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Aktien sind nicht mehr billig

 

Seit seinem Tiefpunkt am 6. März 2009 ist der DAX von 3.666,41 auf aktuell rund 8.300 Punkte geklettert. Das ist ein Anstieg um 127 Prozent oder 21,4 Prozent pro Jahr. Das ist mehr, als Sie in der Zeit mit Ihrem Sparbuch verdient haben. Zugegeben, eine etwas effekthascherische Einleitung! Dennoch enthält sie eine klare Botschaft: Die Aktienkurse sind ziemlich hoch. Wer jetzt einsteigt, lebt gefährlich. Ich erwarte eine größere Korrektur, wenn nicht jetzt, dann doch in der näheren Zukunft. Was sind die Gründe?

Grafik: Dax, tägl. Kurse seit 1996
DAX, tägl. Kurse seit 1996

Um mit den konjunkturellen Aspekten anzufangen: Zum Einen gibt es Signale von der Fed, dass bald Schluss sein wird mit der extrem starken Ausweitung der (Zentralbank-) Geldmenge. Dadurch verlöre das Argument an Kraft, dass die Aktienmärkte weltweit vor allem durch die Dollarschwemme getrieben würden. Für eine weniger expansive Geldpolitik spricht, dass die amerikanische Wirtschaft neuerdings ganz gut läuft: Der Wohnungsmarkt, dessen Zusammenbruch im Jahr 2007 die Weltwirtschaftskrise ausgelöst hatte, hat sich offenbar gefangen – es wird kräftig gebaut, die Hauspreise sind bereits wieder 10 Prozent höher als vor einem Jahr – die Anzahl der abhängig Beschäftigten (gemessen an den nonfarm payrolls) hat sich in den vergangenen drei Monaten im Mittel um 212.000 erhöht und damit um mehr als das Potenzial an Arbeitskräften, und die Verbraucher sind erstaunlich optimistisch – sodass das reale BIP trotz der restriktiven Finanzpolitik zurzeit mit Raten von etwa zwei Prozent zunimmt. Das ist weniger als sonst nach tiefen Rezessionen – und auch etwas unterhalb der mittelfristigen Trendrate von 2,3 Prozent –, aber insgesamt ist der Aufschwung beneidenswert robust. Daher rückt wohl tatsächlich der Zeitpunkt näher, an dem die Fed die Punschbowle vom Tisch nehmen wird. Höhere Leitzinsen stehen auf absehbare Zeit zwar nicht auf der Agenda, insgesamt aber sieht es danach aus, dass die US-Geldpolitik vor einem Kurswechsel steht. Für die Aktienmärkte ist das ein Warnsignal.

Zum Anderen kommen leicht beunruhigende Nachrichten aus China. Das Land ist seit einigen Jahren der Wachstumsmotor der Weltwirtschaft, mit einem nominalen Sozialprodukt von 7.200 Milliarden Euro. Nur die USA (12.300 Milliarden Euro) und Euro-Land (9.480 Milliarden Euro) sind noch größer. In Euro gerechnet nimmt das chinesische Sozialprodukt stärker zu als das amerikanische – und erst recht als das der europäischen Währungsunion. Wenn China hustet, bekommt der Rest der Welt Lungenentzündung. Ein solcher Spruch bezog sich bis vor Kurzem noch auf die USA. Nach den jüngsten Prognosen wird das reale BIP Chinas in diesem Jahr gegenüber 2012 „nur“ noch um sieben Prozent zunehmen. Der Einkaufsmanagerindex, ein Frühindikator für die Konjunktur, war diese Woche erstmals unter die kritische Marke von 50 gefallen (vorläufiges Ergebnis für Mai): In den 17 Jahren bis 2011 war das BIP im Durchschnitt um 9,9 Prozent gestiegen und im vergangenen Jahr noch um 7,8 Prozent.

Grafik: Änderung der realen BIP der Welt gg. dem Vorjahr in Prozent, 1980-2014
Änderung der realen BIP der Welt gg. dem Vorjahr in Prozent, 1980-2014

Vor allem im Außenhandel läuft es aus zwei Gründen nicht mehr so recht: Das Expansionstempo der Weltwirtschaft hat sich im vergangenen Halbjahr auf 2,0 Prozent (gemessen zu aktuellen Wechselkursen) und 2,75 Prozent (gemessen in Kaufkraftparitäten) abgeschwächt – das ist jeweils rund ein Prozentpunkt weniger als im Trend. Das Ausland steigert wegen der schlechten Konjunktur seine Käufe chinesischer Waren nicht mehr so rasch wie in der Vergangenheit. Gleichzeitig ziehen die chinesischen Importe stark an, weil die Einkommen in China kräftiger zunehmen als im Rest der Welt.

Grafik: Renminbi-Wechselkurs ggü. Dollar und 100Yen, tägl. Werte seit 2000
Renminbi-Wechselkurs ggü. Dollar und 100Yen, tägl. Werte seit 2000

Daneben gibt es noch einen stark negativen Preiseffekt: Wegen der gewaltigen Aufwertung des Renminbi hat sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit chinesischer Produkte drastisch verschlechtert – Japan führt seit Ende vergangenen Jahres de facto einen Währungskrieg, nicht nur, aber vor allem gegen China. Da China schon lange nicht mehr nur billiges Plastikzeug und Jeans exportiert, sondern zunehmend auf anspruchsvollere Produkte setzt, ist Japan auf immer mehr Märkten der wichtigste Konkurrent. Es ist noch nicht so lange her, da betrug der chinesische Leistungsbilanzüberschuss noch 10 Prozent des BIP – für dieses Jahr werden nur noch 1,9 Prozent erwartet. Das langsamere Wirtschaftswachstum Chinas rührt nicht zuletzt daher, dass das Umschalten von exportgetriebener auf inlandsgetriebene Nachfrage nicht ohne Reibungsverluste vonstattengeht.

Kurz gesagt, China ist nicht mehr die Wachstumslokomotive von einst. Da vor allem die deutschen Aktienmärkte selten gut laufen, wenn es mit der internationalen Konjunktur hapert, gibt es auch von dieser Seite her ein Rückschlagrisiko.

Bei Bloomberg sehe ich, dass die Aktienanalysten für die DAX-Unternehmen im Jahr 2013 eine Zuwachsrate der Gewinne je Aktie von 27 Prozent erwarten, für 2014 eine von 13 Prozent. Vor allem die 27 Prozent für dieses Jahr sind meiner Ansicht nach Wunschdenken. Analysten sind bekanntlich groß im Wunschdenken: Nur wenn man optimistische Prognosen macht, können die Kurse steigen, und nur dann lässt sich im Allgemeinen Umsatz machen.

Ich gebe zu bedenken, dass das Jahr 2013 in Deutschland angesichts des BIP-Rückgangs im vergangenen halben Jahr (-1,1 Prozent annualisiert gegenüber dem zweiten und dritten Quartal 2012) konjunkturell voraussichtlich enttäuschen wird. Beim Vorjahresvergleich für das Gesamtjahr bewegen sich die Wachstumsprognosen inzwischen in Richtung null Prozent. Wieso sollen die Gewinne bei diesen Aussichten um 27 Prozent zulegen? Für 2014 liegen die Prognosen für das reale BIP zwischen 1,5 und 2 Prozent. Das wiederum spricht dafür, dass die Gewinne im nächsten Jahr um mehr als nur 13 Prozent steigen werden. Niemand hat allerdings die leiseste Ahnung, wie genau Konjunkturerwartungen, Gewinne und die künftigen Aktienkurse zusammenhängen. Es gibt diese Zusammenhänge, aber sie sind nicht so stabil, dass man daraus Kauf- oder Verkaufsempfehlungen ableiten kann. Nur so viel: Gute Konjunkturzahlen sind ceteris paribus besser für die Kurse als schlechte.

Begeben wir uns daher auf etwas sichereres Territorium, fragen wir, ob Aktien auf der Basis bereits vorhandener Daten gerade teuer oder billig sind, ob man daher eher kaufen oder verkaufen sollte, wo ihr „fairer“ Wert denn liegen könnte? Auch dabei gibt es eine Menge an Stellschrauben, an denen sich drehen lässt und Modellannahmen, die man für plausibel halten kann oder nicht. Aktienstrategen setzen vor allem auf zwei Verfahren: Eins basiert auf den Kurs-Gewinnverhältnissen (KGVs), das andere auf dem Vergleich der Gewinnrendite von Aktien (dem Kehrwert des KGV) mit dem realen „risikolosen“ langfristigen Anleihezins.

Das durchschnittliche KGV des DAX liegt heute bei 15,7, wenn man die bereits veröffentlichten Gewinne der vergangenen vier Quartale für den Nenner des Bruchs nimmt, und bei 12,3, wenn die erwarteten Gewinne für die kommenden vier Quartale eingesetzt werden. Mir ist vor einigen Tagen eine Analyse von Ruland Research in die Hände gefallen, der ich entnehme, dass das durchschnittliche DAX-KGV in den vergangenen zehn Jahren bei 14,3 lag. Danach lägen die Aktienkurse heute um etwa 10 Prozent über ihrem „Gleichgewichtsniveau“. Wenn die Gewinne in diesem Jahr aber wirklich so stark zulegen, wie es die Analysten erwarten, also um nicht weniger als 27 Prozent – nachdem sie in den vergangenen Jahren schon stark gestiegen waren –, wären die Aktien vernünftig bewertet. Wie gesagt, ich halte diese Gewinnprognose für Wunschdenken.

Beim Vergleich von Aktien- und Rentenmärkten kommt ein Konzept namens Risikoprämie zum Einsatz. Das ist bezogen auf den DAX die Differenz zwischen der Gewinnrendite der Aktien (100/15,7 => 6,37 Prozent) und der inflationsbereinigten Rendite von zehnjährigen Bundesanleihen (1,45 Prozent – 1,1 Prozent => +0,35 Prozent). Nach dieser Rechnung beträgt die Risikoprämie von Aktien zurzeit fast genau sechs Prozentpunkte. Im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre lag sie „nur“ bei 5,34 Punkten (100/14,2 => 7,04 Prozent minus 1,70 Prozent für die reale Rendite von Bundesanleihen). Danach haben deutsche Aktien noch gut Luft nach oben.

Schließlich noch ein Blick auf die Dividendenrendite. Laut Bloomberg beträgt sie zurzeit 3,31 Prozent. Das ist zwar deutlich weniger als vor Beginn der jüngsten Hausse – vor einem Jahr lag sie noch bei 4,3 Prozent -, im Vergleich zur Rendite zehnjähriger Bundesanleihen (1,45 Prozent) ist sie nach wie vor attraktiv, nicht zuletzt auch deswegen, weil die DAX-Unternehmen im Allgemeinen im Zeitverlauf ihre Ausschüttungen erhöhen, während der Bund das natürlich nicht tut.

Unterm Strich bleibt, dass Aktien wegen der starken Kurssteigerungen der Vergangenheit, der trüben Konjunktur und des hohen KGV eher teuer, andererseits wegen der hohen Risikoprämie und der attraktiven Dividendenrendite eher billig sind. Für mich überwiegen die negativen Aspekte. Gewinne also mitnehmen!