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Die USA werden nicht von der Klippe springen

 

Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Der Internationale Währungsfonds hat in dieser Woche seinen halbjährlichen World Economic Outlook vorgelegt, in dem er seine Wachstumsprognosen vom Frühjahr deutlich nach unten revidiert hat. Die Weltwirtschaft wird viel langsamer expandieren als vor der Krise, vor allem die reichen Länder kommen einfach nicht in Schwung. Außerdem könnten die Prognosen demnächst noch weiter nach unten revidiert werden. Vor allem zwei unkalkulierbare Risiken sprechen dafür: die Krise des Euro und die (der?) sogenannte „fiscal cliff“ in den USA. Was Letzteres angeht, wird es Anfang nächsten Jahres zu einem 600 Milliarden-Schock aus Steuererhöhungen und staatlichen Ausgabenkürzungen kommen, wenn sich der Kongress nicht endlich zusammenrauft und einen Kompromiss findet. Es geht um knapp vier Prozent des Sozialprodukts (von 15,6 Billionen Dollar).

Ein Nachfrageausfall in dieser Größenordnung würde unweigerlich zu einer neuen Rezession und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Das Haushaltsbüro des Kongresses schätzt, dass das reale Sozialprodukt 2013 etwa 0,5 Prozent niedriger ausfallen würde als in diesem Jahr und dass die Arbeitslosenquote von zuletzt 7,8 Prozent auf neun Prozent steigen könnte. Gegenwärtig sieht die Prognose des Währungsfonds noch eine durchschnittliche Zuwachsrate des realen BIP von rund zwei Prozent vor, so wie in diesem Jahr. Auch die Prognosen anderer Analysten bewegen sich in dieser Größenordnung.

Beim „fiscal cliff“ handelt es sich konkret um eine Reihe von finanzpolitischen Gesetzesänderungen, die Ende dieses Jahres automatisch in Kraft treten, es sei denn die Politiker einigen sich vorher auf Alternativen. Vor allem geht es um ein Auslaufen aller Steuersenkungen, die von der Bush-Regierung beschlossen worden waren, sowie um ein Auslaufen der befristeten Senkung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung. Hinzu kommen pauschale Ausgabenkürzungen im Staatshaushalt, die sich in den kommenden zehn Jahren auf insgesamt 1,2 Billionen Dollar belaufen. Als die Gesetze ursprünglich beschlossen wurden, war noch angenommen worden, dass die Konjunktur Anfang 2013 schon wieder so robust sein würde – und die Inflation so hoch -, dass ein restriktiver finanzpolitischer Effekt genau zur rechten Zeit käme. Das hat sich als Wunschdenken erwiesen. Die stotternde Wirtschaft braucht im Grunde einen kräftigen fiskalischen Impuls, weil die Geldpolitik nach wie vor ziemlich wirkungslos ist: Für einen großen Teil der Haushalte hat die Reduzierung ihrer Schulden Priorität. Da lassen sie sich kaum durch noch so niedrige Zinsen zur Neuverschuldung und Geldausgeben verleiten.

Andererseits dürften die Gesamtschulden des amerikanischen Staates laut Währungsfonds 2012 rund 107 Prozent des Sozialprodukts erreichen, bei einem Haushaltsdefizit von immer noch 8,7 Prozent. Das sind deutlich höhere Zahlen als beispielsweise die des Euroraums. Die Kreditwürdigkeit der USA ist nicht mehr das, was sie einst war. Ein Abbau von Schulden und Defiziten wäre daher geboten. Amerikanische Politiker machen sich aber in dieser Hinsicht kaum Sorgen. Schließlich ist der Dollar fest, und die Zentralregierung kann zehnjährige Anleihen mit der geradezu sensationell niedrigen Rendite von 1,7 Prozent auflegen. Die Marktteilnehmer halten die Finanzpolitik ganz offensichtlich immer noch für supersolide.

Im Hauptszenarium des IWF wird nicht zuletzt deswegen die Annahme getroffen, dass Kongress und Präsident kurz vor der Klippe innehalten. Das staatliche Defizit wird hoch bleiben. In der jüngeren Vergangenheit wurden immer wieder apokalyptische Entwicklungen beschworen, vor allem wenn sich der Kongress weigerte, die Obergrenze für die Staatsschulden anzuheben – das ist jetzt übrigens auch wieder ein Thema. Dann wurden die Staatsdiener für ein paar Wochen nicht bezahlt und einige Museen mussten schließen, aber unter dem Druck der öffentlichen Meinung kam es dann doch stets zu den nötigen Kompromissen. Hier entsteht gerade eine neue Art von amerikanischer Folklore, ein politischer Entscheidungsprozess mit eingebauten dramatischen Elementen.

Diesmal wird es nicht anders sein. Offenbar signalisieren einige Republikaner bereits, dass sie über höhere Steuern für die Reichen mit sich reden lassen könnten, obwohl gerade das für sie eigentlich ein Tabu ist. Tabus sind aber dazu da, gebrochen zu werden. Bei den Reichen handelt es sich nach übereinstimmender Meinung um Leute, die mehr als 250.000 Dollar im Jahr verdienen. „Tax the rich!“ ist jedenfalls eine wichtige Forderung sowohl von Obama als auch seiner Demokratischen Partei. Sie kommt im Wahlkampf bisher sehr gut an. Die Besserverdienenden sind nicht mehr die bewunderten Vorbilder von einst, sie verkörpern weniger den amerikanischen Traum vom Tellerwäscher, der Millionär werden kann, als vielmehr die eigentlichen Verursacher der Krise. Vor allem die Finanzakrobaten von der Wall Street sind bei der Mehrheit der Bevölkerung unten durch.

Für die Republikaner, also die konservativen Politiker, ist es offenbar wichtig, dass das äußerst komplizierte und von Ungereimtheiten durchlöcherte Steuerrecht vereinfacht wird. Sie würden wohl eine ganze Reihe wichtiger Steuerschlupflöcher schließen, auch wenn sich dadurch de facto ihre Steuerlast erhöht. Sie fordern aber im Gegenzug einen sehr moderaten Anstieg der Staatsausgaben.

Insgesamt sieht es nicht danach aus, als würden die Amerikaner von der fiskalischen Klippe springen. Ihr Selbsterhaltungstrieb und ihr Pragmatismus sind dann doch zu stark. An den Finanzmärkten gibt es keinerlei Anzeichen, dass es Probleme geben könnte. Wie gesagt, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.