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Alternativen zu einem europäischen Finanzminister

 

Eins hat uns die griechische Krise gelehrt: So wie der Euro konstruiert ist, wird er nicht überleben. Schon das kleine Griechenland hatte eine Existenzkrise ausgelöst. Was passiert erst, wenn eines Tages wirtschaftliche Schwergewichte wie Italien oder Frankreich nicht mehr in der Lage sein sollten, ihre Schulden zu bedienen? Schon in der jüngsten Krise war es zeitweise vorstellbar, dass ein Mitgliedsland die Währungsunion verlassen könnte, obwohl die Kosten des Rettungspakets relativ gering waren im Vergleich zu dem, was aufzubringen wäre, wenn die Schulden eines großen Landes restrukturiert werden müssten. Sobald die Spekulanten erkennen, dass sich das nicht stemmen lässt und mit einer realistischen Aussicht auf Erfolg beginnen, die einzelnen nationalen Märkte gegeneinander auszuspielen, wäre der Euro am Ende – und damit, wie die Kanzlerin zurecht meint, für eine lange Zeit auch das europäische Einigungsprojekt.

Griechenland über Wasser und damit in der Währungsunion zu halten, war daher die richtige Strategie, zumal die geforderten Strukturreformen und das große Investitionsprogramm seine Wirtschaft nachhaltig stabilisieren dürften. Es war eindrucksvoll, was die Griechen an Auflagen seitens der Gläubiger zu akzeptieren bereit waren – nur um den Euro behalten zu dürfen. Die gemeinsame Währung ist offenbar auch für die ärmsten Mitglieder ein hohes Gut und daher widerstandsfähiger als es kleinmütige Skeptiker hierzulande oder angelsächsische Ökonomen wahrhaben wollen (dazu Daniel Gros: „Warum Griechenland keine Euro-Auszeit nahm“). Aber Griechenland war vermutlich nur ein Probelauf – beim nächsten Mal wird es mit dem Stopfen von Löchern nicht getan sein.

Am besten wäre natürlich im Hinblick auf die Überlebenschancen des Euro eine echte Fiskalunion, mit einem Finanzministerium an der Spitze, als echtem lender of last resort und Pendant zur gemeinsamen Geldpolitik der EZB. In der Präambel des EU-Vertrags heißt es bekanntlich, dass sich die Mitgliedsstaaten entschlossen hätten, „den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“ und „den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker (…) weiterzuführen“. Eine Fiskalunion und damit eine politische Union sind seit dem Inkrafttreten der römischen Verträge im Jahr 1958 das Ziel, das sich die Europäer gesetzt haben. Wer das nicht will, sollte aus der EU austreten und gar nicht erst der Währungsunion beitreten.

Da die Zeit für eine gemeinsame europäische Finanzpolitik noch nicht gekommen ist und sich kein Politiker an dieses Thema wagt, kann es um nicht mehr als um eine Politik der kleinen Schritte gehen. Das ist aber in der EU immer so gewesen. Die nächste Aktion, die nicht übermäßig kontrovers sein dürfte, ist der Einstieg in die gemeinsame Einlagensicherung. Bisher hat man sich auf eine Obergrenze von 100.000 Euro je Bankkonto und auf die Art der Bankenumlage geeinigt. Das wäre die dritte Säule des Projekts „Bankenunion“, nachdem es nun seit vergangenem November bei der EZB bereits eine zentrale Aufsicht über die Banken Eurolands – die Säule Nummer 1 – und erste Vereinbarungen über die Abwicklung insolventer Institute gibt – die Säule Nummer 2. Letztere muss unbedingt gestärkt werden, vor allem was das Volumen des Single Resolution Fund angeht; es ist viel zu gering. Nach dem jetzigen Konzept bleiben trotz einer Haftungskaskade, also dem Bail-in von Eigentümern und Gläubigern der Banken, vor allem die nationalen Regierungen für die Lösung und die Kosten der Probleme zuständig.

Es ist noch ein langer und kontroverser Weg bis zu einem schlagkräftigen gemeinsamen Abwicklungsfonds und damit zu einer Bankenunion, die diesen Namen verdient. Noch ist nicht sichergestellt, dass der verhängnisvolle Nexus zwischen dem Schicksal von Banken und nationalen Regierungen gekappt ist. Noch ist vorstellbar, dass sich Mitgliedsstaaten zur Rettung ihrer Finanzsektoren so verschulden müssen, dass sie selbst ins Schleudern geraten.

Eine Vorstufe zu einem gemeinsamen Finanzministerium könnte ein Euro-Schatzamt sein, so wie es der Ökonom Jörg Bibow kürzlich vorgeschlagen hat („Making the Euro Viable: The Euro Treasury Plan„, Juli 2015). Er geht von der Beobachtung aus, dass die Währungsunion aus selbstverschuldeten Gründen in einer Wachstumskrise steckt – sprich: wegen des Stabilitäts- und Wachstumspakts –, aus der sie nicht herausfinden wird, wenn ihre Konstruktionsfehler nicht behoben werden. Vor allem die Investitionsausgaben, private wie öffentliche, sind katastrophal niedrig, was aus konjunkturellen Gründen kontraproduktiv und aus sozialen Gründen geradezu verheerend ist. Darüber hinaus werden dadurch die langfristigen Wachstumsaussichten und der Wohlstand künftiger Generationen beschädigt.

Bibow möchte in sämtlichen Ländern der Währungsunion die staatlichen Investitionen – und mit ihnen das Wachstum – ankurbeln, indem das neue Schatzamt am Kapitalmarkt jährlich Schulden in Höhe von drei Prozent des gemeinsamen BIP (von rund 10,4 Billionen Euro) aufnimmt. Zurzeit machen die öffentlichen Investitionen nur zwei Prozent des BIP aus. Diese Mittel würde er proportional zur der Höhe des nationalen Sozialprodukts oder des Anteils am Kapital der EZB an die einzelnen Länder für Investitionszwecke ausschütten. Nach diesen Anteilen bemessen sich auch die Zahlungen, die an das zentrale Schatzamt für den Schuldendienst zu leisten sind. Ich vermute, dass die durchschnittliche Zinsbelastung in einem solchen Modell kaum höher sein wird als die von Deutschland heute, es im Durchschnitt also zu einer dramatisch niedrigeren Zinsbelastung als heute kommen würde. Ein Beleg: der Zins, den der EFSF zur Zeit auf seine langfristigen Bonds zu zahlen hat, beträgt 0,57 Prozent, während der Bund 0,62 Prozent zu zahlen hat – die Anleger geben sich wegen der besseren Risikostreuung mit einer niedrigen Rendite zufrieden.

Für Bibow sollte das Schatzamt zudem berechtigt sein, für den Zinsendienst direkt eine eigene Steuer zu erheben, ohne dass dadurch aber ein Finanztransfer von den reichen an die armen Länder ausgelöst wird. Eine europäische Transferunion, die in Deutschland auf so großen Widerstand stößt, sollte wie bisher über das EU-Budget organisiert werden.

Im Laufe der Jahre würde ein gewaltiger liquider Markt für Anleihen des Euro-Schatzamtes entstehen. Sie wären die neuen Referenzanleihen Europas, aus denen sich die Zinskurve für risikolose Papiere ableiten lässt, die für viele Finanztransaktionen wichtig ist. Und die EZB würde sich nicht mehr dem Vorwurf aussetzen, dass sie selektiv Staatsfinanzierung betreibe – auf ihrer Bilanz hätte sie am Ende nur noch die neuen „Euro-Treasuries“ (neben Forderungen gegenüber Banken sowie Währungsreserven). Nationale Anleihen besäße sie nicht mehr.

Da die europäische Wirtschaft so weit unter ihrem Potenzial operiert, empfiehlt Bibow, in den ersten Jahren nicht nur drei Prozent des BIP, sondern fünf Prozent oder mehr über das neue Schatzamt zu finanzieren. Das halte ich für sinnvoll. Warum sollten die rekordniedrigen Zinsen am Kapitalmarkt nicht für eine Investitionsoffensive genutzt werden, die die Wirtschaft Eurolands endlich wieder auf einen steileren Wachstumspfad hebt?

Nicht zuletzt entstünde ein neues supranationales Machtzentrum, das in Krisenzeiten in Kooperation mit der EZB praktisch unbegrenzt Mittel mobilisieren kann, nach amerikanischem, britischem oder Schweizer Muster. Wenn Griechenland das nächste Mal vor der Pleite steht, wird sein Ministerpräsident nicht mehr mit Frau Merkel und Monsieur Hollande verhandeln müssen, sondern mit dem Chef des europäischen Schatzamtes. Es wäre nützlich, wenn Bibow sein Konzept demnächst einmal in Berlin, Frankfurt, Paris und Brüssel vorstellen könnte. Meine Unterstützung hat er.