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Das Islambild in den Medien

 

Mein Gastvortrag vom Dienstag, 6.7.2010, an der Goethe-Universität Frankfurt im Rahmen der Ringvorlesung: „Wieviel Islam verträgt Europa?“

Wo soll man bloß beginnen? Der Zugang der Muslime zu den Me­dien in Deutschland, das Bild des Muslims in den Medien, Muslime als Medienma­cher?
Woher nehme ich überhaupt die Berechtigung, über dieses Thema – Islam in den deutschen Medien – zu reden vor einem akademischen Publikum. Woher nehme ich das Recht, darüber zu schreiben? Denn: Islamwis­senschaftler wie viele von Ihnen hier bin ich nicht. Ich spreche weder türkisch noch arabisch und habe auch nicht Theologie oder Islamkunde studiert.
Trotzdem haben Sie mich ja eingeladen. Sie werden sich schon was dabei ge­dacht haben. Und ich fühle mich geehrt, in einer Reihe mit großen Fachleuten hier vor ihnen reden zu können. Sie werden von mir keinen wissenschaftlichen Vortrag er­warten, sondern eine Reflexion der Praxis, aus der ich selbst komme. Ich danke Ihnen für die Gelegenheit dazu, einmal innezuhalten und zu fragen: Wie über den Islam, die Muslime und islambezogene Themen berichten?
Immer mehr Muslime in Deutschland, Frankreich und Großbritannien glauben nicht, dass die Mainstream-Medien ausgewogen über sie berichten. Zu diesem Ergebnis kommt ein Pilotprojekt des Londoner Institute for Strategic Dialogue und der Vodafone Stiftung Deutschland.
55 Prozent der befragten Muslime vertraten die Auffassung, die großen Medien berichteten negativ über Muslime. Bei den nicht muslimischen Befragten waren es immerhin 39 Prozent.
Mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer sind überzeugt, dass es in den meisten Berichten über Muslime um Terrorismus geht. Ein Drittel glaubt, dass vor allem Fundamentalismus eine Rolle spielt; ein Viertel nimmt als häufigstes Thema in der Berichterstattung über Muslime die Kopftuchdebatte wahr.
Natürlich haben diese Befragten nicht Recht in einem objektiven Sinn: Keineswegs geht es in der Mehrzahl der Berichte um Terrorismus. Und das Kopftuch ist immer noch ein Aufregerthema, aber das „häufigste“? Nein. Dennoch scheint es mir unbestreitbar richtig, dass die Intuition der Befragten stimmt, dass hier etwas im Argen liegt.
Ein jüngeres Beispiel: „Jung, muslimisch, brutal“ titelte Spiegel Online einen Bericht über die Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer zum Zusammenhang von Religi­ösität und Gewaltneigung. Der Süddeutschen fiel zur gleichen Untersuchung die Zei­le ein: „Die Faust zum Gebet“.  blick.ch: „Macht Islam ag­gresiv? Jung, brutal — Muslim“, Tagesspiegel: „Allah macht hart“, heise.de: „Jun­ge männliche Macho-Muslime“, Financial Times Deutschland: „Studie zu jungen Muslimen — Je gläubiger, desto gewalttätiger“, Welt.de: „Studie — Gläubige Musli­me sind deutlich gewaltbereiter“, Welt: „Muslime — Mehr Religiosität = mehr Ge­waltbereitschaft“, Bild.de: „Junge Muslime: je gläubiger desto brutaler“, Hamburger Abendblatt: „Junge Muslime: Je gläubiger, desto brutaler“.
Das ist die Ausbeute der Schlagzeilen, und sie ist nicht einmal vollständig. In Wahr­heit steht in der Studie allerdings, dass es nur einen moderaten Anstieg der Gewaltbe­reitschaft bei jenen jugendlichen Muslimen gibt, die sich als „sehr religiös“ bezeich­nen. (Einzig der Tagesspiegel weist darauf hin und konterkariert so die reißerische Überschrift.) Und die Studie führt auch aus, dass für diesen Anstieg der Gewaltbereitschaft hauptsächlich außerreligiöse Gründe verantwortlich sind – eine Machokultur, die Zahl straffälliger Freunde oder der Konsum von gewaltverherrlichenden Medien zum Beispiel. Es gibt laut der Studie „keinen signifikanten Zusammenhang“ zwischen Re­ligiosität und Gewalt. Ich zitiere:
„Das Modell III belegt ferner, dass diese erhöhte Gewaltbereitschaft weitestgehend auf andere Belastungsfaktoren zurückzuführen ist, wobei die vier bereits bekannten Faktoren einbezogen werden. Dies führt dazu, dass von der Zugehörigkeit zu einer Konfessionsgruppe kein Effekt mehr auf das Gewaltverhalten zu beobachten ist. (KFN-Studie, Seite 116)
(…) Mit stärkerer religiöser Bindung steigt die Gewaltbereitschaft tendenziell an. Da dieser Zusammenhang aber als nicht signifikant ausgewiesen wird, ist bei isla­mischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang (und damit auch nicht von einem Gewalt reduzierenden Zusammenhang) zwischen der Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen. (KFN-Studie, S. 118)
(…) Mit den hier dargestellten Forschungsergebnissen ist noch nicht ausreichend belegt, dass der Islam für die dargestellte Problematik direkt verantwortlich gemacht werden kann. Zur Klärung bedarf es tiefergehende Analysen (…). (KFN-Studie, S. 129)
Kein Effekt, nicht signifikant ausgewiesen, kein unmittelbarer Zusammenhang, nicht ausreichend belegt – so lautet die Schlußfolgerung der Studie.
Und dennoch kam es zu den zitierten Schlagzeilen.  Das ist ein journalistisches De­saster! Dass Muslime angesichts einer solchen Parxis von Islamophobie sprechen, kann ich verstehen.
So darf es nicht weitergehen!
Wie in diesem Fall aus einer Studie, die vorsichtig formuliert, eine Alarmmeldung über brutale junge Muslime gemacht wurde – im vollen Bewußtsein des Herrn Pfeif­fer übrigens, dem es offenbar lieber ist, falsch zitiert zu werden als gar nicht – das ist ein Lehrstück darüber, wie es nicht geht.
Warum ich den Begriff Islamophobie dennoch nicht für geeignet halte zu beschrei­ben, was sich in unserer Öffentlichkeit abspielt, werde ich später beschreiben.
Noch ein Lehrstück, das hierher passt. Es bildet für mich sozusagen den Widerpart zu dem eben zitierten. Pfeiffers Ergebnisse wurden ungebührlich aufgeblasen, um daraus antimuslimische Ressentiments zu bedienen. Umgekehrt wurde in einem anderen Fall ein Verbrechen marginalisiert – an den Rand der Wahrnehmbarkeit gedrängt.
Der Umgang der deutschen Medien – die ZEIT eingeschlossen – mit dem Fall von Marwa El-Sherbiny ist erklärungsbedürftig.  Ich muss Ihnen nicht vor Augen führen, was sich vor einem Jahr in Dresden abgespielt hat. Eine junge Frau wurde vor Ge­richt ermordet, und ihr Mann dann auch noch von der Polizei angeschossen, und dies alles während eines Prozesses, den diese junge Frau führte, weil sie von jenem Alex W. auf übelste Weise beschimpft worden war: „Islamistin“, „Terroristin“, „Schlampe“. Hier hatte jemand das Richtige getan: auf die deutsche Justiz vertraut, um sich gegen antimuslimische Hetze zur Wehr zu setzen. Und war dann im Schoß eben dieser Justiz einem Mord zum Opfer gefallen.
Und nun  kommt das Erstaunliche: Tagelang war dies in den deutsche Medien ein Non-Event! Erst als von den tumultartigen Szenen der Beerdigung in Alexandria be­richtet wurde, erst als eine Wiederholung der emotionalen Aufwallung aus den Zeiten der Karikaturen-Affäre drohte. Die Empörung kam also von außen. Es mußte erst die Befürchtung hinzukommen, dass Deutschland außenpolitisch Schaden nehmen könn­te, damit die führenden Politiker sich äußerten. Merkel verurteilte den Mord, Münte­fering nahm an der Trauerfeier teil, wichtige gesellschaftliche Gruppen meldeten sich entsetzt zu Wort – allen voran übrigens die Juden.
Aber etwas war nicht in Ordnung daran: Die merkwürdige Verzögerung der Reaktion des öffentlichen Deutschland verlangt nach einer Erklärung. Eine naheliegende Mög­lichkeit dabei wäre „Islamophobie“. Ist es Islamfeindlichkeit, die das verzögerte Rea­gieren erklärt? Mir fällt es schwer, Merkel, Müntefering, Schäuble oder anderen Re­präsentanten der Berliner Politik Islamfeindlichkeit zu unterstellen. Irritierend ist eher eine gewisse Zögerlichkeit und Ungerührtheit – als hätte das Geschehen nichts mit dem Deutschland  zu tun, in dem diese Politiker arbeiten. Das Gleiche gilt allerdings auch für die Medien. Auch sie haben offenbar tagelang erfolgreich den Fall Narwa von sich weggeschoben. In der ZEIT haben einige Kollegen damals eine erschrocke­ne Seite 3 geschrieben, die das eigene Versagen reflektierte. Ich zitiere:
„Wenn man einmal Mutmaßungen über das (west-)deutsche Mehrheitsbewusstsein anstellen darf, dann spielten sich dort nach dieser Tat folgende Gedankengänge ab: 1. Wie furchtbar, die arme Frau, was für ein Unglück. 2. Die Tat geschah nicht wirklich in Deutschland, sondern im Osten. 3. Der Täter ist ein Russlanddeutscher, bekannter­maßen die problematischste Minderheit, die in diesem Land lebt, also keiner von uns. 4. Ein Einzelfall also: Übergang zur Tagesordnung. So wurde die Sache mental mar­ginalisiert, auch die Politik nahm das alles zunächst nur aus dem Augenwinkel wahr.“
Immer wieder war in jenen Tagen zu hören und zu lesen, das wäre nicht so gelaufen, wenn das Opfer jüdisch – und nicht muslimisch – gewesen wäre. Daran gefällt mir die mitlaufende Unterstellung nicht, dass die Juden sich einen privilegierten Platz als Opfer in der deutschen Wahrnehmung irgendwie unverdient erschlichen hätten. Und leider ist das auch faktisch gar nicht wahr, dass es jedesmal eine große Aufmerksam­keit findet, wenn Juden hierzulande drangsaliert werden.
Vielleicht gibt es ganz banale Gründe für die schlechte Reaktion der Öffentlichkeit, wie meine Kollegen in dem ZEIT-Beitrag vermuteten:
„Es geht nicht um Islamfeindlichkeit, eher um Islamferne – vielleicht auch um eine in der Ferne gedeihende Kälte und Abneigung. ‚Es war keine böse Absicht, son­dern eher Gleichgültigkeit und Ignoranz‘ meint Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime. Noch fehlt uns Sensibilität für die muslimische Gefühlswelt. Noch immer hat man das Gefühl, dass die deutsche Gesellschaft mit dem Rücken zu ihren Migran­ten lebt, dass sie ihnen zu wenig gibt und zu wenig von ihnen verlangt. Noch immer sind hier ‚wir‘ und da ’sie‘ – die Identifikation und die selbstverständliche Solidarität fehlen, und das ist es, was die Muslime in der trägen öffentlichen Reaktion auf die Mordtat von Dresden gespürt haben mögen. Die Islamkonferenz war eben nur ein Anfang. Und die Medien? Zufällig hat sich kürzlich eine Journalistenvereinigung für Migran­ten gegründet. Sie will dem Missstand abhelfen, dass in deutschen Redaktionen fast keine Einwanderer arbeiten. Wäre es anders, so hätte es diese langen fünf Tage ge­wiss nicht gegeben. Und es sollte sie nie wieder geben.“
Zurück zum Thema: Muslime und Medien.
Ich möchte mit einer Feststellung beginnen: Es handelt sich hier um ein zentrales Feld der Gesellschaftspolitik.
Das ist in den vergangenen Jahren wohl auch dem letzten klar geworden. Als ich vor etwa 8 Jahren anfing, in der ZEIT regelmäßig darüber zu schreiben, war das noch nicht so. Mein Be­richt zum Beispiel über eine erregte Kontroverse in der Islamwissenschaft landete im Feuilleton. Ein Chef  hatte Bedenken, als ich mich wochenlang in Streitigkeiten über die Übersetzbarkeit bestimmter Passagen des Korans einwühlte. „Sie fehlen mir zu lange für die Hauptthemen“, war die Begründung seiner Sorge.
Nun ist aber der Islam zweifellos eines der Hauptthemen unserer Profession gewor­den. Und die Chefs haben auch umgedacht. Vor zwei Jahren wurde ich gebeten für eine Reihe in unserem Politikteil über die neue politische Bedeutung der Religionen – also auf den vorderen Seiten – ein Stück über den Islam  zu schreiben. Das hätte man sich vor zehn Jahren auch nicht träumen lassen, dass die Religion so in den Vordergrund des politischen Berichtes rücken würde. Aber so ist es.
Es gibt dafür zwei Gründe, über die wir hier nicht viel Worte verlieren müssen, so of­fensichtlich ist das: Terrorismus und Einwanderung – anders gesagt: radikale, religiös motivierte poltische Bewegungen einerseits und Immigration demographischer Wan­del andererseits. Ein außenpolitisches Motiv also, und ein innenpolitisches.
Allerdings sprengt das Themenfeld „Islam“ diese fein säuberliche Aufteilung der journalistischen Welt in „Innen“ und „Außen“, auf die wir so viel Wert legen in mei­nem Beruf.
Nehmen wir mal die Affäre vor einem Monat um das Boot, das aus der Türkei nach Gaza aufgebrochen ist, um dort die israelische Blockade zu brechen – die Mavi Mar­mara. Eine türkisch-islamische Hilfsorganisation namens IHH steckte hinter dem Un­ternehmen. Aber auch deutsche Abgeordnete der Linkspartei waren mit an Bord. Neun Menschen starben bei dem Versuch der isarelischen Armee, das Boot zu stür­men.
Nun ist das für Deutschland ganz klar erst einmal eine außenpolitische Angelegen­heit. Aber nicht mehr ausschließlich: Wenn die deutsche Regierung sich hier positio­niert, hat das auch Auswirkungen in der Innenpolitik: Wie nimmt  der Teil des Publi­kums die Einlassungen der deutschen Bundeskanzlerin oder des Außenministers wahr, der selber türkische Wurzeln hat? Es kann sein, dass sich in einem solchen Konflikt die deutsche Kanzlerin im Wettbewerb befindet – im Wettbewerb mit dem türkischen Ministerpräsidenten um die öffentliche Meinung der Deutschtürken zum Thema Israel, Gaza, Blockade. Und wenn bei einer solche Aktion neun türkische Staatsbürger sterben, dann ist das für ein Land wie Deutschland mit einer großen tür­kischen Minderheit ein Faktum von Bedeutung. In der deutschen Politik – und in den deutschen Medien – wird aber über den aktuellen isarelisch-türkischen Konflikt immer noch geredet und geschrieben, als ginge uns diese Sache nut etwas an im Lichte unseres außenpolitischen Credos, die Existenz Israels sei „Teil der deutschen Staatsräson“. Ich glaube, dass hier in langer Sicht die innenpolitische Lage die außenpolitische Perspektive verändern wird. Deutschland ist da nicht in einer schlechten Position durch seine glaubwürdige, ausbalancierte Haltung im Nahen Osten.
Und diese Tendenz des Islam-Themas, die Grenzlinie von Innen und Außen zu verwi­schen, macht es so interessant und zu einem Zukunftsthema – denn die Weise wie sich uns das Thema Islam in den letzten Jahren aufgedrängt hat, hat mit den Verände­rungen in der Welt zu tun, für die wir noch nicht die richtigen Begriffe haben. Manch­mal sagen wir Globalisierung dazu, aber das ist auch hilflos.
Der Islam ist offensichtlich ein außenpolitisches Thema – seit die Nato in Bos­nien einen Krieg (wenn auch zu spät – ich sage nur: Srebrenica) für die Rechte der Muslime geführt hat. Und seit sie in Afghanistan versucht, an Stelle eines failed state in den Händen einer islamistischen Terrorgruppe eine Art von afghanischer Selbstre­gierung zu installieren und zu stützen – ein moderates islamisches Regime, das sich nun auch mit den gesprächsbereiten Teilen der Taliban aussöhnen soll. Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, einen führenden Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes zu sprechen, der sich mit Nahostpolitik beschäftigt. Der Mann vom BND, er nannte sich Herr Schulz, erzählte mir, er habe in den letzten Jahren ein Dutzend neuer Stellen be­setzen dürfen: alles Islamwissenschaftler.  Sie sehen, Ihr Fach hat glänzende Zu­kunftsaussichten!
Das ist die außenpolitische Lage: Doch der Islam ist selbstverständlich auch ein innenpolitisches Thema, seit sich die Lesart durchgesetzt hat, dass erstens die Muslime nicht wieder weggehen, die durch die Migration hierhergekommen sind. Und zweitens, dass diese Muslime ihren Islam nicht irgendwann abstreifen werden und also der Islam als Religion eines wesentlichen Teils der Bevölkerung Teil der staatverfassungsrechtlichen Wirklichkeit hier werden muss. Und mehr als das, denn damit ist ja nur die institutionelle Seite benannt. Ich habe gerne das Wort „Einbürge­rung des Islams“ benutzt, weil es auch um das Vertrautwerden miteinander geht, das sich aufeinander Einlassen in einem viel umfassenderen Sinn. An unseren Debatten über Kruzifixe in Klassenzimmern, Amtseide mit Gottesformel, Moscheebauten in deutschen Innenstädten können wir ablesen, wie viel da noch zu tun – und zu schrei­ben – bleibt.
Also: das Thema ist erkannt.
Sehr spät, vielleicht noch nicht zu spät. In der Deutschen Islamkonferenz, die Wolf­gang Schäuble vor fünf Jahren begonnen hat, gab es einen Arbeitskreis zu diesem Thema.
Viel bewegt hat dieser Arbeitskreis freilich nicht. Sie kennen ja das schöne und leider auch wahre Motto: Wenn Du nicht mehr weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis. Der Nachfolger Schäubles, der neue Innenminister de Maizière, wollte die AG Medien denn auch nicht weiterführen. Er pflegt statt dessen inen inoffiziellen Stammtiscch deutscher und türkischer, auch arabischer Journalisten. Man tagt unregelmässig und tauscht lose Meinungen und Eindrücke aus. Ich habe daran einmal teilgenommen. Schlecht war es nicht, aber ein bisschen struktur- und damit wahrscheinlich auch: fol­genlos.
Immerhin ist es ein Anfang, die manchmal krachend laute Sprachlosigkeit in diesem Land zwischen Journalisten deutscher, türkischer und arabischer Medien zu überwin­den. Immerhin. Immer noch gibt es sehr wenige türkischstämmige Autoren/ Autorin­nen deutscher Blätter. Aber es tut sich was. Dazu später einige Worte.
Aber die schlechte Quote in den deutschen Redaktionen kann hier nicht das Haupt­thema sein. Denn wir würden uns wahrscheinlich schnell einig darber, dass sich hier dringend die Lage ändern muss. Es wäre wünschenswert, dass die Redaktionen in ih­rer Zusammensetzung ein Bild davon geben, wie die Welt ist (und wie sie noch zu­nehmend werden wird), in der wir leben: sehr viel bunter gemischt, ein Patchwork von ethnischen, kulturellen und religiösen Identitäten. Wie man dahin kommt, dar­über lässt sich streiten: Quotierungen? Gezielte Qualifikationsmassnahmen? Oder einfach durch einen aufmerksamen Blick derjenigen, die über die Stellenbesetzungen entscheiden, für Talente unter den „neuen Deutschen“?
Es ist ja vielleicht auch nicht so schwer zu verstehen, warum  – wenn das auch nicht begrüssenswert ist -,  die Medien, was die Mischung angeht, hinter man­chen anderen Bereichen der Gesellschaft hinterherhinken (denken wir nur an den Sport, in dem es offenbar leichter ist): denn um in den Medien Karriere zu machen, braucht man nicht nur ein regelhaftes Wissen, das man methodisch erwerben kann wie in den exakten Wissenschaften. (Dies braucht man allerdings auch!) Und man braucht auch nicht nur nur ein hermeneutisches Spezialwissen wie in den Geisteswis­senschaften. (Dies braucht man allerdings auch!) Sondern vor allem braucht man die seltene und schwer zu fassende Ressource „kulturelles Kapital“. Das heißt: Man muss Anspielungen verstehen können, man braucht eine gewisse Selbstsicherheit im Auf­treten, man muss mit den kulturellen Codes der Gesellschaft vertraut sein.
Worüber sich die Leute aufregen, was sie lustig finden und was abstoßend, das muss man in dieser Branche erspüren können, um Erfolg zu haben. Das sind Qualifikatio­nen, die man so leicht an keiner Journalistenschule erwerben kann.
Das soll keine Entschuldigung dafür sein, dass so wenige Journalisten bisher „neue Deutsche“ sind. Nur eine Erklärung, die nüchtern auf das Gewerbe schaut und nicht von vornherein von einer systematischen Diskriminierung ausgeht. Ich prophezeie, dass sich in absehbarer Zeit vieles ändern wird. Nicht weil die Medienmacher plötz­lich zu – wie man hierzulande gerne abschätzig  sagt– „Gutmenschen“ werden, die unbedingt Minderheiten fördern wollen. Im Gegenteil: Weil das Thema der Einbürgerung einer in Deutschland und Europa immer noch neuen Religion längst kein Minderheiten-Thema mehr ist. Es drängt sich auf,  und es wird in der journalistischen Konkurrenz immer wichtiger, es kompetent zu besetzen. Ein Konflikt wie der um die Ermordung von Marwa El-Sherbiny kann leicht zu einem Weltenbrand werden, wie wir seit der Karikaturen-Affäre wissen. Darum wird es essentiell sein, Menschen mit der nötigen Sensibilität in den Redaktionen zu haben, die sofort verstehen, warum sich hier ein Erregunsgpotenzial verbirgt. Diese müssen nicht selbst Muslime sein – aber wenn wir ehrlich sind: helfen würde es schon, einige in Reichweite zu haben. Ich erzähle Ihnen später noch etwas über meine eigenen Erfahrungen während der Karikaturen-Affäre, über die ich damals als einer der ersten berichtet habe.
Der Islam in Europa ist eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen. Er ist von einem so genannten „weichen“ zu einem so genannten „harten“ Thema gewor­den, weil zwei Gruppen ihn in unseren Gesellschaften für ihre Zwecke zu kapern ver­suchen: Radikale Islamisten auf der einen Seite und radikale Rechtspopulisten auf der anderen. Beide leben gut voneinander, beide fördern und stabilisieren ihre jeweiligen Lager. Beide sind Feinde des europäischen Modells der Moderne als einer offenen – auch für andere Religionen offenen – Gesellschaftsordnung.
Für jede Redaktion wird es in Zukunft unabdingbar sein, Experten zu haben, die sprech- und lesefähig sind in Fragen, die den Islam betreffen. Und wenn es Musli­me interessieren sollte, als solche journalistische Experten, Dolmetscher, Erklärer zu agieren, dann werden sie hier ihre Chance bekommen – aus einem harten Konkurenz­interesse der Medien heraus.
Dagegen ist nichts zu sagen. Nein, das ist gut so.  Es eröffnen sich Chancen, die man ergreifen sollte – die Sie ergreifen sollten!
Die mediale Debatte über den Islam ist etwas anderes als das, was in diesen Hallen hier stattfindet – ein leidenschaftlicher Diskurs, in dem es um Selbst- und Fremdbilder geht. Zwei extreme Grundannahmen auf beiden Seiten markieren die Grenzen, zwi­schen denen die Rede hin und her changiert: „Ihr wollt uns nicht. Darum reduziert ihr den Islam so gerne auf Zwangsehen, Gewalt legitimierende Koranverse, strikte Scha­ria-Normen, Ehrenmorde, Machotum und so weiter.“ Die andere Grundannahme lau­tet: „Ihr wollt uns am Ende doch islamisieren. Ihr akzeptiert unsere liberale Verfas­sung und unsere offene Gesellschaft nur so lange, wie sie Euch als Minderheit schützt, um uns dann irgendwann doch eure rigiden Vorstellungen von Moral und An­stand, individueller Freiheit und öffentlichem Glauben aufzunötigen, wie wir sie in den islamischen Ländern sehen.“
Es ist diese unterschwellige Logik des Verdachts, die unsere Debatten strukturiert. Eine faire Berichterstattung wird sich immer gegen diese beiden Extreme abstoßen müssen. Und dabei besteht eine besondere Schwierigkeit darin, dass die  Ängste bei­der Seiten manchmal durchaus berechtigt sind – denn es gibt zweifellos Teilnehmer der Debatte, die den Islam hier um keinen Preis akzeptieren wollen, und es gibt eben­so jene, die tatsächlich von einer „Islamisierung“ träumen. Weder kann es verboten sein, Islamfeindlichkeit zu benennen, noch kann es tabu sein, muslimische Feinde der Freiheit auch als solche zu beschreiben.
Was darf man denn in Deutschland noch sagen – wenn es um den Islam und die mus­limischen Einwanderer geht? Die erregteste Debatte zu diesem Thema hat der Bun­desbankvorstand Thilo Sarrazin angestoßen – im letzten Herbst in einem Interview mit der wenig bekannten Intellektuellenzeitschrift „Lettre International“. Nicht nur das Interview und die folgenden Meinungsbeiträge waren bemerkenswert – sondern auch die Reaktionen des Publikums. Ich habe das Interview in einem Leitartikel der ZEIT und in meinem Blog kommentiert. Die Leserreaktionen waren überwältigend – und teilweise beängstigend. Ich hatte den Eindruck, dass Sarrazin etwas Neues her­vorgelockt hatte, das sich zu begreifen lohnen würde.
Aus einem Interview in einer wenig bekannten Intellektuellenzeitschrift war binnen dreier Wochen ein »Fall Sarrazin« geworden. Der Streit über die Äußerungen des Bundesbankvorstands in Lettre International mutierte zur Debatte über die deutsche Debattenkultur. Es wurde bald genauso leidenschaftlich darüber gestritten, was man hierzulande um welchen Preis sagen darf – wie über die ursprüngliche Frage: Ob Sar­razin denn recht hat mit seinen Behauptungen über Einwanderer in Berlin.
Auch die Leser meiner Zeitung und ihrer Onlineausgabe waren hochengagiert in der Analyse des Vorgangs. Seit dem Streit um die dänischen Karikaturen hatte es eine solche Welle der Empörung nicht mehr gegeben. In vielen Hundert Beiträgen schälte sich ein Deutungsmuster heraus, das sich immer weiter vom Ursprung der Debatte löste.
Es lautet etwa so: Einer sagt, was schiefläuft im Land mit den »Türken und Arabern« – und wird dafür bestraft. Man kann einem Mythos beim Entstehen zuschauen: Thilo Sarrazin, einsamer Kämpfer gegen Rede- und Denkverbote.
Zwei Männer hatten maßgeblichen Anteil daran: Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden in Deutschland, der behauptete, dass »Sarrazin mit seinem Gedankengut Gö­ring, Goebbels und Hitler große Ehre erweist«. Und Axel Weber, Vorstandschef der Bundesbank, der Sarrazin erst den Rücktritt nahelegte und ihn dann hinter den Kulis­sen teilentmachtete – ohne aber je ein offenes Wort über die Aussagen seines Bank­kollegen zu wagen, die den Anlass gegeben hatten.
Kramer und Weber lieferten Beispiele dafür, wie man die Diskussionskultur auf den Hund bringen kann: Die fast schon bis zur Selbstkarikatur übertriebene Intervention des Zentralratssekretärs und das verdruckste Powerplay des Bankchefs haben  den Eindruck verfestigt, dass man in Deutschland über bestimmte Dinge nicht mehr reden kann, ohne erst in die rechte Ecke gedrängt und dann in den Senkel gestellt zu wer­den. Mein Beitrag auf ZEIT ONLINE, der Kramers Äußerung »einfach lachhaft« nannte und befürchtete, er mache »kleine Münze aus dem NS-Vorwurf«, erhielt in kurzer Zeit 600 überwiegend zustimmende Kommentare.
Ich muss sagen, dass viele dieser Beiträge mich erschreckt haben.
Da macht sich einerseits Empörung über den Umgang mit einem Unbequemen Luft. Aber es ist auch etwas anderes im Spiel, das man nicht so leicht als Beitrag zu einer freieren und konfliktfreudigeren Debattenkultur verbuchen kann. Es kommen in den Leserbriefen und den Onlinedebatten Annahmen über den Stand der Integration, über die »wahren Ursachen« der Probleme des Einwanderungslandes, über die deutsche Identität und über die Haltung der Migranten zutage, die noch weit über Sarrazins Zuspitzungen hinausgehen. Eine unterdrückte Wut macht sich Luft.
Viele Beiträge sind von einem Gefühl der Befreiung getragen. Endlich kann man mal sagen, was man schon lange über die Einwanderer denkt, aber sich nicht zu sagen ge­traut hat.
Mit der alten völkisch-rechten Fremdenangst hat dieses Phänomen herzlich wenig zu tun. Der politisch-emotionale Druckausgleich findet diesmal eher auf der liberal-­progressiven Seite der Gesellschaft statt. Nicht schon die Andersheit des anderen sei das Anstößige, sondern sein Zurückbleiben im Modernisierungsprozess, wie es sich in religiösen Symbolen, traditionsverhafteten Familiensitten und Machismo äußere. Entsprechend geriert man sich wohlig als Bannerträger der Freiheit. Eine manchmal schwer erträgliche Aura biederer Selbstgerechtigkeit gegenüber den Modernisie­rungsversagern prägt viele Äußerungen, die zuweilen an einen fortschrittlichen Ras­sismus grenzen. Einen altkonservativen Provokateur wie Peter Gauweiler verleitet dies, in die Debatte zu werfen, ihm seien »Kopftuchmädchen allemal lieber als Arschgeweihmädchen«.
Das Gefühl der Befreiung wird interessanterweise dadurch befördert, dass hier nicht etwa ein Mann vom rechten Rand behauptet hat, dass die Mehrzahl der Türken und Araber »keine produktive Funktion« hätten und die Türken Deutschland mit ihrer Ge­burtenrate eroberten, »genauso wie die Kosovaren das Kosovo« (Sarrazin) – sondern ein SPD-Mann. Das macht die Sache nämlich weniger verdächtig. Mit besonderer Genugtuung wird denn auch darauf verwiesen – ich zitiere einen Leserbrief – , dass »Herr Sarrazin keineswegs am rechten Rand poltert, er poltert mitten in der Gesell­schaft. (…) Er vermittelt dem viel zitierten kleinen Mann, dass es da oben doch noch welche gibt, die um seine Ängste, Sorgen und auch ganz konkreten Erfahrungen im Umgang mit Einwanderern jedwelcher Generation wissen und ihn auch ernst neh­men.«
Mancher Leser hält schon den Begriff Integration selbst für »reichlich naiv« und meint, die Mühe »erübrigt sich nicht nur aufgrund der zu unterschiedlichen Kulturen. Die wollen es einfach nicht, nehmt das endlich zur Kenntnis.« Wieder andere zitieren genüsslich die Zustimmung zu Sarrazins Aussagen von so prominenten Köpfen wie Hans-Olaf Henkel und Ralph Giordano. Die beiden ließen sich nicht dem »rechten Lager« zuordnen und hätten festgestellt, dass Sarrazin »einfach recht« habe – anders als die »professionellen Gutmenschen«, die uns die Verhältnisse erst eingebrockt hät­ten. Viele Leser geben sich vollkommen sicher, dass die Integration scheitern müsse, weil »die« (Einwanderer) einfach nicht wollten. Woraus folge, dass es infrage stehe, wie einer triumphierend schreibt, dass wir »überhaupt eine Einwanderungspolitik« brauchten. Und es dauert nicht lange, da kommt derselbe Leser mit seiner Erklärung dafür, dass »Menschen eines völlig anderen Kulturkreises« nicht integriert werden könnten: Es folgen aus dem Internet kopierte saftige Koranzitate über die »Ungläubi­gen«. Wieder ein anderer Leser ist zwar nicht per se gegen Einwanderung, aber wenn schon, dann »nur aus katholischen Ländern«. (Vom schlechten Schulerfolg der italie­nischen Einwandererkinder hat er offenbar noch nicht gehört.)
Das ist nicht abzutun als das übliche Maß an Ressentiment am Rand der Gesellschaft. Die paar handfesten Neonazis in den Debattenforen und Leserbriefspalten sind kaum der Rede wert. Sarrazin selber scheint sich erschrocken zu haben: Ob seine Entschul­digung, offenbar sei »nicht jede Formulierung gelungen« gewesen, darauf hindeutet, dass ihm die Enthemmung mancher seiner Unterstützer selber unheimlich geworden ist?
Aussagen wie »Jeder Ausländer raus, wenn er nach sechs Monaten keinen Job gefun­den hat« stammen eben nicht von den wenigen Extremisten, die  Volksverhetzung be­treiben in solchen Foren. Es ist vielmehr die wutschäumende Mitte, über die man sich Gedanken machen muss.
Zum Glaubenssatz hat sich bei diesen Lesern verfestigt, der Islam sei das Problem, und Muslime seien nun einmal nicht integrierbar.
Sarrazin hat sich in seinem Interview dabei gar nicht speziell über den Islam ausge­lassen. Er redet zwar sehr abfällig über »Türken und Araber«. Doch er betont auch, dass die deutschstämmige Unterschicht die gleichen Probleme habe. Und: »Türkische Anwälte, türkische Ärzte, türkische Ingenieure werden auch Deutsch sprechen, und dann wird sich der Rest relativieren.« Das passt eigentlich nicht ins Weltbild vieler, die glauben, man müsse nur den Koran lesen, um zu verstehen, warum die »Türken und Araber sich hier nie integrieren können«.
Das Interview ist offenbar für manche Teilnehmer der Debatte zur Nebensache, zu ei­nem bloßen Anlaß geworden: Man hat sich Sarrazin zum Helden erkoren und fühlt sich nun ermuntert, Dampf abzulassen. Beschweren kann sich Sarrazin über diese Fans allerdings nicht, denn er hat sie durch seine lustvoll verächtlichen Formulierun­gen angestachelt: Sie (die »Türken und Araber«) »produzieren ständig neue kleine Kopftuchmädchen«, sie »wollen keine Integration«, sie »erobern Deutschland«.
Das Schnarrende, Herablassende, Höhnische ist seit je das Geheimnis seines Erfolgs. Thilo Sarrazin spricht vom Elitemangel in der Hauptstadt, vom Verfall der Bürger­lichkeit, den er aufhalten wolle. Sein eigener Ton, der bewusst mit dem Überschreiten ziviler Standards spielt, ist allerdings ziemlich unbürgerlich. Elite, die den Namen verdient, würde die Pöbelei gegen den hart arbeitenden Obst- und Gemüsehändler scheuen, der um drei Uhr morgens aufsteht, um seine Ware einzukaufen. Sarrazin ist in Wahrheit eine jener Gestalten, die den Leuten die Lizenz zur Verachtung derer ganz unten erteilen.
Sarrazin assoziiert in wildem Lauf eine »Araberfrau«, die in Neukölln ihr sechstes Kind bekommt, weil sie dann durch Hartz IV eine größere Wohnung bekommt, mit der teilweisen erblichen Bedingung von Begabung – und folgert flugs, dass darum in der Hauptstadt der »Anteil der intelligenten Leistungsträger aus demografischen Gründen kontinuierlich fällt«. Es steht zwar nicht da, dass Araber die Dummheit ver­erben, aber es ist schon verzeihlich, dass mancher Sarrazin-Fan dies schlussfolgert, wenn der Interviewte im Gegenzug die überlegene Intelligenz der »osteuropäischen Juden« preist, die angeblich einen »15 Prozent höheren IQ« hatten. Woher er die Zahl 15 Prozent hat, verrät Sarrazin natürlich nicht.
Manche seiner Verteidiger finden den Ton des Bundesbankers zwar auch nicht schön. Sie meinen, er habe sich vielleicht hier und da im Register vergriffen, vielleicht dies und jenes überspitzt – aber dennoch eine tolle Debatte angestoßen. Dazu ist Folgen­des zu sagen: Ton und Haltung sind keine Nebensache, wo es um Integration geht. Wie die Mehrheitsgesellschaft sich gegenüber den Neuen und ihren Kindern, die hier geboren sind, aufstellt, ist eine Kernfrage der Gesellschaftspolitik.
Und was die Integrationsdebatte angeht, möchte ich folgendes feststellen: Deutsch­land hat dabei in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Die Debatte, die Sar­razin angestossen hat,  mit ihrer reichlich wirren Kombination von Ökonomismus, Eugenik (»Unterschichtgeburten«) und kokettem Borderline-Rassismus wirft den Streit um die Integration in Wahrheit um Jahre zurück – in jene Phase, als das Schimpfen noch geholfen hat und man glaubte, die Alteingesessenen müssten diesen Neuankömmlingen nur mit harter Hand klarmachen, dass sie sich entweder einzufü­gen oder zu verschwinden hätten. Diese Welt ist längst perdu – und mit ihr die Alter­native von Assimilation oder Rückführung.
Wir sind längst weiter. Wir haben in Deutschland die Scheinalternative von Harmo­niesoße oder kaum verhohlener Verachtung hinter uns gelassen, die frühere Debatten über die »Gastarbeiter« kennzeichnete. Die Konservativen haben sich von der infanti­len Sehnsucht nach dem Status quo ante verabschiedet und akzeptiert, dass die Ar­beitsmigration nicht rückabgewickelt werden kann und mit ihren Folgen politisch umgegangen werden muss. So wie die Rechte akzeptiert hat, dass wir ein Einwande­rungsland sind, hat die Linke sich stillschweigend von der naiven Idee verabschiedet, Einwanderung sei automatisch eine Bereicherung und Multikulturalismus ein Selbst­läufer. Zwei kostspielige Formen der Wirklichkeitsverleugnung sind vor aller Augen gescheitert, und die Politik hat begonnen, mit einer neuen Integrationspolitik darauf zu reagieren.
Seit Jahren debattieren wir – auch in der ZEIT – zum Beispiel die schlechten Schuler­gebnisse der Türken und Italiener und scheuen auch nicht die Frage, warum etwa Vi­etnamesen und Iraner besser abschneiden. Das ist ein legitimes Thema, das man nicht unter „Rassismus“ oder Islamophobie abtun kann. Die Mängel des deutschen Schul­systems sind Thema in den Medien – aber eben auch die bildungsferne Einstellung vieler Eltern mit türkischen Wurzeln. Auch die türkischen Gruppen und die türkisch­sprachigen Zeitungen haben nach jahrelanger Abwehr angefangen, dies zu skandali­sieren – ein Erfolg der harten Debatte in Politik und Medien. Thilo Sarrazin bezieht seine Beispiele übrigens selbst aus den Medien – wie etwa aus dem ZEIT-Dossier über grillende Orientalen im Berliner Tiergarten. (Allerdings macht er aus 15 bis 20 Tonnen Abfall, den Menschen aus aller Herren Länder dort hinterlassen, inklusive Weinflaschen und Hähnchenkeulen, mal eben »20 Tonnen Hammelreste der türki­schen Grillfeste«.) Ehrenmorde und Zwangsehen sind seit der Ermordung von Hatun Sürücü Gegenstand von Bestsellern.
Noch etwas: Türkische Autorinnen wie Necla Kelek und Seyran Ateş sind bei uns keine Außenseiter, sondern mit vielen Preisen geehrte öffentliche Intellektuelle, mit denen die Regierung gern ihre Islamkonferenz schmückt. Dort mussten sich konser­vative Muslime diese Kritik anhören, in Anwesenheit des Ministers. Nirgendwo sonst in Europa gibt es ein ähnlich ambitioniertes, geradezu kulturrevolutionäres Experiment. Wo sonst treffen diese unterschiedlichen Stimmen so aufeinander?
Die Niederlande haben Ayaan Hirsi Ali fallen und ins Exil gehen lassen. Unsere isla­mischen Feministinnen aber sind keine Ruferinnen vom Rand der Gesellschaft, sie sitzen mit dem Innenminister und den Verbänden, die sie kritisieren, an einem Tisch.
Nach Jahren des Streits über Moscheebauten, Deutschpflicht, Kopftücher, Gewalt und Machismo an den Schulen gibt es in Deutschland praktisch kein Tabu mehr beim Reden über die Integration. Und das ist ein hohes Gut!
Das macht es geradezu bizarr, wenn Sarrazin  wegen seiner Zivilcourage gelobt wur­de und ein Kollege in der FAZ ihn gar auf eine Stufe mit dem in der Münchner S-Bahn erschlagenen Dominik Brunner stellt. Die de facto tabulose Debatte ist ein ho­hes Gut. Natürlich weiß das nicht jeder Beteiligter jederzeit zu schätzen. Es kommt selbstrverständlich zu Verletzungen dabei, zu Kränkungen. Aber das müssen wir alle zusammen aushalten lernen.
Die Sarrazin-Debatte war eine am Ende überschnappende Debatte. Allerdings konnte die neue Regierung etwas aus ihr lernen: Die begonnene Integrationspolitik muss nicht nur viel entschiedener fortgeführt werden. Sie muss auch wesentlich besser be­gründet und öffentlich erklärt werden. Es kann doch nicht sein, dass von den feder­führenden Integrationspolitikern der Koalition wochenlang nichts zu hören ist: Kein einziges Wort hat die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer zu der laufenden Debatte verloren. Innenminister Schäuble war ebenso verschwunden, von der Kanzlerin oder dem Bundespräsidenten gar nicht erst zu reden. Wer die empörten Leserdebatten ver­folgt, sieht, wie fahrlässig dieses abwartende Schweigen der Politik ist.
Leider ist es nicht das erste Mal. Ich habe es ja schon erwähnt: Als in Dresden die Ägypterin Marwa al-Scherbiny erstochen wurde, hat man es Islamisten und Rechtsra­dikalen wochenlang überlassen, das Thema zu besetzen. Weder zu dem Beinahemord an dem Rentner Hubert N. in der Münchner U-Bahn noch zum Mord an Dominik Brunner konnte die Politik deutlich machen, dass ihr ein angstfreier öffentlicher Raum ein hohes Gut ist.
Darauf aber sind – besonders in einem Einwanderungsland mit vielen neuen Konflik­ten – alle angewiesen. Darum muss die Politik in der Debatte führen, statt sich unter den eruptiven Reaktionen des Publikums wegzuducken.
Und die Medien müssen sie, wenn sie es nicht von alleine tut, dahin treiben.
Übrigens: Als Sarrazin vor kurzem seine Meinung wiederholte, Deutschland  werde durch Einwanderung „auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer“, da hat die Kanzlerin dafür ein klares Wort gefunden: „Solche schlichten Pauschalurteile sind dumm und nicht weiterführend.“ Richtig sei, „dass die Bildungsabschlüsse von Schü­lern mit Migrationshintergrund verbessert werden müssen und der wichtigste Schlüs­sel dabei die Beherrschung der deutschen Sprache ist“, erklärte Merkel. „Aber wenn wir genau das fördern und fordern, dann haben diejenigen, die zu uns kommen und in unserem Land leben wollen, große Chancen und bereichern uns alle.“
Na bitte, es geht doch.
Nachdem ich nun so ausführlich über islamfeindliche Äußerungen in unseren Medien gesprochen habe, muss ich etwas scheinbar paradoxes tun, um Mißverständnisse zu vermeiden: Ich will Ihnen erklären, warum ich den Begriff „Islamophobie“ nicht für geeignet halte, unsere Situation in den deutschen Medien zu beschreiben.
Islamophobie – mit diesem Konzept werden ohne Unterschied irrationale und ratio­nale Ängste im Bezug auf den Islam zu Symptomen einer Art psychischen Krankheit erklärt.
Eine Phobie ist schließlich etwas anderes als ideologische Voreingenommenheit wie sie uns etwa in Form einer rassistischen Einstellung, eines religiösen Fanatismus oder politischer Parteilichkeit begegnen. Eine Phobie hat man, unter einer Phobie leidet man, mehr noch, sie hat einen, sie nimmt einen in Beschlag. Die Phobie muss behan­delt werden wie andere bedrohlich psychische Erkrankungen. Der Phobiker verhält sich zwanghaft. Er kann anderen zur Gefahr werden und wird zugleich als Opfer ei­ner Krankheit betrachtet, statt als Subjekt mit Überzeugungen und Meinungen, wie fragwürdig diese auch immer sein mögen.
Wollen wir wirklich in solchen Begriffen von der öffentlichen Debatte um den Islam reden, wie sie sich bei uns in den letzten Jahren entfaltet hat? Ich halte das nicht für sinnvoll. Ich kann sehr wohl verstehen, warum sich bei manchen Muslimen der Ein­druck einer generellen Islamfeindlichkeit festgesetzt hat. Dies auf eine sich immer weiter verbreitende Islamophobie zurückzuführen, hielte ich dennoch für falsch.
Denn dadurch werden bestimmte Redeweisen und Einstellungen von vornherein in den Bereich der Angst gerückt und somit psychologisiert. Man rückt sie damit aus dem Bereich des Verstehbaren und Widerlegbaren heraus. Mit einem Phobiker kann man nicht debattieren. So einfach können wir es uns aber nicht machen.
Schauen wir uns kurz ein paar prominente Versuche an, Islamophobie zu definieren. Dann wird das Problematische dieses Begriffs deutlich werden.
Der Begriff wurde durch eine Studie des britischen Runnymede Trust 1997 in die De­batte eingeführt. Runnymede Trust ist eine unabhägige Lobbygruppe für eine mul­ti-ethnische, multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft.
Eine islamophobe Einstellung kommt nach einer Definition des Trust in folgenden Meinungen zum Ausdruck:
– Der Islam sei ein allein stehender monolithischer Block, statisch und für Verände­rung unempfänglich.
– Der Islam sei gesondert und fremd, er habe keine gemeinsamen Ziele und Werte mit anderen Kulturen; weder sei er von ihnen beeinflusst noch beeinflusse er sie.
–  Der Islam sei dem Westen unterlegen, barbarisch, irrational, primitiv und sexistisch.
–  Der Islam sei gewalttätig, aggressiv, bedrohlich, den Terrorismus unterstützend und in einen Kulturkampf verstrickt.
–  Der Islam sei eine politische Ideologie, die für politische oder militärische Vorteile genutzt werde.
So weit die Definition des Forum Against Islamophobia and Racism (FAIR). Islamo­phobie und Rassismus stehen hier nahe beieinander, was auch problematisch ist: Denn ich kann sehr wohl feindliche Gefühle gegenber dem Islam als Religion hegen, ohne Muslime dabei rassistisch abzulehnen. Sonst wäre Islamkritik und Islamfeind­lichkeit vonseiten geborener Muslime ja nicht möglich. Auch dies ist ein Versuch, jede Kritik am Islam von vornherein als rassistisch zu diskreditieren.
Ausserdem bin ich der Meinung, dass alle die islamophoben Ideen, die der Runnyme­de Trust hier auf den Index gesetzt hat, prinzipiell unter dem Schutz der Meinungs­freiheit stehen.
Der Islam wird von manchen Muslimen als politische Ideologie verstanden. Das be­streiten am allerwenigsten jene Muslime, die sich dagegen verwehren. Ja, der Islam hat ein gewaltätiges, aggressives und bedrohliches Gesicht. Terrorismus und Kultur­kampf sind ihm nicht fremd. (Letzte Woche erst in Lahore: Zwei islamistische  Selbst­mordattentäter sprengen einen Sufi-Schrein in die Luft. Die Opfer sind alle Muslime.) Ist der Islam dem Westen unterlegen? Ist er sexistisch? Ist er barbarisch? Letzteres würde ich nicht sagen, aber Barbaren im Namen eines bestimmten Islam gibt es zwei­felsohne. Sie bringen mit Vorliebe andere Muslime um, wie wir mit Schrecken jeden Tag im Irak sehen können. Sexismus? Wer hier möchte aufstehen und sagen, dies sei ein völlig absurder Vorwurf? Dass der Islam dem Westen unterlegen sei, ist die große Angst und der ANTRIEB aller muslimischen Reformdenker der letzten 200 Jahre. Die Geschichte der modernen Türkei und ihres strikten Laizimus/Kemalismus läßt sich ohne diese Angst überhaupt nicht verstehen. Warum sollten wir diese Aussage also tabuisieren? Nur weil es nicht in Ordnung ist, wenn Nichtmuslime sagen, was Muslime seit 200 Jahren sagen? Genauso verhält es sich mit der Aussage, der Islam sei ein allein stehender monolithischer Block, statisch und für Veränderung unemp­fänglich.
Es ist einfach Unsinn, diese Aussage als Indiz für Islamophobie anzusehen. Manche Muslime sehen des Islam genau so, manche Muslime kämpfen wiederum gegen jene, weil sie Veränderungen wollen. Eine Aussage, die Gegenstand eines innermuslimi­schen Streits ist, zum Symptom für Islamophobie zu erklären, wenn sie aus dem Mund von Nichtmuslimen zu hören ist – das geht einfach nicht.
Das wäre eine Gefahr für die freie Debatte, für die freie Forschung. Und wie verhält es sich mit der letzten Aussage, die Runnymede als signifikant erklärt: Der Islam sei „gesondert und fremd“, er habe keine gemeinsamen Ziele und Werte mit anderen Kulturen; weder sei er von ihnen beeinflusst noch beeinflusse er sie. Der letzte Teil dieses Satzes ist historischer Unfug. Natürlich ist der Islam beeinflusst von anderen Kulturen, und natürlich beeinflusst er auch sie. Ob der Islam gesondert und fremd sei, ob er gemeinsame Ziele und Werte mit anderen Kulturen habe, das ist genau der Kern des Streits, um den sich alles dreht in unserer Debatte. Noch einmal zur Erinnerung: Auf allen Seiten gibt es Vertreter der einen oder anderen Richtung: Muslime, die das Fremde betonen, Muslime, die ökumenisch denken. Nichtmuslime, die das Gemein­same sehen, Nichtmuslime, die sich keinen Konsens vorstellen können. Es ist dumm, diese Debatte zensieren und regulieren zu wollen. Sie muss ausgetragen werden. Wir mssen alle zusammen da durch.
Noch ein Beispiel für einen unglücklichen Definitionsversuch:
In seiner sozialwissenschaftlichen Studie „Deutsche Zustände. Folge 4″ macht Wil­helm Heitmeyer Islamophobie im Rahmen einer Befragung u.a. an der Zustimmung zu folgenden Aussagen fest:
–  „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden.”
–  „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eige­nen Land.”
–  „Es sollte besser gar keine Muslime in Deutschland geben.”
–  „Muslimen sollte jede Form der Religionsausbung in Deutschland untersagt wer­den.”
–  Für mich sind die verschiedenen islamischen Glaubensrichtungen kaum zu unter­scheiden.”
– „Die Mehrheit der Muslime hält große Distanz zur restlichen Bevölkerung.”
–  „Viele Muslime in Deutschland wollen lieber unter sich bleiben.”
–  „Die islamistischen Terroristen finden starken Rückhalt bei den Muslimen.”
–  „Ich hätte Probleme in eine Gegend zu ziehen, in der viele Moslems leben.”
– „Ich werde nur solche Parteien wählen, die gegen den weiteren Zuzug von Mos­lems sind.”
Umgekehrt gilt ihm auch die Ablehnung der folgenden Aussagen als Indiz für eine is­lamophobe Einstellung:
–  „Der Islam hat eine bewundernswerte Kultur hervorgebracht.”
– „Die muslimische Kultur passt durchaus in unsere westliche Welt.”
– „Ich würde mein Kind auch in einer Schule anmelden, in der eine moslemische Frau mit Kopftuch unterrichtet.”
–  „Es ist allein Sache der Muslime, wenn sie ber Lautsprecher zum Gebet aufrufen.”
Auch mit dieser Art der Erfassung habe ich Probleme: Was, wenn ich den Gebetsruf ablehne, wie ich auch das Glockenläuten ablehne, weil ich am Sonntag (oder Freitag) nicht gestört werden will, oder weil ich berzeugter Säkularist oder Atheist bin, der Religion nur im Stillen für akzeptabel hält?
Muss ich den Islam nicht nur hinnehmen, sondern sogar bewundern, um nicht als is­lamophob zu gelten? Ist die Ablehung einer bekopftuchten Lehrerin – auch unter Tür­ken weit verbreitet – schon islamophob? Und was ist mit den Türken, die Kreuzberg verlassen, weil sie für ihre Kinder bessere Schulen wollen? Jüngst fragte mich eine iranische Freundin, wie viele Ausländer auf der Schule unserer Töchter seien? Ich dachte, sie wollte wissen, ob sich ihre Tochter – sie ist eine Deutsche mir ira­nisch-türkischen Wurzeln – alleine fühlen würde. Ich sagte also wahrheitsgemäß: Sehr we­nige. Sie war erleichtert: Ihre Tochter wird also ab nächstem Jahr dieses Gymnasium besuchen – eben weil es dort kaum türkische, arabische oder iranische Schüler gibt.
Zu sagen, die islamistischen Parteien fänden starken Rückhalt bei Muslimen ist, glo­bal gesehen, ein Irrtum, wie wir aus vielen Umfragen wissen. In Ägypten aber ist es die reine Wahrheit.
Und so weiter, und so fort: Sie sehen schon, was mir an dem Begriff Islamophobie nicht gefällt: Es ist die Tatsache, dass er in meist bester Absicht die notwendigen, pei­nigenden Debatten einfach abschneidet, statt sie leichter führbar zu machen. Der Isla­mophobie-Begriff, wenn er sich durchsetzen sollte in der Breite, in der ich ihn hier skizziert habe, hätte fürchterliche Folgen für unsere liberale Öffentlichkeit. Er wäre ein Instrument, um jede mißliebige Debatte zu ersticken. Diejenigen muslimischen Gruppen, die ihn in Großbritannien propagieren, sind durch die Salman-Rus­hdie-Affäre entstanden. Ich halte das nicht für einen Zufall. Die Verwendung des Islamo­phobie-Begriffs seitens dieser Gruppen ist ein Versuch, den in der Rushdie-Affäre ge­wonnenen Boden zu verteidigen und zu vergrößern.
Wer aber die Wahrnehmung der Menschen verändern will, ist schlecht berufen, mit Verboten, Tabus und Sprachregelungen zu arbeiten. Besser wäre es, der Öffentlichkeit ein anderes Image des Islam zu präsentieren. Allerdings darf das nicht bloß eine Art beschönigende Gegenpropaganda sein. Es muß ein authentisches Gegenbild sein, dass die problematischen Dinge nicht ausblendet und von echter Auseinandersetzung mit ihnen zeugt.
In den letzten Jahren habe ich an vielen Debatten zum Thema „Muslime und Medien“ teilgenommen. Jedesmal saß ich gewissermassen stellvertretend auf der Anklagebank für meine Zunft. Die Unterstellung war: Es gibt immer mehr Islamophobie. Sie (die Medien) sind schuld daran. Was, werter Herr Lau, gedenken Sie also zu ändern? Was ist der Вeitrag – wurde ich einmal gefragt-, den die Medien zum gesellschaftlichen Frieden leisten können?
Ein bißchen trotzig –  aber auch aus tiefster Überzeugung – habe ich dazu gesagt: Nichts. Keinen Beitrag. Dafür sind wir nicht zuständig. Ich verbitte mir solche sugges­tiven Fragen. Stellen Sie sich einfach vor, unserem Wirtschaftskorresponden­ten würde vom Bund der deutschen Industrie vorgehalten, in Deutschland werde das Klima immer wirtschaftsfeindlicher. Immer mehr Geschichten ber Korruption bei Siemens und VW, immer mehr Kommentare ber Managergehälter, viel zu viel Ver­ständnis für Gewerkschaftsforderungen. Was können wir tun, was können die Medien tun, damit das Klima in Deutschland wieder wirtschaftsfreundlicher wird? Das wäre ein Skandal.
Oder stellen Sie sich vor, der Vorsitzende einer Partei würde sich beschweren, wir würden nur Negativberichte über ihn und seine Truppe bringen. (Es gibt diesen Fall wirklich, und Sie können ja gerne mal raten, wen ich meine…) Was kann die Presse tun, um das Klima wieder freundlicher für meine Partei zu gestalten? Absurd, wür­den Sie zu Recht sagen.
Die Chinesen  wünschen sich eine andere Tibet-Berichterstattung. Wir sollen die Probleme mit diesen paar Mönchlein nicht so hoch spielen, hören wir da. Wir sollen die Tugenden des chinesischen Wirtschaftswunders mehr in den Vordergrund stellen. Wir sollen die Bedeutung Chinas für den Weltfrieden und die Weltökonomie im Blick behalten und nicht so sehr auf einzelnen Menschenrechtsverletzungen herumreiten. Eine Presse, die sich darauf einließe, wäre erledigt.
Oder Israel: Immer wieder beschweren sich Lobbyorganisationen über eine einseitige Berichterstattung – wie jüngst bei der Sache mit der Mavi Marmara.
Warum findet niemand etwas dabei, im Bezug auf den Islam mit den gleichen merkwürdigen Zumutungen zu kommen?
Vielleicht hat es etwas mit der Frage von Macht und Ohnmacht, Stärke und Schwäche zu tun? Der Islam ist nun einmal hierzulande hauptsächlich die Religion einer politisch schwachen und verletzlichen Minderheit. China ist ein mächtiges Land, Israel auch – da scheint eine etwas einseitige Kritik vielleicht weniger verwerflich, als wenn es eine Minderheit und ihre relgiöse Kultur trifft? Solche Dinge mögen eine Rolle spielen, helfen uns aber letztlich nicht weiter. Denn die Selbstwahrnehmung einer Gruppe kann kein Kriterium für die Legitimität oder Illegitimität der Kritik an ihr sein.  China tritt in Tibet als dominante Macht auf, sieht sich aber selbst im Weltmaßstab als Entwicklungsland, dem man vieles durchgehen lassen müsste auf seinem legitimen Weg zur Sonne. Ebenso ist die Selbstwahrnehmung Israels – in krassem Kontrast zu der Außenwahrnehmung seiner Nachbarn – die eines kleinen, gefährdeten, von lauter mißgönnerischen Feinden umgebenen Landes. Viele Muslime hierzulande sehen sich als eine Minderheit, die nicht genügend offen und herzlich  angenommen wird. Für Journalisten ist es wichtig, so etwas zu wissen. Aber am Ende darf es die Berichterstattung nicht entscheidend beeinflussen. Sonst wird der Journalismus (noch mehr) Teil der Identitätspolitik, indem er versucht, das „richtige Bild des Islam“ zu formen.
Ein Journalist darf sich so etwas nicht vornehmen, sonst wird er zum Identitätspolitiker. Er soll – das ist eine Banalität – sein jeweiliges Thema fair und unvoreingenommen angehen. Sobald er sich vornimmt, er wolle „dem Islam gerecht werden“, fängt er schon an, die Wirklichkeit in seinem Kopf zu formen, die er doch beschreiben soll. Das journalistische Ethos läßt sich in  einem kleinen Satz zusammenfassen: „Dies alles gibt es also.“ Am Anfang soll das Staunen stehen und der Wunsch, die Leser ins Erstaunen zu versetzen über eine Wirklichkeit, die fast immer ein bisschen anders ist, als man denkt. Pathetischer kann ich es nicht sagen.
Und das bedeutet für das Thema Islam: Wir müssen gleichzeitig auf- und abrüsten. Die Aufmerksamkeit für viele Phänomene, die heute noch am Rande unserer Wahrnehmung liegen, muss aufgebohrt werden. Und der Gestus des kulturellen Endkampfes, mit dem wir über islambezogene Themen reden, muss entschieden runtergedreht werden. Dabei will ich nicht bestreiten, dass wir Zeugen einer dramatischen Entwicklung sind: Von einem Land mit einem Dutzend Moscheen sind wir in weniger als 50 Jahren zu einem Land der zweitausend Moscheen geworden – welch eine großartige Leistung für ein Land, das sich noch vor wenigen Jahrzehnten so schwer getan hat mit Fremden.
Was also sollen wir Journalisten tun?
Wir sollen weiter – und mehr als vorher – über den Islam berichten, aber ohne das Leben der muslimischen Migranten und ihrer Kinder hier darauf zu reduzieren.  Der Islam ist die Lösung, lautet die Parole der Islamisten. Und die Rechtspopulisten   stimmen ihnen zu, nur ins Negative gewendet: Der Islam ist das Problem.  Eine reduktionistische Berichterstattung kommt diesen beiden Gruppen gerade recht. Dagegen sollte der Pluralismus des islamischen Lebens hier sichtbar werden. Es gibt so viele Weisen, Muslim zu sein in Deutschland – fromm, konservativ, liberal, skeptisch, desinteressiert, ja sogar auf eine spezifisch muslimische Weise atheistisch.
Insofern stimme ich überein mit den Autoren einer großen Studie über das „Islambild bei ARD und ZDF“, Kai Hafez und Carola Richter. Sie fanden vor drei Jahren,  „dass das Hauptproblem der Islamberichterstattung von ARD/ZDF nicht so sehr die Darstellung von Konflikten an sich ist, sondern die extrem hohe Konzentration auf dieses Themenspektrum. Nicht die Darstellung des Negativen ist das Problem, sondern die Ausblendung des Normalen, des Alltäglichen und des Positiven. Es entsteht der Eindruck, als ließen sich ARD/ZDF ungeachtet vieler offizieller Bekundungen des Gegenteils von einem simplifizierten Bild des ‚Kampfes der Kulturen‘ zwischen dem Islam und dem Westen leiten, das ungeachtet seiner großen Popularität fast keine Unterstützer in der Wissenschaft findet. Vor allem der Themenhaushalt der Magazin- und Talksendungen sowie Dokumentationen und Reportagen von ARD/ZDF benötigt im Hinblick auf den Islam dringend eine Revision. Es bedarf keiner an vorgefertigten Kulturmodellen orientierten Nachrichtenroutine, sondern eines lebendigen und dynamischen Journalismus, der nicht mehr über den Islam berichtet, sondern die vorhandenen medialen Räume so pluralistisch konzipiert, dass alle Bereiche des muslimischen Lebens eingeschlossen werden.“
Ein Beispiel dafür, wie man’s nicht macht: Ein islamischer Theologe hat mir erzählt, dass er vor wenigen Jahren einmal zu einer der großen Talksendungen im  deutschen Fernsehen eingeladen werden sollte. Es fand ein Vorgespräch statt, das angenehm verlief. Dann wurde er kurz vor der Sendung doch noch ausgeladen. Begründung: Man hätte sich etwas schärfere Kommentare von ihm erhofft. Tja, und in der Sendung bei Sabine Christiansen saß dann der Leipziger Salafist Hassan Dabagh mit seinem malerischen Rauschebart. Er wirkte toll im Fernsehen. Er wirkte wie fürs Fernsehen geschaffen.
Eine Veralltäglichung der Islamberichterstattung, wie von Hafez und Richter  gefordert, wäre zweifellos wünschenswert. Aber ich habe Probleme mit der Scheu vor Konflikten. Ich bin nämlich nicht der Meinung der Autoren, dass die Berichterstattung über Konflikte im Zusammenhang mit dem Islam integrationshemmend wirkt. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass Integration sich immer im Modus des Konflikts vollzieht. Zu einer pluraleren Gesellschaft gehört ganz zentral auch das Aushalten von Konflikten. Die schöne Idee, dass man in einer pluralistischeren Gesellschaft rücksichtsvoller zu sein habe, kann nicht von oben her durchgesetzt werden. Sie wird sich nur aus durchlebten Konflikten ergeben, in denen man einander kennen – und die Sensibilität des anderen respektieren – lernt. Dass es am Ende in einer „bunten Republik Deutschland“ , wie der neue Bundespräsident sagt, netter und höflicher zugeht, darauf würde ich also nicht wetten. Alle Seiten müssen wohl lernen, mit immer mehr Zumutungen zu leben.
Und keiner sollte sich einbilden, von Konflikten einseitig profitieren zu können, indem man sie immer weiter anheizt. Das ist meine Lektion aus der Karikaturen-Affäre, mit der ich schließen will.
Ich war von meinem Ressortleiter im frühen Januar 2006 nach Kopenhagen geschickt worden, um über einen kleinen lokalen Konflikt zu berichten: Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung hatten zu Protesten der Muslime geführt. Fahr mal hin und schau, ob das was für uns ist. Der Konflikt könnte lehrreich sein auch für Deutschland. Die Dänen scheinen es in den Griff bekommen zu haben. Und so fuhr ich nach Dänemark und sprach mit Kåre Bluitgen, dem Autor eines Jugendbuches über den Propheten Mohammed, mit dem alles begonnen hatte. Ich sprach mit der ägyptischen Botschafterin, mit Abgeordneten der Rechtspopulistischen Folkeparti, mit dem Imam Abu Laban, der den Protest angeführt hatte und mit dem jungen türkischen Imam Fatih Alev, mit dem Gründer des Netzwerks „Demokratische Muslime“, Naser Khader. Und natürlich mit dem Redakteur der Jyllands Posten, Flemming Rose. Er sagte mir: „Wir haben diesen Streit gewonnen. Es war eine häßliche Debatte, aber wir haben eine Lanze für die Kunstfreiheit gebrochen gegen die fundamantalistischen Muslime, die uns die Freiheit nehmen wollen!“ Abu Laban, der Imam von Nørrebro war auch der Meinung, er habe gewonnen: „Die dänische Regierung weiß jetzt, wer wir sind. Der Ministerpräsident kennt jetzt meinen Namen!“ Die ägypische Botschaftern Mona Attia Omar sagte mir: „Wir sind sehr zufrieden. Die Affäre ist gut ausgegangen für Ägypten. Der Außenminister Dänemarks hat mit unserem Außenminister telefoniert. Wir werden jetzt respektiert. Wir haben gewonnen.“ Der Sprecher der FP-Fraktion im dänischen Parlament sagte: „Es war ein guter Streit. Die fundamentalistischen Muslime haben verstanden, dass Dänemark sich seinen Freiheitsgeist nicht abhandeln läßt. Wir haben gewonnen.“
Wie wir alle spätestens nach dem Platzen der Immobilienblase in den USA wissen: Wenn alle glauben, sie hätten gewonnen, kann etwas nicht stimmen. In Wahrheit stellte sich schon bald heraus, dass alle Seiten verlieren würden, ausser wieder einmal die radikalen Feinde der Freiheit unter Muslimen und die Fremdenfeinde im rechtspopulistischen Lager. Bald nach diesen Interview begannen die Botschaften zu brennen, und der wütende Mob übernahm die Regie, angestachelt von anderen Kräften, die niemand auf der Rechnung hatte. Die dänische Wirtschaft verlor Milliarden durch einen Boykott, ganz Europa geriet in den Verdacht der Islamophobie, die Muslime standen wieder einmal als humorlose Fanatiker da – und viele Menschen starben. Einer detaillierten Auflistung auf der Website „Cartoon Body Count: Death by Drawing“ zufolge  sind in Zusammenhang mit dem Karikaturenstreit bis zum 22. Februar 2006 139 Menschen getötet und 823 verletzt worden.
Habe ich selber es kommen sehen? Ich wünschte, ich könnte sagen: ja. Aber das wäre gelogen. Als ich von meinen Gesprächen Anfang Januar 2006 nach Berlin zurückkehrte, begann ich einen Artikel zu schreiben. Der erste Satz ging ungefähr so: In Dänemark hat sich in den vergangenen  Wochen eine Krise ereignet, die fast  zu einer internationatalen Affäre hätte werden können. Wie dies gerade noch hat verhindert werden können, ist ein Lehrstück auch für Deutschland.“  Fast wäre mein Stück am 26. Januar gedruckt worden. Dann kam irgendetwas dazwischen, der Text wurde geschoben. Am 26 Januar begann der internationale Boykott dänischer Waren, die Flaggen brannten, der iranische Revolutionsführer entdeckte „Zionisten“ am Werk hinter den Karikaturen, kurz gesagt: der Wahnsinn nahm seinem Lauf. In der folgenden Woche wurde das Stück gedruckt, aber mit eindem anderen Beginn:
„Der Mann, der Dänemark in eine internationale Krise katapultiert hat, sitzt in seiner gemütlichen Wohnküche und versteht die Welt nicht mehr. Kåre Bluitgen hat einen Konflikt ausgelöst, der Botschaftern und Regierungschefs mehrerer Länder den Schlaf raubt…“
Und so bin ich heute hier. Wäre mein ursprünglicher Text erschienen, hätten sie mich womöglich nicht eingeladen. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und würde mich freuen, mit Ihnen über meine Erfahrungen zu diskutieren.