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Steuerparadiese austrocknen – eine Aufgabe für Europa

 

Kaum etwas dürfte das Projekt „Europa“ so voranbringen wie ein entschlossener Kampf gegen die Steuerflucht, die Steuervermeidung, die Steueroptimierung, oder wie immer die Aktivitäten genannt werden, mit denen international tätige Firmen und wohlhabende Familien ihre Steuerlast reduzieren. Wenig wird als so unfair empfunden wie die Tatsache, dass sich die Normalbürger kaum dem Zugriff des Finanzamts entziehen können, andere dagegen sehr wohl – wenn sie nur groß genug sind oder an der Spitze der Einkommens- und Vermögenspyramiden stehen. Ein zentrales Prinzip der Steuerlehre lautet, dass breite Schultern eine größere Last tragen sollten als schmale. Die Panama und Paradise Papers haben gezeigt, was die Meisten ohnehin wussten, dass wir davon weit entfernt sind. Das muss sich ändern.

Ich schätze, dass die deutschen Steuereinnahmen jährlich, also nicht nur einmalig, zwischen 30 und 50 Mrd. Euro höher sein könnten als sie es zur Zeit sind, nämlich 765 bis 785 Mrd. Euro statt der 734,5 Mrd. Euro, mit denen die Finanzminister und Kämmerer in diesem Jahr rechnen können. Das würde einen beträchtlichen Spielraum für Steuersenkungen und dringend erforderliche Ausgaben schaffen. Mit anderen Worten, Geld, das dafür verwendet wird, die Steuerparadiese auszutrocknen, ist gut angelegtes Geld. Und sage niemand, dass das im Zeitalter der totalen Datentransparenz nicht möglich sei. Man muss es nur wollen. Am besten ginge es in Zusammenarbeit mit den anderen größeren Ländern der EU und der OECD, einschließlich der USA. Selbst wenn nicht alle mitmachen, wäre das kein Grund, es zu lassen.

Wenn es bei der europäischen Integration Fortschritte geben soll, kommt Deutschland, wie immer wieder betont wird, eine Schlüsselrolle zu. Ehe aber Vorschläge wie eine deutliche Vergrößerung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, gemeinsame Anleihen oder eine gemeinsame Einlagensicherung, eine europäische Investitionsoffensive, eine Europaarmee oder höhere Beiträge zum EU-Haushalt nach dem Ausscheiden des Nettozahlers Großbritannien verhandelt werden – fast alles vernünftige und überfällige Ideen, aber zunächst einmal aus unserer Sicht teure Ideen –, müsste der Preis dafür genannt werden: eine Harmonisierung der Gewinnsteuern, etwa ein Band von 25 bis 35 Prozent, sowie gegenüber den europäischen Finanzämtern eine totale Offenlegung aller Zahlungsströme mit Ländern wie Luxemburg, den Niederlanden, der Schweiz, Hongkong, Irland, Großbritannien, Malta, Zypern und so weiter, die von Ausländern nur sehr niedrige oder gar keine Steuern verlangen. Die Banken verfügen über diese Informationen. Wieso lässt Frankreich Monaco eigentlich immer noch gewähren?

Die vier großen oligopolistischen Auditing-Firmen KPMG, PWC, Deloitte und Ernst & Young müssten ähnlich wie die systemrelevanten Banken durch die EZB unter (eine schlagkräftige europäische) Aufsicht gestellt werden. Sie erzielen mit ihren 945.000 (!) Mitarbeitern und Partnern einen Teil ihrer Einnahmen (Geschäftsjahr 2017: 134,3 Mrd. Dollar) dadurch, dass sie ihren Kunden zeigen, wie sie durch Verlagerung von Gewinnen in Steuerparadiese legal Steuern sparen können. Diese Auditing-Firmen haben im Übrigen nicht das geringste Interesse daran, dass das komplizierte internationale Steuersystem einfacher, transparenter und gerechter wird. Es würde sie Einnahmen kosten. Sie sollten sich daher nicht an seiner Reform beteiligen dürfen.

Wie komme ich darauf, dass dem deutschen Fiskus jährlich 30 bis 50 Mrd. Euro durch (formell legale) Steuerstrategien und Gewinnverlagerungen entgehen? Genaue Zahlen dazu wird es bis auf Weiteres nicht geben, aber ich habe es mal mit einem Top-down-Ansatz versucht. Jede meiner Annahmen ist angreifbar. Ich würde mich freuen, wenn mir Leser sagen könnten, auf welche Weise ich sie anpassen sollte. Insgesamt, behaupte ich, dürfte ich mit meinen Schätzungen der Wirklichkeit ziemlich nahe kommen.

Wenn die Schätzung des Tax Justice Networks (eine Nicht-Regierungs-Organisation) stimmt, dass (im Jahr 2012) 21 bis 32 Billionen Dollar an privatem Finanzvermögen in Offshore-Zentren gehalten wird, kann das die Basis für die Berechnung des (unversteuerten) Vermögenseinkommens sein. Da es seit 2012 erhebliche Kursgewinne gegeben hat, halte ich es für legitim, für 2017 den höheren der beiden Beträge zu verwenden.

Wie hoch sind die Erträge auf dieses Vermögen? In den vergangenen 20 Jahren hat beispielsweise der DAX im Jahresdurchschnitt um 5,8 Prozent zugelegt. Auch bei den Bonds war es wegen der ständig sinkenden Renditen, also der Kursgewinne, zu ähnlichen Erträgen gekommen – der sogenannte Performance-Index der Bundesanleihen (REXP) hatte es in dieser Zeit auf durchschnittlich 4,5 Prozent gebracht. Das spricht dafür, dass die Effektivverzinsung des deutschen Privatvermögens, das in Steuerparadiesen geparkt ist, bei etwa fünf Prozent liegt. Da kann der kleine Sparer nur staunen.

Als Nächstes nehme ich an, dass der deutsche Anteil am privaten globalen Offshorevermögen von 32 Billionen Dollar dem Anteil unseres Landes am Bruttoinlandsprodukt der Welt entspricht: in diesem Jahr dürften es nach Schätzungen des IWF 3.652 Mrd. Dollar sein; das sind 4,6 Prozent des globalen BIP von 79.281 Mrd. Dollar. Danach besitzen Deutsche ein Offshore-Vermögen von 1.472 Mrd. Dollar. Wenn sich das mit fünf Prozent verzinst (Dividenden, Zinsen, Kursgewinne), komme ich auf ein nicht-versteuertes Kapitaleinkommen von 73,6 Mrd. Dollar. Wenn darauf deutsche Steuern anfielen, und wenn der effektive Steuersatz darauf 40 Prozent wäre, dürften unserem Fiskus 29,4 Mrd. Dollar entgangen sein, also zum heutigen Wechselkurs 24,9 Mrd. Euro. Das entspricht etwa 0,75 Prozent des BIP. Das dürfte Jahr für Jahr die Größenordnung gewesen sein, um die es hier geht – und vorläufig leider weitergehen wird.

Aber das ist nur das Eine. Das Andere sind die multinationalen Unternehmen und die Steueroptimierungsstrategien, die die „Big 4“ und andere Steuerberater ihnen vorschlagen. Auch für international aktive Banken wie die Deutsche, HSBC, Goldman Sachs oder UBS ist die steuerliche Beratung ihrer Privat- und Firmenkunden ein wichtiger und profitabler Geschäftszweig. Einige Skandale der jüngeren Zeit lassen keinen Zweifel zu, dass viele Unternehmen ihre Steuerlast durch geschickte Gewinnverlagerung in Länder mit niedrigen Steuersätzen routinemäßig erheblich reduzieren. Wie die folgende Grafik zeigt, liegen die Spitzensätze der Gewinnsteuern in wichtigen Ländern im Durchschnitt bei 24 Prozent.

Grafik: Körperschaftssteuersätze in der OECD 2017

In Deutschland betrugen die Unternehmensgewinne der Kapitalgesellschaften laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2016 rund 540 Mrd. Euro – in diesem Jahr dürften sie angesichts der guten Konjunktur vielleicht 580 Mrd. Euro erreichen –, während sich das Aufkommen an Körperschafts- und Gewerbesteuern im Jahr 2017 auf knapp 90 Mrd. Euro belaufen dürfte (vgl. Tabellen X.6 & 7 im Monatsbericht der Bundesbank), was einen durchschnittlichen Steuersatz von 15,5 Prozent ergibt. Das ist ein Abstand von 14,7 Prozentpunkten zu 30,2 Prozent, dem Spitzensteuersatz auf Gewinne. Effektiv zahlen die deutschen Unternehmen daher nicht den Spitzensteuersatz, sondern viel weniger. Man darf diese 14,7 Prozent aber nicht auf die gesamten Unternehmensgewinne anlegen – das ergäbe einen hypothetischen Steuerausfall von 85,3 Mrd. Euro –, da der Durchschnittssteuersatz immer deutlich niedriger ist als der Spitzensatz. Ich berücksichtige das, wenn ich folgere, dass dem Fiskus durch Steuervermeidungsstrategien der Multis in diesem Jahr viel weniger, aber immerhin mindestens 25 Mrd. Euro entgehen.

Addiere ich diese 25 Mrd. Euro und die obigen 24,9 Mrd. Euro, komme ich für dieses Jahr auf einen Steuerausfall von etwa 50 Mrd. Euro. Mit anderen Worten, der Wert liegt am oberen Rand meiner eingangs genannten Spanne von 30 bis 50 Mrd. Euro.

Ich bin mir sicher, dass die wahren Werte stark davon abweichen. Aber ich bleibe bei meiner These: die Steuervermeidungsstrategien sind nicht nur unfair, sie sind vor allem keine quantité négligable. Sie sind eine wichtige Determinante bei der immer ungleicheren Verteilung von Einkommen und Vermögen. Es ist eine komplizierte Materie, aber die Probleme sind nicht unlösbar. Der Finanzminister sollte einige Steuerlehrstühle in Deutschland und im Ausland damit beauftragen, praktikable Lösungsvorschläge zu machen. Die Austrocknung der Steuerparadiese ist eine lohnende Aufgabe.