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Die Rückseite von Woodstock

 

Ab und zu darf ich in meiner Zeitung auch über Dinge schreiben, die mir wirklich wichtig sind. Filme zum Beispiel. (Ich schaue fast jeden Tag einen Film, seit ich mit einer ehemaligen Filmkritikerin verheiratet bin.) Und manchmal darf ich dann meine Meinung dazu sagen, wie hier über Ang Lees (mein Lieblingsregisseur der letzten 15 Jahre) neuen Film „Taking Woodstock“. Aus der ZEIT von morgen:

Ang Lee hat sich schon wieder ein neues Milieu, ein neue Ära zu eigen gemacht – nun also Woodstock und die späten Sechziger. Man fragt sich bewundernd, ob es eigentlich irgendetwas gibt, das dieser Regisseur nicht kann. Und zugleich bleibt man doch ein kleines bisschen enttäuscht zurück, denn „Taking Woodstock“ ist sicher kein ganz großer Film unter den vielen, die wir Lee schon zu verdanken haben. Gegen den abgründigen Spionage-Thriller „Gefahr und Begierde“ etwa fällt die luftig-leichte Hippie-Komödie deutlich ab. Und von „Brokeback Mountain“, dem größten Melodrama der letzten Jahre, wollen wir mal gar nicht erst anfangen. Aber müssen sich Genies denn immer selbst übertreffen?
Ein Rätsel, wie jemand so vielfältig erzählen kann: Ang Lees Filmwelt spannt sich auf zwischen Taiwan und Montana, zwischen Jane Austen und Marvel-Comics, zwischen chinesischen Familiendramen im heutigen Hongkong und einer tragischen schwulen Erweckungsgeschichte im Cowboymilieu der Fünfziger. Lee ist der große Melodramatiker, der Gefühls- und Beziehungsregisseur unserer Tage – ein Douglas Sirk ohne Kitsch, der zu seiner und unserer Entspannung gelegentlich auch mal einen Actionfilm macht.
Oder eine leichte Komödie wie diese hier, seine erste seit fünfzehn Jahren, als er mit dem „Hochzeitsbankett“ und „Eat Drink Man Woman“ auf der Szene erschien. Doch diesmal hat Lee sich eine wahre Geschichte vorgenommen – eine Premiere in seinem Oeuvre. Es wird erzählt, wie es dazu kam, dass eine halbe Million Hippies in das Kaff Bethel bei Woodstock einfiel, tief im „Borscht-Belt“ der Catskills gelegen, wo sonst jüdisch-osteuropäische Einwanderer ihre Sommerfrische zu verbringen pflegen. Dass dieser Film kein ganz grosser geworden ist, mag durchaus damit zu tun haben, dass Lee das Material nicht vollkommen gehört. Offenbar braucht er für seine Höhenflüge die Freiheit des Fiktionalen. Diesmal aber bilden die Erinnerungen Eliot Teichbergs den Rahmen, eines eher obskuren, aber entscheidenden Hintermanns des Woodstock-Festivals.

Eliot wollte eigentlich bloß seinen Eltern helfen, die Zwangsversteigerung ihres heruntergekommenen Motels abzuwenden. Dabei ist es kein Wunder, dass sie vor dem Ruin stehen: Seine dominante Mutter (wunderbar kratzbürstig: Imelda Staunton) und sein unterdrückter Vater (Henry Goodman) sind wohl die ungastlichsten Wirtsleute, die man sich denken kann – wortkarg, bitter, knauserig. Als Eliot, der eigentlich Innenausstatter in New York werden möchte, von einem Musikfestival hört, das in einem Nachbarort an den Vorbehalten der Bewohner gegen die Hippies zu scheitern droht, kommt er auf eine Idee mit Folgen: Sollen die Hippies doch nach Bethel kommen und auf der Wiese der Teichbergs ihr Festival abhalten! Am Ende wird es zwar die Wiese des Nachbarn Max Yasgur werden, weil die Teichberg-Farm in Wahrheit zu weiten Teilen ein Sumpfgebiet ist. Aber das kaputte Motel der Eltern wird tatsächlich zur Keimzelle des größten Ereignisses der Gegenkultur der 60er. Die Organisatoren haben hier ihr Büro, einige zentrale Bands steigen in dem Haus ab, und Hunderte kampieren am Ende auf dem Land der Teichbergs.
Doch das ist alles nur der Hintergrund für die Geschichte Eliots, seiner Familie und Freunde. Eliot, gespielt von dem sehr witzigen Comedian Demetri Martin in seiner ersten Rolle, wird zu unserem Führer durch die legendären Tage voller Frieden, Matsch und Musik. Er verliert seine Jungfräulichkeit mit einem der Bühnenarbeiter, er schmeißt seinen ersten Trip, und schließlich lernt er seine Eltern von einer neuen Seite kennen. (Wenn ich richtig gezählt habe, ist dies bereits das dritten schwule Coming Out in Lees Werk – ziemlich bemerkenswert für einen erklärtermaßen heterosexuellen Regisseur, der Vater zweier Söhne ist.) Die Teichbergs betrachten die langhaarigen jungen Leute mit den auffällig geweiteten Pupillen zunächst voller Verdacht, wie alle in der verschlafenen Gemeinde. Dann jedoch entdecken sie zahlreiche Möglichkeiten, ein gutes Geschäft mit ihnen zu machen, weil es viel zu wenig Schlafplätze und Verpflegung für die in Scharen anreisenden Freaks gibt. Und schließlich werden auch sie kurz vom Geist des Wassermannzeitalters erfasst – mit Hilfe einiger Kekse mit speziellen Zutaten. Eine der schönsten Szenen des Films zeigt die beiden alten Herrschaften vollkommen stoned und ausgelassen tanzend – vielleicht zum ersten Mal entspannt und befreit, seit die beiden Einwanderer das Shtetl in Weissrussland verlassen haben.
Dies ist kein Woodstock-Film. Wir sehen weder Hendrix, noch Joplin, noch die Who. Niemand imitiert Richie Havens. Manchmal wehen zwar einige Akkorde zum „El Monaco“-Motel herüber. Aber hier geht es im Grunde, wie so oft bei Ang Lee, um die Lebenswege einiger nicht ganz normaler Individuen, die vom Wind des Wandels erfaßt werden. Diesmal ist es kein Eissturm, der Menschen von ihrem Weg abbringt und ihre Beziehungen zertrümmert – wie in dem gleichnamigen Film. Es ist eine freundliche Brise: Eliot hat sein Coming out, seine Eltern schütteln die alte Einwandererangst ab, Eliots Freund Billy lernt mit seinem Vietnamtrauma zu leben, Max Yasgur lernt die Hippies als höfliche Menschen zu lieben. Und der muskulöse Transvestit und Ex-Marinesoldat Vilma findet seine Lebensaufgabe als Security-Dragqueen im rosa Fummel. Liev Schreiber ist in dieser Rolle der heimliche Held des Films, mit langen blonden Haaren, imposanten Oberarmen und einem Herz aus Gold.
Es macht Spaß, sich die Rückseite des berühmten Festivals von Ang Lee ausmalen zu lassen. Aber hier liegt auch ein Problem des Films: Im Vergleich zu Lees großen Melodramen wie „Eissturm“, „Brokeback Mountain“ oder „Gefahr und Begierde“ wirkt „Taking Woodstock“ irgendwie spannungslos. Und das ist ausgerechnet bei diesem Thema dann doch misslich.
Martin Scorcese war als junger Regisseur an der legendären Woodstock-Doku von Michael Wadleigh beteiligt, die unser Bild des Festivals geprägt hat. Im Rückblick hat Scorcese einmal gesagt: „Heute schauen viele Leute sentimental auf den Geist von Woodstock zurück. Aber ich glaube, er enthielt Elemente von etwas Bedrohlichem, die nie gezündet wurden.“ Schade, dass Ang Lee diese bedrohlich lauernden Elemente nicht wenigstens zeigt: Drogenwahn, Gewalt und Kommerz, die leider schon bald die Bewegung verschlingen sollten. Die Kostbarkeit des Moments unverhoffter Freiheit, den wir mit Eliot, seine Freunden und seinen Eltern erleben, hätte das noch gesteigert.