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Mit dem radikalen Islam verhandeln?

 

 

Aus der ZEIT von morgen:

Es ist schon atemberaubend, wem auf einmal alles Gespräche angeboten werden: Mit den »moderaten Taliban« will Obama reden. Ohne »pragmatische« Teile von Hamas könne es keinen Frieden geben, sagen 14 angesehene Ex-Diplomaten. Die Briten sprechen jetzt offiziell mit dem »politischen Flügel« Hisbollahs. Amerikanische Senatoren eruieren beim Autokraten Syriens die Möglichkeit eines Friedens mit Israel. Und dann hat sich der amerikanische Präsident in einer spektakulären Videobotschaft an Iran gewandt, jenes Land, in dem immer noch Kundgebungen mit dem Ruf »Tod Amerika« enden. 

Obama, der die Wähler und die Welt mit seinem Idealismus gewann, offenbart sich außenpolitisch als radikaler Realist. In kaum sechzig Tagen hat er die herrschende Maxime der amerikanischen Politik seit 9/11 gekippt: Keine Verhandlungen, keine Gespräche mit dem politischen Islam. Ihr seid entweder für uns oder für »die Terroristen«. Und die bekämpfen wir mit Bomben, nicht mit Worten. Doch nun sind (fast) alle, für die bislang Kontaktsperre galt, gesuchte Gesprächspartner.

Denn eine große Ernüchterung hat eingesetzt. Die Bestandsaufnahme ergibt folgendes Bild: Der radikale Islam ist bis auf Weiteres ein Machtfaktor vom Maghreb über den Nahen Osten bis Pakistan. Die Islamisten haben Macht über die politische Einbildungskraft der Muslime gewonnen. Unsere Interventionen haben ihren Einfluss nicht gebrochen. Eher im Gegenteil. Der Islamismus lässt sich nicht wegbomben – weder aus Afghanistan noch aus Gaza. Er verschwindet auch nicht durch Modernisierung und Säkularisierung. Und es macht sich der nagende Zweifel breit, ob dies gerade wegen unserer Präsenz im Herzen der islamischen Welt so ist. Was tun? Rückzug? Raus, bloß raus?

Es darf keine schwarzen
Löcher mehr geben

In der vernetzten, globalisierten Welt wäre das eine fatale Option, wie der Fall Afghanistan zeigt: Denn der 11. September ist ja gerade dadurch möglich geworden, dass wir die Afghanen mit den Taliban allein gelassen hatten, nachdem sie die Sowjetunion besiegt hatten. Dass so etwas nicht wieder passieren darf, dass es keine schwarzen Löcher der Staatlichkeit mehr geben darf, ist unterdessen der Minimalkonsens darüber, was der Westen in Afghanistan erreichen muss. Alle anderen leuchtenden Ziele in dem kriegsgeplagten Land – Demokratie, Menschenrechte, Bildung – werden längst immer weiter abgedimmt. Und wenn Barack Obama nun gar von Abzugsplänen zu reden beginnt, liegt ein Hauch von Defätismus in der Luft. 

Die Politik der »ausgestreckten Hand« (Obama) wirft vier Fragen auf: Wie viele Zugeständnisse muss der Westen machen, weil der Gegner weder militärisch noch durch andere Zwangsmittel wie Boykotte und Sanktionen zu besiegen ist? Wie weit darf der Westen dabei gehen, wenn wir nicht unsere Werte verraten wollen? Können wir mit Feinden Israel voraussetzungslos und »ergebnisoffen« reden? Grundsätzlich gefragt: Lässt sich mit radikalen Islamisten überhaupt Realpolitik machen? 

Obamas Grußadresse zum iranischen Neujahrsfest Nouruz ist eine kühne Probe darauf. Der Präsident geht am sechzigsten Tag seiner Amtszeit eine waghalsige Wette ein – dass er ein Regime, das seit Generationen von Antiamerikanismus und Antiwestlertum lebt, durch Verhandlungsofferten in die Weltgemeinschaft zurückholen könne.

Riskant ist die Sache nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die Gegenseite im Politschach. Denn Obama räumt mit unerbittlicher Freundlichkeit ein Überlebensmittel des Regimes ab: den hässlichen Amerikaner. Sicher ist es kein Zufall, dass ihm der Präsident des »Kleinen Satans«, der israelische Präsident Schimon Peres, mit einer eigenen Neujahrsansprache an das »edle iranische Volk« zur Seite springt – die Iraner mögen »ihren berechtigten Platz unter den aufgeklärten Nationen der Welt« einnehmen. »Ich bin sicher«, so Peres letzte Woche, »der Tag ist nicht fern, an dem wir zu gut nachbarlichen Beziehungen zurückkehren können.« Man reibt sich die Augen: Noch vor Wochen war all dies undenkbar. Achse des Bösen, adieu?

Obama zieht in seiner Ansprache kurzerhand einen Strich unter Jahrzehnte gescheiterter amerikanischer Iranpolitik. Drei Minuten genügen ihm, um mit dreißig Jahren Sprachlosigkeit zu brechen. Implizit beerdigt er die Politik des regime change, indem er sich an »das Volk und die Führer der Islamischen Republik Iran« – eine lange vermiedene Formel – wendet. Seine Regierung, sagt er, habe sich »nun der Diplomatie verschrieben«. Damit ist die Option eines Militärschlages zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber doch nach ganz weit hinten ins Regal verbannt. Und das alles beherrschende Thema der westlichen Iranpolitik, den Streit ums Nuklearprogramm, erwähnt Obama nicht ein einziges Mal. Denn nun soll »die ganze Bandbreite der vor uns liegenden Fragen« behandelt werden, und dies könne nicht durch »Drohgebärden« befördert werden, sondern nur durch »wechselseitigen Respekt«. Obama stellt Iran vor die Wahl, seinen »berechtigten Platz unter den Völkern« einzunehmen oder weiter auf Einfluss durch »Terror und Waffen« zu setzen. 

Der iranische Revolutionsführer Chamenei hat es sofort verstanden: Die Neujahrsbotschaft verbirgt unter einer dicken Schicht von zuckersüßen Nettigkeiten eine glasklare Botschaft, die das diplomatische Spiel um den Mullahstaat verändert. Darum gab der Ajatollah am Sonntag seinem Verdacht Ausdruck, die USA könnten »unter dem Samthandschuh eine Gusseisenhand versteckt haben«. 

Mitten hinein in den iranischen Wahlkampf – im Juni sind Präsidentschaftswahlen – wird den Iranern eine Alternative zur Selbstisolation geboten. Jeder Kandidat wird sich dazu verhalten müssen. 

Schon nächste Woche wird man eine Ahnung bekommen, wie die iranische Führung die Charme-offen-sive beantwortet. Bei der Afghanistan-Konferenz in Den Haag sitzen die Iraner mit am Tisch, Auge in Auge mit Hillary Clinton. Man hat ein Interesse an einem stabilen Nachbarn, ebenso wie Pakistan und Indien, die anderen Anrainer. Dass wir jetzt einerseits die Nachbarn als Partner für die Stabilisierung Afghanistans gewinnen und andererseits zugleich mit den Taliban verhandeln wollen, die alle drei als Todfeinde sehen, erscheint als Widerspruch. Ist es aber in Wahrheit nicht.

»Moderate Taliban«
ist ein ungeschickter Begriff

Das Wort von den »moderaten Taliban« hat sofort die Spötter auf den Plan gebracht: Sind das Taliban mit kurzen Bärten, die Frauen nur mit Kieseln steinigen wollen? In anderen Worten: Moderate Taliban seien ein Widerspruch in sich. 

Mit dem ungeschickten Begriff ist aber eigentlich anderes gemeint. In Afghanistan gebe es eine Fülle verschiedener »oppositioneller militanter Kräfte«, wie die deutsche Expertin Citha Maass formuliert. Unterschiedliche Gründe treiben Stammesführer den Aufständischen zu – Widerwille gegen die Besatzer, Unzufriedenheit mit der korrupten Regierung, Stammesfehden, Geld- und Machtgier. Religiös-ideologischer Fanatismus ist nur für eine kleine Minderheit ausschlaggebend, und doch nennen wir alle »Taliban«. Statt mit Begriffen wie »Krieg gegen den Terrorismus« die Unterschiede zu verwischen, kommt es heute darauf an, legitime Beschwerden und rationale Motive vom blinden Hass eines harten Kerns zu scheiden. Die diplomatische Offerte richtet sich an jene Teile der Aufstandsbewegung, die der geistige Vater des neuen Ansatzes, der australische Soldat und Intellektuelle David Kilcullen, »Gelegenheits-Guerilla« nennt.

Kilcullen ist der Kopf hinter dem Erfolg von General Petraeus im Irak. In der Provinz Al Anbar ist es gelungen, die Stammesführer von al-Qaida wegzulocken, indem man ihre Beschwerden gegen die Regierung ernst nahm und sie zum Teil der Lösung machte. Neben der Stammesdiplomatie war die Herstellung von Sicherheit auf lokaler Ebene entscheidend für den Erfolg des surge – und natürlich viel Geld für die Stammesmilizen. Will man das Rezept von Al Anbar auf Afghanistan übertragen, so wird man auch dort »mit 90 Prozent derjenigen verhandeln müssen, gegen die wir kämpfen – genau wie wir es im Irak getan haben« (Kilcullen). Es geht darum, in vielen kleinen Verhandlungen diejenigen, die bloß ihren Vorteil suchen, für ihr Stammesethos eintreten oder »nur« eine lokale islamische Herrschaft wollen, von den unversöhnlichen globalen Dschihadisten zu trennen. 

Aber was heißt »nur lokal«? Hier liegt eine rote Linie, die der Westen nur um den Preis der Selbstaufgabe überschreiten kann. Die afghanischen Frauen, die Mädchen in den Schulen, die NGO-Mitarbeiter und all jene, die sich durch die westliche Intervention haben ermutigen lassen, müssten am Ende den Preis bezahlen, wenn wir nach der Devise handelten: Wenn die Radikalen nur euren Teil der Welt zur Hölle machen wollen, werden wir ihnen nicht länger im Weg stehen.

Eine andere rote Linie ist die Sicherheit Israels. Aber ist es für Freunde Israels nicht gerade wichtig, mit seinen Feinden zu sprechen? Ein deutscher Diplomat, der oft mit Israels Gegnern am Tisch sitzt, meint: Die Israelis »finden es eigentlich ganz gut, wenn wir in Teheran eine halbe Stunde lang über Israels berechtigte Ängste sprechen, weil sie selbst keine Gelegenheit dazu bekommen«.

Der radikale Islamismus wird nicht verschwinden – weder in der staatlichen Ausprägung der »Islamischen Republik« noch in Form von Aufstands- und Widerstandsbewegungen wie sie die Taliban, Hisbollah und Hamas darstellen. Dies erst einmal zur Kenntnis zu nehmen ist bitter. Und der Verdacht, dass es sich letztlich doch um Rationalisierungsversuche für einen Rückzug handelt, schwebt über der neuen Offenheit.

Zunächst allerdings ist die Niederlage der bisherigen Politik und ihrer irrationalen Kombination von massiver gewalttätiger Intervention mit Sprechverboten einzugestehen. Dass Obama dazu bereit ist, macht ihn auch in den Augen der Gegner Amerikas stark, nicht schwach. Eben weil die bisherige Politik so wenig erfolgreich war, führt ja heute kein Weg daran vorbei, die Lücke zu suchen zwischen dem politischen Flügel Hisbollahs und den Militanten. Und im Fall von Hamas heißt das: die Fanatiker im Exil in Damaskus von denjenigen in Gaza zu unterscheiden, die aus dem israelischen Einsatz gelernt haben, dass sie zwar nicht vernichtet werden, aber auch selbst nicht siegen können. Denn wenn es je eine legitime Einheitsregierung in den palästinensischen Gebieten geben wird – Voraussetzung einer Zweistaatenlösung –, wird auch Hamas beteiligt sein müssen. 

Obama hat mit seiner Offerte an Iran die Tür zu einem Politikwechsel aufgestoßen. Jetzt gibt es die Chance, im Geist des radikalen Realismus einen echten Dialog zu versuchen – ohne Naivität, Überheblichkeit und Toleranzrelativismus.