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Welche Freiheit hätten’s denn gern?

 

Die USA sind in einer der schwersten ökonomischen Krisen seit der Großen Depression. Auch wenn die Wirtschaft wieder wächst, sinkt die Arbeitslosigkeit kaum. Sie stagniert auf hohem Niveau, bei etwa zehn Prozent. Das sieht auch Thomas Straubhaar, der Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts. In einem Gastkommentar hier im HERDENTRIEB hat er die schwierige Lage der USA richtig beschrieben: Die Stagnation der Beschäftigung, die Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit, die Überschuldung der Haushalte und schließlich die steigende Ungleichheit. Thomas Straubhaar meint dazu aber, die USA dürften weder ihren rudimentären Sozialstaat ausbauen noch ihre Konjunkturprogramme weiterlaufen lassen. Vielmehr müssten sie sich wieder auf den historisch erfolgreichen American Way der wirtschaftlichen Freiheit besinnen.

Wohin hat dieser American Way aber geführt? In den freiheitlichen USA, dem reichsten Land der Erde, ist die soziale Situation so schlimm wie in keinem anderen Industrieland: Die Säuglingssterblichkeit liegt weit über OECD-Durchschnitt, ebenso die psychischen Erkrankungen, die Drogensucht, die Anzahl der Menschen, die in Gefängnissen sitzen, und die Mordrate. Man könnte das als Preis der Freiheit sehen. Wenn man durch harte Arbeit nach oben käme, den sozialen Fahrstuhl also nutzen könnte, um sich den amerikanischen Traum zu erfüllen, wäre die tiefe soziale Spaltung des Landes vielleicht nicht so schmerzvoll. Aber die soziale Mobilität ist in fast keinem OECD-Land so eingeschränkt wie in den USA.

Hat der Ausfall des Sozial-Fahrstuhls, hat der reale amerikanische Albtraum etwas mit „Sozialbeglückungsprogrammen“ zu tun, wie sie Thomas Straubhaar nennt, etwa mit der Einführung eines allgemeinen Gesundheitssystems und der staatlichen Förderung von Immobilieneigentum, die Straubhaar beide skeptisch sieht? Schaut man sich die Fakten etwas genauer an, kann von sozialer Beglückung gar keine Rede sein.

Das Gesundheitssystem der USA ist „freiheitlich“, das heißt vor allem privat. Es ist aber das teuerste der OECD – und das schlechteste. Mit 16 Prozent Gesundheitsausgaben am BIP lagen die Ausgaben 2008 weit über dem OECD-Schnitt von neun Prozent. Deutschland gab etwa zehn Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Gesundheit aus. Gleichzeitig gibt es in den USA weniger Ärzte pro Einwohner, weniger Krankenbetten, eine geringere durchschnittliche Lebenserwartung als im OECD-Schnitt und die vielen schon geschilderten anderen Gesundheitsprobleme.

Dazu kommt aber noch, dass vor Obamas Gesundheitsreform fünfzehn Prozent der Amerikaner gar keine Krankenversicherung hatten. Es ist kein Wunder, dass der wichtigste Grund für die Überschuldung und die Privatinsolvenz vieler Amerikaner eine lange Krankheit und explodierende medizinische Kosten sind. Ist es der Marsch in den europäischen Sozialstaat, wenn Präsident Obama und seine „staatsgläubigen“ Ökonomen es nun geschafft haben, dass kein Amerikaner mehr auf eine Krankenversicherung verzichten muss – wie es in jedem anderen industrialisierten Land, ob in Europa, Asien oder Kanada, der Fall ist?

Wie sieht es auf dem Immobilienmarkt aus? Hätte dort mehr Freiheit zu einer Vermeidung der Krise geführt? Wenn deutsche Ökonomen über die Förderung des US-Immobilienbesitzes reden, meint man zuweilen, in den USA sei der Staatssozialismus ausgebrochen. Ein Blick auf die Fakten zeigt aber, dass das definitiv nicht der Fall ist. Viele Kommentatoren scheinen immer wieder zu vergessen, dass es vor allem die großen privaten Geschäfts- und Investmentbanken waren, die die hoch riskanten Hypothekenkredite zweifelhafter Qualität (sub-prime) gekauft haben.

Die vor der Krise ebenfalls privaten – und gerade nicht staatlichen – Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac standen auch nicht hauptsächlich hinter dem Hypothekenboom. Die beiden Organisationen, die Banken Hypotheken abkaufen, sollten allein die Liquidität des Kreditmarktes erhöhen. Die beiden Finanzierer kauften aber hauptsächlich nicht – wie Thomas Straubhaar schreibt – besondere Risikokredite, sondern die Kredite, die unter hohen Auflagen vergeben wurden, so genannte Prime-Kredite. Der Name Sub-Prime kommt nämlich genau von den Krediten, die Fannie und Freddie nicht kaufen durften.

Es stimmt, dass die Bush-Regierung den Finanzierern 2004 auch erlaubte, Sub-Prime-Hypotheken zu kaufen – da war der Immobilienboom aber schon fortgeschritten, und zwar getrieben durch private Investmentbanken, die hauptsächlich die Finanzkrise hervorgerufen haben. Die Entscheidung der Bush-Regierung war freilich ein schwerer politischer Fehler und die Verstaatlichung von Freddie und Fannie die Folge.

Dass es aber überhaupt dazu kam – man muss wohl wieder daran erinnern –, dass Banken ohne Auflagen Hypotheken vergeben haben, die dann vor allem von den Investmentbanken verpackt und weiterverkauft wurden, hatte etwas mit der „Befreiung“ des US-Finanzmarktes zu tun. Diese Befreiung kam nach der faktischen Pleite der Sparkassen Ende der 70er Jahre, die in der Nachkriegszeit das Gros der Hypotheken vergeben hatten.

Die freiheitliche Reagan-Regierung hatte die Sparkassen unter Lobby-Druck nicht bankrott gehen lassen, sondern stark dereguliert, so dass sie große Risiken mit hohen Ertragschancen eingehen konnten – was dann in eine noch größere Pleite geführt hat. Die finanziellen Folgen des Sparkassenscheiterns mussten auch schon damals, Anfang der 90er Jahre, die Steuerzahler tragen. Man hätte schon damals sehen können, was ein „freiheitlicher“ Finanzmarkt anrichten kann.

Die weitere Expansion des Finanzmarktes, die Konzentration der Banken, die Explosion der Bankprofite und die stetig steigende politische Macht der Finanzbranche haben zur Krise geführt – nicht die Sozialbeglückung oder der sozialpolitische Traum Roosevelts. Auch deswegen ruft der ehemalige Chefvolkswirt des IWF, Simon Johnson – bis jetzt vergeblich – dazu auf, die großen Banken zu zerschlagen und zurechtzustutzen. Wo sind die deutschen Ordoliberalen, die das unterstützen?

Aber noch ein paar Worte zur Konjunkturpolitik. Thomas Straubhaar schreibt „dass es klüger wäre, als mit weiteren Milliarden die Wirtschaft mit Konjunkturspritzen therapieren zu wollen, an die Wurzeln des strukturellen Problems zu gehen.“ An die Wurzeln zu gehen hieße dann – wenn ich richtig verstanden habe – in neue Technologien und Bildung zu investieren. Gegen beides kann man kaum etwas einwenden. Aber was meint Herr Straubhaar, würde passieren, wenn der US-Staat nicht weiter die Wirtschaft stützen würde? Wie hoch läge dann die Arbeitslosigkeit? Bei fünfzehn, zwanzig oder dreißig Prozent?

Herr Straubhaar, wie soll es in den USA ohne Konjunkturprogramme, ohne wenigstens eine gewisse Ausweitung des Sozialstaats weitergehen? Wo sollen die Jobs herkommen? Wie kann die Armut abgebaut werden, die in der Krise wieder stark gestiegen ist? Wie kann der soziale Fahrstuhl repariert werden? Das sind schwierige und ernste Fragen. Mit dem Ruf nach Freiheit allein wird man sie nicht beantworten können.