheinische Kapitalismus war ein Wirtschaftssystem, das auf den Bankkredit aufbaute und nicht auf den Kapitalmarkt. Bis zur Jahrtausendwende hatten Minderheitsaktionäre, Fondsgesellschaften und ausländische Investoren nichts zu melden. Dafür übernahmen die Großbanken die Rolle des zentralen Koordinators. Sie finanzierten die Unternehmen mit Kredit, sie waren an den Industrieunternehmen beteiligt, sie saßen in so gut wie jedem Aufsichtsrat und gaben dem Management die Richtung vor. Es war ein System, das auf die Kontrollen der Insider setzte. Im Aufsichtsrat saßen alle Stakeholder, Großaktionäre, Banken, Gewerkschaften sowie wichtige Kunden und Lieferanten. Die Konflikte zwischen den Parteien wurden intern und im Kompromiss gelöst. Es war die berühmte Deutschland AG, die das Land regierte.

… forderte nicht die höchsten Eigenkapitalrenditen

Ein Finanzierungssystem, das auf den Bankkredit als wichtigstes Finanzierungsmedium setzt, produziert nicht auf Teufel komm raus hohe Eigenkapitalrenditen. Denn hohe Gewinne für die Aktionäre sind nicht in erster Linie im Interesse der Banken, denen es vor allem um die langfristige Bedienbarkeit der Kredite ging. Die Bilanzierungsregeln waren natürlich an den Interessen der Gläubiger, der neudeutsch Bondholder, ausgerichtet. Lieber Reserven bilden als Gewinne ausweisen. So konnten die Firmen in schlechten Jahren das Ergebnis glätten, blieben zahlungsfähig – für den Zins- und Schuldendienst sowie die Dividende. Plötzliche Werkschließungen, Massenentlassungen, hektische Verkäufe von einzelnen Beteiligungen waren unnötig. Zum einen sorgte die konservative Bilanzierung dafür, Liquiditätskrisen gar nicht erst entstehen zu lassen, zum anderen gab es den Druck des Kapitalmarktes nicht, möglichst rasch die versprochene Eigenkapitalrendite zu bescheren. Und vor feindlichen Übernahmen schützten die Überkreuzbeteiligungen.

Eichels Steuergeschenk brach die Schutzwälle

Das änderte sich peu à peu seit Mitte der 90er Jahre. Die immer stärker in deutschen Aktien investierten ausländischen Investoren, Pensions- und Investmentfonds, verlangten eine höhere Publizität, einen besseren Schutz, eine andere Vertretung im Aufsichtsrat. Als einer der ersten Konzerne verzichtete die Deutsche Bank 1995 auf die deutschen Bilanzierungsvorschriften und nutzte die gesetzliche Möglichkeit, ihre Bilanz nach dem kapitalmarktorientierten Standard IAS zu erstellen. Und natürlich hielt die Shareholder-value-Philosophie viele Verlockungen bereit. Die Vorstände, die sich bislang immer um einen Kompromiss mit ihrem Aufsichtsrat bemühen mussten und international bescheiden verdienten, wollten auch endlich ihre Bezüge globalisieren. Was gab es da Eleganteres, als den Aktienkurs zum allein seligmachenden Maßstab zu bestimmen, und damit nur noch die Interessen der Aktionäre zu bedienen? So führten zum Beispiel die Vorstände bei Deutscher Bank und Daimler Benz erstmals im Jahr 1996 Aktienoptionen ein. 1998 durften Unternehmen zum ersten Mal eigene Aktien zurückkaufen und bekamen so die Möglichkeit zu schrumpfen. 2001 wurde das Übernahmegesetz verabschiedet, das klar regelt, wie in Deutschland ein börsennotiertes Unternehmen aufgekauft werden darf. Zur selben Zeit wurde die Stellung der Banken im deutschen Modell geschwächt. Das Gesetz, das die Deutschland AG in die Auflösung schickte, war das Geschenk der Steuerfreiheit für Beteiligungsverkäufe des Ex-Finanzministers Hans Eichel. Damit brachen die Schutzwälle. Der anonyme Aktionär hatte sich auch in Deutschland von der untersten Hierarchiestufe ganz nach oben gearbeitet.

Mit mehr Streiks wäre die Metamorphose perfekt

Das einzige, was zur Vollendung der Metamorphose fehlt, sind Streiks. Wenn in den Unternehmen nicht mehr die Insider das Sagen haben und nicht mehr alle widerstrebenden Interessen im Konsens gelöst werden können, muss jeder Stakeholder schauen, wo er bleibt. Deutschland galt immer als das Land in der kapitalistischen Welt, das den Arbeitskampf nicht kannte, zumindest fiel er nie ins Gewicht. Vier ganze Tage pro Jahr auf 1.000 Arbeitnehmer sind im Schnitt der vergangenen zehn Jahre für einen Streik draufgegangen. In Amerika sind es 44, in Irland 78 und in Frankreich fast 100. Wie es scheint, gleicht sich Deutschland nun auch in diesem Punkt der angelsächsischen Welt an.

Wie die Aufreihung der kleinen Revolutionen für den Finanzmarkt Deutschland zeigt, war der Rheinische Kapitalismus schon vor der Euro-Einführung nicht richtig globalisierungstauglich. Aber erst der Euro hat den Systemwechsel hin zu einem Kapitalismus angelsächsischer Prägung erzwungen. Die Friktionen wurden nach dem TMT-Boom Ende 2001 deutlich spürbar. Was erstaunt und insofern gegen die These des verkrusteten Deutschlands spricht, ist die Geschwindigkeit, mit der sich das System von dem einen in den anderen Zustand gewandelt hat.

Die Anpassung war scharf, aber erfolgte rasch. Die Investitionen brachen in den Jahren 2002 bis 2004 regelrecht ein, genau so wie die Lohnquote, also der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der dem Faktor Arbeit zusteht. Im Gegenzug kletterte die Gewinnquote auf den höchsten Stand seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und bescherte dem eingesetzten Kapital die international übliche Rendite. Im Prinzip lief die Anpassung wie im Lehrbuch ab. Die starke Lohnzurückhaltung hat auf der einen Seite den Konsum geschwächt, auf der anderen Seite das Land zum Exportweltmeister gemacht. Die Lohnstückkosten liegen heute um satte 8,7 Prozent unter dem langfristigen Durchschnitt seit 1975!

Drei Prozentpunkte trüben die Aussicht nur ein bisschen

So stellt sich die deutsche Volkswirtschaft im Jahr 2006 runderneuert und hoch wettbewerbsfähig dar. Alle Bremsen, die dem Land über gut ein Jahrzehnt ein mickriges Wachstum beschert haben, sind gelockert: Auf der Finanzierungsseite tickt das System jetzt nach anderen Regeln, aber es tickt wieder. Auf der realwirtschaftlichen Seite lastet der Bau nicht mehr auf dem Wachstum und auch der Stellenabbau im Staatssektor, immerhin der zahlenmäßig zweitgrößte nach dem Bau während der vergangenen zehn Jahre, scheint ausgestanden. Die einzige Gefahr, die Deutschland droht, kommt von der Mehrwertsteuererhöhung im nächsten Jahr. Sie fällt mit drei Prozentpunkten etwas happig aus und könnte noch einmal etwas Schwung rauben. Abgesehen davon wird Deutschland in den kommenden Monaten und Jahren noch für so manche positive Wachstumsüberraschung gut sein.