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Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle

 

Das ist in diesen Tagen sicher nicht das aktuellste Thema, und auch nicht eins, bei dem ich mich als Experte fühle. Hier im Blog haben wir immer wieder diskutiert und uns darüber gewundert, dass die Reallöhne in Deutschland ebenso wie in den meisten anderen reichen Ländern seit vielen Jahren stagnieren oder sogar zurückgehen, und das bei positiven gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten. Die Einkommensverteilung wird immer ungleichmäßiger und die Gefahr besteht, dass sich eine Unterschicht bildet, deren Angehörige de facto keine Aufstiegschancen haben. Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle wäre ein Instrument, mit dem sich dieser gefährliche Trend stoppen ließe, als Alternative zu einem noch komplexeren Ausbau des heutigen Sozialstaates oder etwa zu einer negativen Einkommensteuer.

Meine Ausgangsthesen lauten, erstens: Die Einkommensunterschiede werden als Folge der immer intensiveren internationalen Arbeitsteilung weiter zunehmen, wenn nichts dagegen unternommen wird, und zweitens: Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein Ansatz, den es sich näher anzuschauen lohnt und keineswegs eine weltfremde Idee von irgendwelchen Sozialromantikern.

Zum ersten Punkt: Haben wir nicht gelernt, dass der freie Welthandel uns alle reicher macht, dass er den Fortschritt, die Produktivität und damit den Lebensstandard fördert? Auf einmal soll er schuld sein an der relativen, wenn nicht sogar absoluten Verarmung der unteren Einkommensschichten? Lässt sich das belegen?

Das deutsche reale Bruttoinlandsprodukt expandiert im Trend mit einer Rate von etwa 1 1/2 Prozent jährlich. Dabei können die oberen Einkommensschichten ihre Einkommen um Einiges rascher steigern, die breite Mittelschicht verbessert sich mehr oder weniger so rasch wie das BIP, während die ärmeren Schichten sich mit kleineren Steigerungsraten begnügen müssen oder real sogar verlieren.

Die Besserverdiener sind die Eigentümer von Kapital sowie gut qualifizierte Arbeitnehmer in Sektoren, die sich im internationalen Wettbewerb mit ihren Produkten durchsetzen können, für die unteren Einkommensschichten gilt dagegen, dass sie immer mehr in direkter Konkurrenz zu den schlecht bezahlten Arbeitern in China, Indien, Polen oder Rumänien stehen. „Produktionsverlagerung“ heißt die Peitsche, mit der sie in den Lohnverhandlungen bedroht werden. Es ist der vielleicht wichtigste Grund, warum die Gewerkschaften so schwach sind.

Was steckt dahinter? Spätestens seit 1941, als Wolfgang Stolper und Paul Samuelson das nach ihnen benannte Theorem des Außenhandels veröffentlichten, ist unter Ökonomen allgemein bekannt, dass Preisänderungen von international gehandelten Gütern die relativen Preise von Arbeit und Kapital in den betroffenen Ländern verändern.

Konkreter, wenn für relativ kapitalreiche Länder wie Deutschland die Einfuhren aus China oder Indien durch Zollsenkungen, Aufwertungen, sinkende Frachtkosten und verbesserte Marktinformationen ständig billiger werden, sinken tendenziell die Arbeitseinkommen in den Sektoren, mit deren Produkten diese zumeist arbeitsintensiv produzierten Einfuhren konkurrieren. Auch die Beschäftigung geht in diesen Sektoren zurück, was wiederum den Angebotsdruck auf dem Arbeitsmarkt insgesamt erhöht und Lohnsteigerungen vor allem bei „falsch“ oder wenig qualifizierten Arbeitnehmern verhindert.

Noch anders ausgedrückt: Die internationale Arbeitsteilung fördert durch die Spezialisierung und den Zwang, wegen des Wettbewerbsdrucks ständig die Produktivität zu steigern, das mittelfristige Wirtschaftswachstum und damit die Summe dessen, was jährlich an die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital verteilt werden kann, ist also etwas Positives. Gleichzeitig aber lässt sich nicht vermeiden, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die ohne Hilfe der Solidargemeinschaft ihre Jobs und Einkommen verlieren. Offene Grenzen sind gut, aber nicht für Alle.

Wenn ich mit meiner Sichtweise Recht habe, dass es sich dabei um einen nicht umkehrbaren Trend handelt, muss die Wirtschaftspolitik aktiv werden. In einer reichen demokratischen Gesellschaft kann nicht hingenommen werden, dass sich eine große Unterschicht bildet. Chancengleichheit muss wenigstens ansatzweise gegeben sein. Womit wir beim bedingungslosen Grundeinkommen für alle wären.

Das Thema ist nicht neu. Seit Jahrhunderten haben sich Philosophen, Soziologen, Politikwissenschaftler und Ökonomen damit beschäftigt. Es gilt seit Thomas Morus als eine schöne Utopie und wird, wie das so ist, von der Mehrheit der Bevölkerung als weltfremdes Gedankenspiel abgetan. Im zweiten Brief des Paulus an die Thessaloniker (3, 10) heißt es: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Das bedingungslose Grundeinkommen für alle ist nichts, was uns die Bibel empfiehlt. Heiner Flassbeck nennt es eine Idee aus dem Mottenschrank (in: Wirtschaft und Markt, Januar 2007). Auch unsere geschätzten Freunde von den NachDenkSeiten haben mit dem Thema nichts am Hut („Das unbedingte und universelle Grundeinkommen stellt keine realistische Alternative zur Reform des deutschen Sozialstaats dar“, 13. Dezember 2006). Durch die immer größere Kluft zwischen Arm und Reich ist es aber auf einmal wieder aktuell geworden.

Es ist unmöglich, die vielen Vorschläge zu bewerten, die inzwischen vor allem in Deutschland im Umlauf sind. Sie kommen von Seiten der CDU, den Grünen, verschiedenen Forschungsinstituten und von einem Unternehmer wie Götz Werner, aber noch nicht, so viel ich weiß, von der SPD, der CSU, den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften. Wichtige Vordenker aus der jüngeren Vergangenheit, wie Milton Friedman, Ralf Dahrendorf und Bertrand Russell, kommen ebenfalls aus sehr unterschiedlichen Lagern.

Laut Finanzminister Schäuble betragen die gesamten Ausgaben für Sozialleistungen auf die Anzahl der Bevölkerung bezogen pro Jahr mehr als 12.000 Euro pro Kopf. Das sind rund eine Billion Euro, bei einem Sozialprodukt von 2,5 Billionen. Warum diese gewaltige Verfügungsmasse nicht nutzen für eine Vereinfachung des Systems, den Abbau der Bürokratie und vor allem dafür, dass jene, die im globalen Wettbewerb auf der Verliererseite stehen, so entschädigt werden, dass sie ein Leben in Würde und Freiheit führen können, wie es der Artikel 1 unseres Grundgesetzes verspricht?

Das „Netzwerk Grundeinkommen“ hat im Oktober 2008 in einer vergleichenden Übersicht der verschiedenen Modelle des bedingungslosen Grundeinkommens so etwas wie eine Legaldefinition geliefert. Es handelt sich danach um „einen Anspruch auf einen monetären Transfer eines jeden Menschen gegenüber dem politischen Gemeinwesen …, der folgenden Kriterien entspricht: Der Transfer muss die Existenz sichernd sein und eine gesellschaftliche Teilhabe (im Sinne einer Mindestteilhabe) ermöglichen. Auf ihn besteht ein individueller Rechtsanspruch. Er ist ohne eine Bedürftigkeitsprüfung, ohne einen Zwang zur Arbeit und ohne einen Zwang zu anderen Gegenleistungen garantiert.“ (S.4)

Damit sind weder die Bedürftigkeit, noch der Familienstand noch die Einkommenslage eine Bedingung für den Geldtransfer. In einer vierköpfigen Familie hätten alle Vier einen Anspruch. In den meisten Modellen ist für Kinder weniger vorgesehen als für Erwachsene, für die sich die monatlichen Zahlungen je nach Modell auf 600 bis 1000 Euro belaufen sollen.

Es ist umstritten, wie das zu finanzieren wäre. In allen Vorschlägen ist eine starke Vereinfachung des Steuersystems ein wichtiges Element. Meist wird bei der Einkommensteuer eine „flat tax“ mit einem Satz zwischen 25 und 60 Prozent vorgesehen, dem schon der erste Euro aus Arbeits-, Kapital- und Mieteinkommen unterworfen wird. Abzugsmöglichkeiten in den Steuererklärungen würden komplett entfallen. Das Grundeinkommen wäre dann für die Besserverdienenden eine Art Freibetrag. Wenn die „flat tax“ zu hoch ist, dürfte es allerdings Probleme mit der Kapitalflucht geben, so dass eine Kombination von Mehrwertsteuer und Einkommensteuer am sinnvollsten erscheint. Auch die Mehrwertsteuer kann natürlich nicht beliebig angehoben werden, weil andernfalls noch mehr schwarz gearbeitet würde und der Anreiz, für den mehrwertsteuerbefreiten Export zu produzieren, noch größer würde.

Ersparnisse gibt es natürlich durch den Wegfall des Arbeitslosengelds I und II, der Sozialhilfe, der Rente, der Ausbildungsförderung, des Kindergelds, des Elterngelds und etwa hundert weiterer Sozialtransfers, sowie den radikalen Abbau der Sozialbürokratie. Es bestünde aber die Pflicht für alle, in eine Krankenversicherung einzuzahlen. Niemand wäre mehr arbeitslos. Jeder kann arbeiten, auch für wenig oder kein Geld, müsste aber nicht.

Die entscheidende Frage ist, ob das Sozialprodukt durch ein solches System eher steigen wird als sinken, ob es also mehr oder weniger zu verteilen gäbe als vorher. Was, wenn sich auf einmal alle, oder jedenfalls mehr Leute als heute auf die faule Haut legen? Oder aufhören, etwas zu lernen, mit dem sich Mehrwert und Zusatzeinkommen schaffen lassen? Diesen Bedenken lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass man mit einem relativ kleinen Betrag, sagen wir 200 Euro monatlich, startet und sich mal ansieht, wie die Reaktion ist.

Vermutlich sollte man aber nicht zu pessimistisch sein: Der Mensch ist ein Wesen, das tätig sein will. Die Meisten freuen sich, wenn sie etwas Nützliches zustande bringen und von den Anderen dafür respektiert werden. In Umfragen erklären 90 Prozent der Befragten, dass sie auch bei einem auskömmlichen Grundeinkommen weiter arbeiten würden.

Das bedingungslose Grundeinkommen hat einige absehbare ökonomische Effekte:

1. Aus mehreren Gründen würde die gesamtwirtschaftliche Produktivität steigen: Da es im Vergleich zu heute weniger sozialpolitisch motivierte Markteingriffe gäbe, würde die Effizienz steigen. Unangenehme Arbeiten müssten viel besser bezahlt werden als heute, beispielsweise in der Krankenpflege, in der Alterspflege, in der Landwirtschaft – manches würde dadurch teurer, anderes würde effizienter hergestellt. Die Erwerbsquote der Frauen wird kräftig steigen, so dass sich die durchschnittliche Qualifikation der Erwerbstätigen erhöht. Auch die geographische Mobilität dürfte zunehmen, so dass es am Arbeitsmarkt zu einem besseren Ausgleich von Angebot und Nachfrage kommt. Deutschland würde für qualifizierte Ausländer ein attraktiveres Einwanderungsland (trägt dazu bei, dass sich die Erwerbsquote erhöht – es gäbe verhältnismäßig mehr jungen Leute, die die ältere Generation unterstützt).

2. Ob die Anzahl der Arbeitsstunden zunehmen oder abnehmen wird, ist weniger sicher. Würde mehr (für Lohn und Gewinn) gearbeitet als zuvor, wäre das natürlich ein Traumresultat: mehr Stunden plus höhere Produktivität gleich stärkerer Anstieg des realen Sozialprodukts gleich ein größerer zu verteilender Kuchen. Vermutlich wird die Zeit, die mit bezahlter Arbeit verbracht wird, aber zurückgehen, dafür gäbe es mehr ehrenamtliches Engagement. Es muss Vorsorge getroffen werden, dass das Volumen der „normalen“ Arbeit nicht zu sehr sinkt, etwa durch steuerliche Anreize, damit die Sache finanzierbar bleibt.

3. Ein wesentlicher Effekt besteht natürlich darin, dass den Menschen die Angst vor der Zukunft genommen würde, jedenfalls ein wichtiges Teilelement dieser Angst. Niemand braucht mehr zu befürchten, zu verarmen oder im Falle längerer Arbeitslosigkeit oder Krankheit von den Behörden gezwungen zu werden, sein Haus zu verkaufen oder seine Ersparnisse aufzulösen. Das dürfte die Ausgabenquote erhöhen und damit dazu beitragen, die nach wie vor sehr große, angeblich strukturelle Outputlücke zu füllen.

Wie gesagt, es lohnt sich, angesichts unserer offenen Grenzen und der dadurch wesentlich mitverursachten Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen über ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle weiter nachzudenken. Für einen Volkswirt wie mich gibt es da keine unüberwindbaren Hürden. Auch die Umweltbewegung wurde anfangs nicht ernst genommen – inzwischen ist sie im Mainstream angekommen.