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Warum die Inflationsrate nicht viel niedriger ist

 

Der Internationale Währungsfonds geht in seinem neuen World Economic Outlook einer Frage nach, die mich auch schon seit einiger Zeit beschäftigt: Warum herrscht im Euroland, in Deutschland oder in den USA nicht schon längst Deflation? Wenn die Inflation so reagiert hätte, wie es die ökonomische Analyse der siebziger Jahre und die daraus abgeleiteten Modelle hätten erwarten lassen, müsste das Preisniveau eigentlich fallen – so wie das in Japan seit 20 Jahren der Fall ist. Offenbar haben sich die volkswirtschaftlichen Wirkungsmechanismen stark verändert. In seinem Bericht zeigt der IWF, dass die amerikanischen Inflationsraten bereits seit 2010 im negativen Bereich liegen müssten, wenn sich deren Entwicklung auch heute noch mit den Modellparametern der siebziger Jahre adäquat beschreiben ließe – für Ende 2011 ergäbe das im Vorjahresvergleich eine Inflationsrate von etwa -3 Prozent. Minus drei!

Grafik: WEO, Tatsächliche unf prognostizierte Inflationsraten der USA
WEO, Tatsächliche unf prognostizierte Inflationsraten der USA

Die aktuelle Inflation wird nach meinem Verständnis vor allem von der Outputlücke bestimmt, der Differenz zwischen der aktuellen und der potenziellen gesamtwirtschaftlichen Produktion, also dem Auslastungsgrad der Kapazitäten. Je größer die Lücke, desto schärfer ist der Wettbewerb: Die Unternehmen versuchen durch Kampfpreise ihre Produktion zu steigern, um so die Kosten pro Stück zu senken und ihre Gewinnsituation zu verbessern. Mit anderen Worten, sie haben nur einen geringen oder gar keinen Spielraum für Preiserhöhungen. Die Auslastung entscheidet zudem darüber, wie sich Beschäftigung und Arbeitslosigkeit entwickeln. Und davon wiederum hängt es ab, wie stark die Löhne steigen. Sie sind der bei Weitem wichtigste Kostenfaktor und waren bisher sehr eng mit der Inflation auf der Verbraucherebene korreliert. Hohe Lohnsteigerungen gleich hohe Inflationsraten, und umgekehrt.

Wie die folgenden Schaubilder zeigen, sind die Outputlücken gewaltig, wenn man nicht gerade die Annahme macht, dass die Wachstumsrate des Produktionspotenzials nach 2008 drastisch gesunken ist. Warum aber sollte es zu einem solchen Einbruch gekommen sein? Die Trends von Produktivität und Arbeitskräftepotenzial, den Komponenten in gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktionen, sind eigentlich recht stabil, ändern sich also nicht von einem Jahr auf’s andere, so dass der potenzielle Output normalerweise selbst während einer Rezession zunimmt.

Grafik: BIP und Trend des Produktionspotenzial der USA
GRafik: BIP und Trend des Produktionspotenzial in Euroland
Grafik: BIP und Trend des Produktionspotenzial Deutschlands

Legt man die Wachstumsprognosen des IWF zugrunde, wird das reale Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr in den USA als auch im Euroland um rund 10 Prozent unter seinem Potenzial liegen, und das von Deutschland um etwa 6 Prozent. Selten waren die Lücken so groß. Ein Blick auf die Beschäftigung bestätigt diesen Befund. Sowohl in den USA als auch im Euroland sieht es am Arbeitsmarkt sehr trübe aus. Was die USA angeht, ist das einigermaßen überraschend. Die US Beschäftigung liegt noch immer unter ihrem Niveau von 2007, obwohl das reale Sozialprodukt seit 2010 ziemlich stetig mit jährlichen Raten von zwei Prozent zunimmt. Anders als in Euroland, wo nach einer kurzen Erholungsphase schon wieder Rezession herrscht. Deutschland ist ein erfreulicher Sonderfall: Durch die Kooperation zwischen Unternehmen, Betriebsräten und Gewerkschaften sowie die Strukturreformen zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts ist die Anzahl der Beschäftigten trotz der deutlichen Wachstumsverlangsamung fast unaufhaltsam gestiegen.

Grafik: Beschäftigungsentwicklung in den USA, Euroland und Deutschland seit 1991
Beschäftigungsentwicklung in den USA, Euroland und Deutschland seit 1991

Die nächsten Schaubilder zeigen, dass sich die Inflationsraten im Verlauf der sogenannten „großen Rezession“ nach dem Einbruch im Jahr 2009 in einer Spanne von 1 bis 2,5 Prozent eingependelt haben. Für das Jahr 2013 erwartet der IWF für die USA 1,8 Prozent, für Euroland 1,7 Prozent, und 1,6 Prozent für Deutschland. Von Deflation also keine Spur. Für den IWF wird sich daran auch mittelfristig nennenswert nichts ändern: Die prognostizierten Inflationsraten bis 2018 liegen in einer Spanne zwischen 1,5 und etwas über 2 Prozent.

Grafik: Lohn- und Preisinflation in den USA, 1971-2012
Grafik: Lohn- und Preisinflation in Euroland, 1992-2012
Graqfik: Lohn- und Preisinflation in Deutschland, 1992-2012

Einen Grund für die anhaltende Inflation im positiven Bereich sieht der IWF darin, dass es trotz der Probleme am Arbeitsmarkt keinen Rückgang der Löhne geben dürfte. Warum das? Weil es inzwischen so viele Langzeitarbeitslose gibt! Die haben, meint der IWF, weitgehend ihre beruflichen Qualifikationen verloren. Die sogenannte strukturelle Arbeitslosigkeit sei dadurch stark gestiegen. Zu denken ist an Bauarbeiter, Banker, Buchhändler oder Fließbandarbeiter in der Autoindustrie, ganz abgesehen von den vielen jungen Leuten, die von vornherein außerhalb des regulären Arbeitsmarkts bleiben. Sie konkurrieren angeblich nicht mehr um offene Stellen und üben daher keinen Druck auf die Löhne und Gehälter der Beschäftigten aus. Wer einen Job habe, sei daher in einer entsprechend günstigen Verhandlungsposition und könne auskömmliche Lohnerhöhungen durchsetzen. Im Umkehrschluss hieße eine hohe „natürliche“ Arbeitslosigkeit übrigens, dass die Outputlücken kleiner wären als in den obigen Schaubildern dargestellt. Die Inflation könnte demnach in einer kommenden Expansionsphase rascher anspringen als erwartet. Diese Gefahr bestehe aber nicht, so der IWF, weil die Inflation nicht mehr so stark auf Schwankungen im Auslastungsgrad reagiere wie früher. Was unter anderem mehr Spielraum für wirtschaftspolitische Stimulierungen schaffe.

Der IWF vermutet zudem, dass die nationale Kapazitätsauslastung für die Inflation weniger wichtig ist als die globale. Die internationale Arbeitsteilung nimmt ja weiterhin in großen Schritten zu, so dass das Konzept des Inlandsmarkts immer weniger relevant ist. Der IWF geht nicht näher darauf ein – er müsste Belege dafür haben, dass der Auslastungsgrad der Weltwirtschaft höher ist als der der USA oder Eurolands. Ich kann das nicht erkennen. Ganz im Gegenteil, durch die vielen hundert Millionen Menschen, die in den Schwellenländern noch aus der Landwirtschaft in die städtischen Berufe und die Industrie abwandern werden, sowie die hohen Zuwachsraten der Produktivität, ergibt sich ein enormer Druck auf die Preise international handelbarer Waren und Dienstleistungen. In den USA lagen die Einfuhrpreise zuletzt um nicht weniger als 2,7 Prozent unter ihrem Vorjahreswert, in Deutschland um 2,3 Prozent (wie das Stat. Bundesamt am Freitag mitgeteilt hat). Das bedeutet, dass von der Außenwirtschaft zurzeit deflationäre Effekte ausgehen – jedenfalls deutet nicht viel darauf hin, dass aus dem Rest der Welt Inflation importiert wird. Das Argument des IWF taugt also nicht viel zur Erklärung der erstaunlich hohen aktuellen Inflation in den reichen Ländern.

Der Währungsfonds hat einen zweiten Pfeil im Köcher: Es sei den Notenbanken gelungen, die Inflationserwartungen bei etwa zwei Prozent fest zu verankern. Dafür spricht vor allem, dass sich die tatsächlichen Inflationsraten in den OECD-Ländern seit rund zwanzig Jahren um diese Marke pendeln. Die Tarifparteien gingen inzwischen davon aus, dass das so bleiben wird und sie sich daran zu orientieren haben, es sei denn sie haben eine besonders schwache oder starke Position im Markt. Inflation ist irgendwie kein Thema mehr. Wenn die EZB oder die Fed sagen, wir peilen eine Inflationsrate von zwei Prozent an, werde ihnen das geglaubt.

Wenn ich mir allerdings die Rentenmärkte ansehe, komme ich zu deutlich anderen Ergebnissen. In den USA, Kanada und Großbritannien beispielsweise liegt die Rendite zehnjähriger Staatsanleihen gegenwärtig bei 1,7 Prozent. Normalerweise enthält sie einen Aufschlag von vielleicht 0,5 Prozentpunkten für das Risiko, dass die Kurse bei langen Laufzeiten viel stärker sinken können als bei kurzen. Die bereinigte Rendite liegt daher nur knapp über ein Prozent und inflationsbereinigt sogar im Negativen. An den Märkten wird offenbar erwartet, dass die Inflationsraten noch um Einiges sinken werden. Anleger lassen sich nicht beeindrucken vom Rotieren der Geldpressen und den gewaltigen Staatsdefiziten. In Japan und in der Schweiz signalisieren die Rentenmärkte – mit Renditen von etwa 0,6 Prozent -, dass Deflation wahrscheinlicher ist als Preisstabilität, geschweige denn Inflation. In geringerem Maße gilt das auch für Deutschland, wo die Rendite zurzeit bei nur 1,2 Prozent liegt.

Mit anderen Worten, ich würde nicht darauf setzen, dass wir es auch künftig in den reichen Ländern mit einer stabilen Inflationsrate von etwa zwei Prozent zu tun haben werden. Die Nachrichten aus der Realwirtschaft sind insbesondere in Europa so schlecht, dass ein Abkippen in die Deflation immer noch möglich ist. Weil es bisher noch nicht geschehen ist, muss nicht heißen, dass es immer so bleiben wird.