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Krisenpropheten, wo seid Ihr?

 

Ich leide unter Entzug. Ehrlich. Mir fehlt das Krisengeheul meiner Kollegen auf den Leitartikelplätzen, der Experten in den Talkshows. Die schönen Sätze wie: Deutschland ist ein verkrustetes Land. Oder: Ohne echte Blut-, Schweiß- und Tränenreformen wird Deutschlands Wirtschaft nie mehr wachsen – nie mehr. Täusche ich mich, oder sind sie tatsächlich alle verstummt? Hier und da vielleicht mal der etwas ungelenke Versuch den kräftigen Aufschwung mit der Reformagenda der Regierung Schröder zu erklären. Aber das war’s dann auch schon. Denken die Damen und Herren um, oder ist derzeit einfach nicht der richtige Zeitpunkt um die Leier der Jahre 2002 bis Anfang 2006 mit der selben Vehemenz zu verbreiten? Ich fürchte Letzteres ist der Fall. Aber vielleicht ist ja auch der ein oder andere dabei, der tatsächlich leise zweifelt am Dogma der tonangebenden deutschen Ökonomen. Der Herbst dieses Jahres ist gerade prädestiniert dazu, inne zu halten und noch mal neu nachzudenken.

Hier eine kleine Anleitung:

Anfang der Woche hat die EU-Kommission in Brüssel das Defizitverfahren gegen Deutschland ausgesetzt. Vier Jahre in Folge hat Deutschland es nicht geschafft, seine Neuverschuldung unter die – zugegebenermaßen schwachsinnige, weil durch keine ökonomische Theorie fundierte – 3-Prozent-Grenze des Stabilitätspaktes zu drücken. Dieses Jahr gelingt es mit Leichtigkeit. Wahrscheinlich steht am Ende etwas ganz knapp über zwei Prozent drauf, vielleicht sogar mit einer eins vorm Komma. Vier Jahre hat der tragische Hans Eichel gespart, Ausgaben gekürzt und Abgaben erhöht, um den Stabilitätspakt im nächsten Jahr wieder einhalten zu können. Vier Jahre blieb deshalb das Wachstum schwächer als erwartet, stieg deshalb die Arbeitslosigkeit. Und wie von selbst war das Haushaltsloch am Ende größer als geplant.

Peer Steinbrück dagegen setzte für das erste Jahr der Großen Koalition auf „Wachstum statt Sparen“. Er kalkulierte bewusst mit dem fünften Bruch des Stabilitätspaktes in Folge, um 2007 dann wieder unter die heiligen drei Prozent zu kommen. Er kürzet weder Ausgaben, noch erhöhte er für 2006 Steuern und Abgaben. Und siehe da: Seine Schätzung von 3,3 Prozent für die Neuverschuldung ist Makulatur. Es wird deutlich weniger.

Was ist die Moral von der Geschichte: Kein Finanzminister kann die Neuverschuldung steuern. Sie ist eine Resultante der Wirtschaftsdynamik. Oberste Pflicht eines jeden Finanzministers ist es für Wachstum zu sorgen, dann kommt der Haushalt von allein in Ordnung. Denn mehr Wachstum bedeutet mehr Jobs, bedeutet höhere Steuereinnahmen und weniger Ausgaben für die Sozialkassen. So einfach ist das. Mit Sparen und Gürtel enger schnallen, kann das nicht funktionieren.

Hier noch eine Grafik für all jene, die in alten Debatten auf HERDENTRIEB behauptet haben, es habe nicht an der unterschiedlichen Makropolitik in Euroland und Amerika gelegen, dass Amerika den Konjunkturabschwung zu Beginn des Jahrtausends besser verkraftet habe. Es sei viel mehr der flexible Arbeitsmarkt jenseits des Atlantiks, der die Meriten verdiene. Dass ich nicht lache! Die Grafik zeigt den fiskalischen Impuls, den die Wirtschaftspolitik Eurolands, Englands und Amerikas während des Abschwungs gesetzt haben. Er zeigt die Entwicklung des Primärbudgets, also der Staatsausgaben ohne Zinsausgaben. Wen wundert es angesichts dieser Kurven, dass Amerika und England rasch durch den Konjunkturabschwung gekommen sind, Euroland und besonders Deutschland als kranker Mann verspottet worden sind?

Strukturelles Primärdefizit US UK EA

Die richtige Finanzpolitik erklärt einen großen Teil der Wachstumsüberraschung für dieses Jahr. Leider scheint ja Steinbrück nichts aus seinem Erfolg gelernt zu haben, denn nächstes Jahr will er eisern sparen und die Verbraucher brutal belasten. Damit wiederholt er die Fehler von Eichel und Theo Waigel, seinem Vorvorgänger. Armes Deutschland.

Aber es gibt noch einen zweiten wichtigen Grund, der die Wiederauferstehung Deutschlands erklärt: Die Last der ökonomisch unsinnig gestalteten Wiedervereinigung scheint nach 16 Jahren endlich ausgestanden. Darauf hat unlängst Holger Schmieding, der Eurolandchefvolkswirt der Bank of America hingewiesen. Unter der Überschrift „Celebrating the return to normal“ feierte er den 3. Oktober. Seine aus meiner Sicht wichtigste Feststellungen: Die elf Jahre andauernde Krise beim Bau ist beendet. Der Bausektor, der Ende 1994 für 14,4 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes stand hat, sich auf 9,3 Prozent reduziert. Damit liegt der Anteil des Baus heute wieder knapp unter dem Niveau, das er im Westen vor der Wiedervereinigung hatte. Die interessanteste Rechnung: Wenn sich der Bau seit 1994 parallel zum BIP entwickelt hätte, wäre Deutschland in den vergangenen zehn Jahren mit 1,9 Prozent gewachsen anstelle der mickrigen 1,4 Prozent. Das ist doch der Hammer. Dieses Argument habe ich in den vergangenen Jahren nur ganz vereinzelt gehört. Dabei ist es so wichtig, um die Underperformance von Deutschland zu analysieren. Aber mangelnde Strukturreformen anzuprangern und in dem vermeintlich verkrusteten Arbeitsmarkt die Schuld zu suchen, war opportuner.

Was schreibt Schmieding noch: Durch eine Reihe von Steuersenkungen liegt die Steuer- und Abgabenquote heute bei 43,1 Prozent des BIP und damit auf dem Niveau Westdeutschlands von 1989/90, natürlich deutlich tiefer als 1999, wo sie sich auf 46,7 Prozent belief.
Der Staatsanteil am BIP dürfte nach OECD-Schätzungen nächstes Jahr auf 45,1 Prozent fallen: Damit wäre er geringer als selbst Englands (geschätzte 45,9 Prozent) und läge unterhalb Eurolands (47,5 Prozent).
Daneben habe die Lohnzurückhaltung seit 2000 die Lohnstückkosten nur halb so rasch wachsen lassen wie im Rest Eurolands. Dadurch sei der Schock in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung auch ausgestanden.

Kurzum: Die richtige Makropolitik und das Ende der Wiedervereinigungslast zeichnen zum großen Teil für das ansehnliche deutsche Wachstum verantwortlich. Im dritten Quartal dürfte es nur unwesentlich unter dem des zweiten liegen. Und damit wieder über drei Prozent gegenüber dem Vorquartal – aufs Jahr hochgerechnet.

Kann es sein, dass das Gros der deutschen Ökonomenelite ein Jahrzehnt mit der falschen Brille auf die Wirtschaft geschaut hat – und deshalb heute so still ist? Meine Damen, meine Herren, es ist an der Zeit, Irrtümer einzuräumen.