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Die Ratlosigkeit der Notenbanker

 

Die Europäische Zentralbank (EZB) versucht mit allen Mitteln, die Unternehmen und Haushalte dazu zu bringen, sich endlich wieder mehr Geld zu leihen und auszugeben. Da unterscheidet sie sich nicht von der amerikanischen Fed, der Bank of Japan oder der Bank of England. Die mittelfristigen Inflationserwartungen sind da, wo sie sein sollen – in der Nähe von zwei Prozent. Die aktuellen Inflationsraten liegen deutlich darunter. Von daher sollte es Spielraum für die expansive Geldpolitik geben, also für eine Stimulierung der Konjunktur. Vielleicht wurde so bislang Schlimmeres verhindert, aber das eigentliche Ziel ist nicht erreicht: Das Volumen der Kredite an nicht finanzielle Unternehmen und Haushalte liegt in der Währungsunion um 2,5 Prozent unter seinem Vorjahreswert. Schuldenmachen ist stark aus der Mode gekommen.

Euro-Land steckt weiterhin in einer tiefen Rezession: Die Arbeitslosenquote ist auf über 12 Prozent gestiegen, und das reale BIP wird 2013 erneut niedriger sein als im Vorjahr, vielleicht um 0,5 Prozent. Insgesamt operiert die europäische Wirtschaft weit unter ihrem Potenzial.

Grafik: BIP und Potenzial in Euroland
Grafik: Beschaeftigung und Arbeitslosenquote in Euroland

Das Problem ist, dass die kurzfristigen Zinsen kaum mehr gesenkt werden können – sie haben bereits null erreicht. Der Tagesgeldsatz EONIA, zu dem Banken untereinander mit Geld handeln, liegt seit langer Zeit wie festgemauert bei 0,1 Prozent. Die EZB könnte zwar den wichtigsten Leitzins, den für die sogenannten Hauptrefinanzierungsgeschäfte, nach amerikanischem und japanischem Vorbild von jetzt 0,5 Prozent auf vielleicht 0,1 Prozent senken. Im Grunde hat sie aber ihre zinspolitischen Möglichkeiten ausgeschöpft. Was macht es für einen Unterschied, ob sich die Banken bei ihr zu 0,5 oder zu 0,1 Prozent Geld besorgen können?

Grafik: Notenbankzinsen

Als die Zinswelt noch in Ordnung war, waren die Analysten davon überzeugt, dass der Leitzins von zwei Faktoren abhing: der Differenz zwischen aktueller und angestrebter Inflationsrate sowie der Output-Lücke. Seinen mathematischen Ausdruck fand der Zusammenhang in der einst stark beachteten Taylor-Regel. Heute liegt die Inflationsrate etwa einen halben Prozentpunkt unter dem Zielwert der EZB, während die gesamtwirtschaftliche Kapazitätsauslastung niedriger ist als jemals zuvor in den vergangenen sechs Jahrzehnten. Nach der Formel von Stanford-Professor Robert Taylor müsste der Hauptrefinanzierungssatz daher bei minus zwei Prozent liegen, oder niedriger.

Bei den Notenbanken bricht Aktionismus aus

Das ist unvorstellbar. Daher ist bei der EZB, ähnlich wie bei den anderen großen Notenbanken, ein Aktionismus ausgebrochen, mit dem die Leute auf indirekte Weise zur Kreditaufnahme und zum Geldausgeben animiert werden sollen. Einfach still zu halten, weil alles getan wurde, was geldpolitisch möglich war, gilt offenbar nicht als Option. Geld zu leihen soll nicht nur äußerst billig sein, sondern auch sehr leicht. Also wird Geld gedruckt, sei es durch den massiven Ankauf von Anleihen (USA, Japan, Großbritannien) oder, wie im Fall der EZB, durch unlimitierte langfristige Refinanzierungsgeschäfte zu so niedrigen Zinsen, wie sie zuvor nur bei kurzfristigen Geschäften üblich waren. Die EZB ist inzwischen auch nicht mehr so anspruchsvoll, was die Sicherheiten angeht, gegen die sie den Banken Geld leiht. Seit vergangenem Herbst verfügt sie zudem über das neue, aber noch nicht aktivierte Instrument der Outright Monetary Transactions (OMT), mit dem sie unter bestimmten Bedingungen am Markt selektiv Anleihen kaufen kann (gegen die Gutschrift von Zentralbankgeld).

Das Vertrauen in die Zentralbanken soll außerdem durch eine immer größere Transparenz ihrer Entscheidungsprozesse gestärkt werden. Das soll nicht nur durch Pressekonferenzen gewährleistet sein, sondern auch, indem die Protokolle der Sitzungen zeitnah veröffentlicht werden. Die Marktteilnehmer sollen wissen, auf was die Notenbanker achten, und auf was sie selbst daher achten sollten, wenn sie Verluste vermeiden wollen. Weil das „alle“ tun, wird wohl auch die EZB in Kürze ihre Bedenken in dieser Hinsicht über Bord werfen. Bisher war befürchtet worden, dass es politisch gefährlich sein kann, wenn bekannt wird, wie einzelne Mitglieder des Zentralbankrats argumentiert und abgestimmt haben. Sie sollten sich nur von der Wirtschaftsentwicklung des Euro-Raums als Ganzem leiten lassen. Das kann sich von dem unterscheiden, was die Politiker und die Öffentlichkeit zu Hause erwarten.

Die neueste geldpolitische Strategie ist die „forward guidance„: Dabei erklären die Notenbanken, wie lange sie unter bestimmten Bedingungen die Leitzinsen auf ihrem augenblicklichen Niveau halten werden oder dass sie sie, wie im Falle der EZB, voraussichtlich noch senken werden. Mark Carney, der neue Gouverneur der Bank of England, hat sogar explizit verkündet, dass die Zinsen auch dann für einige Zeit nicht erhöht werden, wenn die Inflation eines Tages über ihren Zielwert hinausschießt. Indem zugesichert wird, dass die kurzfristigen Zinsen auf Jahre hinaus in der Nähe von null bleiben werden, hoffen die Zentralbanken, auch die langfristigen Zinsen niedrig zu halten. Diese sind nicht zuletzt das Produkt der erwarteten kurzen Zinsen. Das ist wichtig für Immobilienkäufe und Unternehmensinvestitionen. Die Geldpolitik versucht also neuerdings, das Niveau und die Veränderung der gesamten Renditekurve zu beeinflussen.

Im Verlauf des Frühjahrs hatte Ben Bernanke, der Chef der Fed, durchblicken lassen, wegen der besseren Konjunktur die monatlichen Anleihekäufe von zurzeit 85 Milliarden Dollar zurückzufahren. Daraufhin waren im 10-Jahresbereich die Renditen der Treasuries innerhalb weniger Wochen um rund 100 Basispunkte gestiegen. Unerwünschte Folge: Das hat die Zinsen für Hypotheken und Unternehmensanleihen mit in die Höhe gezogen. Die Fed war gezwungen, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass erst bei einer Arbeitslosenquote von 6,5 Prozent mit einer höheren Rate zu rechnen sei – das könne Jahre dauern. Zuletzt lag die Arbeitslosenquote allerdings bereits bei 7,4 Prozent und damit recht nah am Zielwert. Bislang sind die langen Zinsen noch nicht wieder gefallen.

Die Notenbanker sind mit ihrem Latein am Ende

Das Ganze erweckt den Eindruck, dass die Notenbanken mit ihrem Latein am Ende sind. Sie wollen die Wirtschaft durch Anreize zum Schuldenmachen wieder in Schwung bringen. Das aber ist nicht leicht, wenn für so wichtige Akteure wie den Staat oder überschuldete Haushalte das genaue Gegenteil Priorität hat. Die Situation ähnelt dem Sprichwort: Die Pferde werden zur Tränke geführt, aber sie saufen nicht.

Ein wichtiges, unausgesprochenes Motiv des neuen Aktionismus ist die Furcht vor Deflation. Angesichts der Outputlücken und Millionen von Arbeitslosen im OECD-Raum ist es einigermaßen verwunderlich, dass das allgemeine Preisniveau nicht schon längst sinkt. Was nicht ist, kann noch werden, werden sich viele Notenbanker sagen und daher bis auf Weiteres bei ihrer expansiven Politik bleiben. Denn wenn die Preise erst einmal nachhaltig sinken, steigen die Realzinsen. Dann können alle Hoffnungen auf einen Konjunkturaufschwung aufgegeben werden.

Die Effizienz der Geldpolitik ist zurzeit nicht mehr das, was sie einmal war. Die Probleme hinsichtlich Wachstum und Beschäftigung lassen sich weniger durch noch niedrigere Zinsen als vielmehr durch Strukturpolitik und Finanzpolitik lösen. Wir tun so, als wollten wir genau dahin zurück, wo wir vor der Krise waren. Die damaligen Prioritäten haben uns aber genau die Verhältnisse beschwert, mit denen wir noch heute kämpfen. Robert Skidelski hat kürzlich in seiner Kolumne bei Project Syndicate darauf hingewiesen (Economic Rebalancing Acts). Wir sollten etwas gegen die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen tun, für eine bessere Umwelt, für einen effizienteren Umgang mit Energie, für mehr Ausgaben für Gemeinschaftsgüter als für privaten Verbrauch. Ich füge hinzu, dass auch mehr für eine höhere Erwerbsbeteiligung, lebenslanges Lernen, den gemeinsamen europäischen Markt und die Bankenunion, sowie für Forschung und Entwicklung getan werden könnte und müsste. Im deutschen Wahlkampf spielen diese Themen kaum eine Rolle.