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Niemand glaubt mehr an Supply Side-Rezepte

 

Von 1973 bis 1979 war ich im Stab der fünf „Weisen“, zu der Zeit also, als der Rat den Schwenk vom makroökonomischen Ansatz zum Monetarismus und zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik vollzog. Dreißig Jahre später, nachdem alle wirtschaftspolitischen Lehrstühle in diesem Land mit Mikro-Leuten besetzt sind, geht es wieder in die andere Richtung.

Es fehlt heute nicht an Wettbewerb, die Preissignale geben die Struktur der Nachfrage einigermaßen korrekt wieder, die Inflation ist unter Kontrolle, die Einkommensverteilung hat sich stark zugunsten des Produktionsfaktors Kapital verschoben, die Gewerkschaften haben fast jede Verhandlungsmacht verloren, der Staat hat seine Defizite beseitigt – woran mangelt es denn noch auf der Angebotsseite? Dennoch wächst die Wirtschaft weder stetig noch rasch. Am Arbeitsmarkt sieht es immer besser aus, jedenfalls wenn man nur auf die Globalzahlen schaut. Das ist die wichtigste Erfolgsstory, die sich die Angebotspolitiker gutschreiben können. Warum aber hat sich nach all diesen Jahren der Reformen nicht das Wachstum der Produktivität beschleunigt? Ganz im Gegenteil, das Wachstum sinkt im Trend, so dass das, was wir mehr an Bruttosozialprodukt erwirtschaften, zunehmend auf mehr Arbeitseinsatz statt auf mehr Effizienz zurückzuführen ist. Bisher jedenfalls. Ziemlich traurig, das. Muss es nicht Ziel aller Reformen sein, dass wir auch ohne Tag und Nacht zu arbeiten wohlhabender werden? Das scheint bisher jedenfalls nicht gelungen zu sein.

In ihrem jüngsten Monatsbericht zeigt die EZB, dass die USA, die ganz ohne ideologische Scheuklappen stets eine antizyklische Makropolitik betrieben hatten, in den letzten zwölf Jahren (1995 bis einschließlich 2006) die Wachstumsrate ihre Produktivität (reales BIP pro Arbeitsstunde) auf durchschnittlich 1,9 Prozent steigern konnten, gegenüber 1,4 Prozent in den vorangegangenen zwanzig Jahren. Euroland hat es seit 1995 nur auf 1,3 Prozent gebracht, nach 2,7 Prozent in der Vorperiode. Welch eine Enttäuschung. Die EZB argumentiert, was nicht weiter überrascht, dass es noch nicht genug Reformen gegeben hat, dass der sogenannte Lissabon-Prozess forciert werden muss. Angeblich bestehen die Probleme vor allem darin, dass die Arbeitsmärkte immer noch nicht flexibel genug sind, dass es nicht genug Wettbewerb auf den Produktmärkten gibt, dass die Eintrittsbarrieren für junge Firmen zu hoch sind und dass die Kapitalmärkte unterentwickelt sind (sic!).

Derweil hat der neue Chef des Internationalen Währungsfonds gerade den sogenannten Washington Consensus endgültig aufgekündigt. In einem Gastbeitrag in der Financial Times argumentierte Dominique Strauss-Kahn am Mittwoch, dass strukturpolitische, also erst mittelfristig wirksame Maßnahmen für den Fonds nach wie vor von größter Bedeutung sind, dass es jetzt aber angesichts der globalen Wachstumsverlangsamung auf eine wirksame antizyklische Politik ankommt. Er plädiert für einen „targeted fiscal boost“. Mit anderen Worten, Strukturpolitik ist schön und gut und immer richtig, wie Motherhood and Apple Pie, aber nicht mehr sehr relevant, wenn platzende Blasen am amerikanischen Immobilienmarkt, Bankenkrisen und eine Ölpreisexplosion die Weltwirtschaft in eine schwer zu beherrschende Abwärtsspirale schicken. Er sagt im Grunde nur das, was jemand mit gesundem Menschenverstand empfehlen würde, und was die Amerikaner ohnehin bereits machen. Auch die EZB wird in nicht allzu ferner Zukunft einen Politikschwenk vollziehen.

Auch nahezu perfekte Marktwirtschaften tendieren nicht zu störungsfreiem Wachstum, das immer rasch zum mittelfristigen Trend zurückfindet. Wie die große Depression und die endlose Deflationskrise Japans gezeigt haben, muss die Geld- und Wirtschaftspolitik frühzeitig und energisch und nicht zu zaghaft gegensteuern. Sonst kann es ewig dauern, bis die Wirtschaft wieder brummt. In der Zwischenzeit sind möglicherweise gewaltige Wachstumschancen vergeben worden. Die Leute sind am Ende viel ärmer, als sie es sein müssten, wenn die Makroinstrumente angemessen eingesetzt worden wären. Alles hat seine Zeit: Strukturpolitik braucht man immer, aber zur Krisenabwehr ist der keynesianische Ansatz nach wie vor unverzichtbar. Hüten wir uns vor den Ideologen!