Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Inflationsrate nähert sich wieder der Null

 

Es geht weiter in Richtung Deflation. Die Verbraucherpreise Euro-Lands waren im Mai nur noch um 0,5 Prozent höher als ein Jahr zuvor, in Deutschland waren es 0,6 Prozent (jeweils gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex). Die EZB gerät zusehends in Panik und dürfte daher am Donnerstag ein ganzes Bündel von expansiven Maßnahmen verkünden mit dem Ziel, Unternehmen und Haushalte dazu zu bewegen, mehr Schulden zu machen und mit dem geliehenen Geld ihre Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen so zu steigern, dass die Inflationsraten wieder anziehen.

Der Hauptrefinanzierungssatz, zu dem sich Banken wöchentlich beim Eurosystem Geld leihen, dürfte von 0,25 auf 0,10 oder 0,15 Prozent sinken, der Einlagesatz, den Banken von der EZB bekommen, wenn sie dort sehr kurzfristig („über Nacht“) Geld festlegen, könnte von derzeit null auf -0,1 Prozent gesenkt werden. Außerdem dürfte den Banken in einer weiteren Runde sogenannte längerfristige Liquidität (LTRO) in unbegrenzter Höhe zum aktuellen Leitzins angeboten werden, de facto also kostenlos, und vielleicht für vier Jahre statt für drei wie in den vorangegangenen Aktionen von Dezember 2011 und Februar 2012. Die Rede ist auch davon, diese Mittel daran zu knüpfen, dass die Banken sie für Kredite an kleine und mittlere Unternehmen in den Krisenländern der Peripherie verwenden; anders als in Deutschland gibt es dort eine ausgesprochene Kreditklemme. Dass es dazu wirklich kommt, halte ich aber für ziemlich unwahrscheinlich. Realistischer ist wohl, dass die EZB den Banken anbietet, ihnen auf die eine oder andere Weise Teile ihrer Kreditportefeuilles abzukaufen; sie hätten dann Spielraum für neue Kredite. Die EZB hatte in den vergangenen Jahren mit den beiden Programmen zum Ankauf gedeckter Schuldverschreibungen, den sogenannten Covered-Bond-Programmen (CBPP1 und CBPP2), und dem Programm für die Wertpapiermärkte (SMP) bereits selektiv in die Märkte eingegriffen, also Strukturpolitik betrieben. Quantitative Easing nach amerikanischem, japanischem und britischen Muster ist aus rechtlichen und markttechnischen Gründen fürs Erste keine Option für die EZB.

Grafik: Wertpapierankaufprogramme des Eurosystems

Wie ich schon mehrfach gezeigt hatte, war die Bilanzsumme des Eurosystems in den vergangenen zwei Jahren drastisch zurückgegangen, und mit ihr die Versorgung der Banken mit Zentralbankgeld. Das war allein auf Initiative der Banken geschehen, nicht der Notenbank.

Grafik: Bilanzsumme des Eurosystem; Stand: 30. Mai 2014

Nach der Ratssitzung am Donnerstag wird die EZB so viel Zentralbankgeld in den Markt pumpen, dass die Banken nicht wissen wohin damit. Ein Effekt könnte sein, dass die langfristigen Zinsen weiter zurückgehen und das Volumen der Hypothekenkredite damit wieder stärker zunimmt – in Deutschland sind für zehnjährige Kredite nur rund 2,0 Prozent zu zahlen, für 20-jährige 2,5 Prozent; die Zinsen sind schon jetzt niedriger als die voraussichtliche langfristige Inflationsrate für deutsche Immobilien. Ein anderer Effekt dürfte sein, dass die Preise für Wohneigentum etwas rascher zunehmen, außer in den Ländern, wo nach geplatzten Immobilienblasen immer noch ein Überangebot besteht.

Ein Teil des zusätzlichen Geldes wird voraussichtlich in Aktien angelegt werden und sie weiter verteuern. Zudem erhöht sich der Anreiz, im Ausland zu investieren; allein die Erwartung, dass es so kommen wird, hat den Euro in den vergangenen Tagen geschwächt. Erstaunlich ist allerdings, dass der Effekt nur so gering war. Vermutlich hat das damit zu tun, dass die anderen wichtigen Notenbanken eine mindestens so expansive Geldpolitik betreiben wie die EZB, aber wohl auch damit, dass die relativen Realzinsen, Leistungsbilanzsalden und staatlichen Budgets für einen starken Euro sprechen. Da die EZB dessen Aufwertung für einen der Gründe für die rückläufige europäische Inflationsrate hält, würde sie sich über einen schwächeren Wechselkurs freuen. Wahrscheinlich wird daraus aber nichts werden.

Für die EZB und die anderen Notenbanken ist es wieder einmal besser, neue Blasen und eine suboptimale Allokation von Ressourcen zuzulassen als sehenden Auges in die Deflation zu rutschen. Wer sich an die Geldpolitik nach dem Ende der Dotcom-Hausse um die Jahrtausendwende und nach dem Aktiencrash von 2008/2009 erinnert, hat hier ein Déjà-vu-Erlebnis. Die Idee hinter dieser Politik: Wenn das Vermögen der Leute zunimmt, und sei es nur auf dem Papier, werden sie optimistischer und sparen weniger. Das hilft im Kampf gegen die Deflation. Und sind die USA nicht ein Beleg dafür, dass Gelddrucken eine Wirtschaft stimulieren kann?

Im Übrigen hält die EZB die Deflationsgefahr nur teilweise für hausgemacht. Mario Draghi hatte am 26. Mai bei der geldpolitischen Konferenz in Portugal behauptet, dass „rückläufige Rohstoffpreise für 80 Prozent des Rückgangs der europäischen Inflationsrate seit Ende 2011 verantwortlich sind„. Fragt sich, ob es hier tatsächlich eine solche Kausalität gibt oder ob es sich einfach um eine Korrelation handelt. Ich bin mir sicher, dass die wichtigsten Gründe für die Disinflation die niedrige Kapazitätsauslastung und die hohe Arbeitslosigkeit sind. Beides ist wiederum Folge der langwierigen Anpassungsprozesse und Strukturbereinigungen nach dem Platzen der Vermögensblasen in den OECD-Ländern.

Grafik: Outputlücke und Arbeitslosenquote im Euroraum

Die Outputlücke ist nur schwer zu bestimmen und wird im Nachhinein oft gewaltig revidiert. Darauf hatte die Bundesbank in ihrem Monatsbericht vom April in einer instruktiven Analyse hingewiesen. Ich habe daher spaßeshalber einmal für Euro-Land eine synthetische Outputlücke berechnet und ihre Veränderung mit der Inflationsrate verglichen. Dabei sind die synthetischen Werte die ungewichteten Mittelwerte der Outputlücke und der Abweichung der Arbeitslosenquoten von der niedrigsten Arbeitslosenquote im Betrachtungszeitraum also seit 1995 (d.h. synthetischer Wert = [Outputlücke + (7,3 – Arbeitslosenquote)] geteilt durch zwei). Ich beziehe also sowohl die Auslastung des Faktors Kapital als auch die des Faktors Arbeit in die Berechnung ein und mache mir dabei zunutze, dass die Arbeitslosenquote praktisch nie revidiert wird. Zwar ist diese Quote nicht der allerbeste denkbare Indikator für die Unterauslastung am Arbeitsmarkt, aber die Alternativen haben auch ihre Macken.

Grafik: Synthetische Outputlücke und Inflation im Euroraum

Die Botschaft des obigen Schaubilds ist eindeutig. Wenn ein weiteres Abgleiten in die Deflation verhindert werden soll, muss die Outputlücke weg. Die Geldpolitik dürfte dabei nur eine Nebenrolle spielen. Ich halte ihren Spielraum für weitgehend ausgeschöpft. Nicht nur das: Was jetzt geplant ist, wird erneut zu einer massiven Fehlallokation von Kapital führen, zu einer Umverteilung von Vermögen zugunsten derer, die schon vermögend sind, und zu einer Enteignung der Sparer.

Beim Kampf gegen die Deflation kommt es stattdessen auf Zweierlei an: Zum einen muss der Prozess des Deleveraging, des Schuldenabbaus, beschleunigt werden, etwa durch Schuldenerlass, Umschuldung, „bail-ins“ oder Verstaatlichung und Abwicklung von maroden Banken, zum anderen ist die Finanzpolitik gefordert, vor allem die deutsche. Wenn ich recht habe mit meiner „synthetischen“ Outputlücke, ist die Finanzpolitik Euro-Lands zurzeit durch einen gewaltigen konjunkturbereinigten Überschuss gekennzeichnet. Ein unbereinigtes Staatsdefizit von vielleicht 2,8 Prozent des BIP in diesem Jahr bedeutet bei einer Outputlücke von rund 8,7 Prozent einen „bereinigten“ Überschuss von etwa fünf Prozentpunkten. Davon geht ein massiver restriktiver Effekt auf die Wirtschaft Euro-Lands aus. Die europäischen Wähler haben am 25. Mai den Politikern sehr deutlich gemacht, dass sie vor allem ein stärkeres Wirtschaftswachstum wollen, also Arbeit und Einkommen. Die Politiker sollten sich nicht von der Mehrheit der Ökonomen einreden lassen, dass es außer der Geldpolitik keine wirtschaftspolitischen Alternativen gibt. Sie haben mehr Spielraum als sie vermuten.