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Eine emanzipatorische Leitkultur?

 

Es hat ja immer etwas Erschreckendes, wenn einem plötzlich lieb gewordene Gegner zustimmen. Man fragt sich: Liege ich also doch falsch?

So ging es mit heute morgen, als ich Slavoj Zizeks Plädoyer für eine „liberale Leitkultur“ in der Süddeutschen las. Ich habe vor vielen Jahren eine herbe Abrechnung mit Zizek im Merkur veröffentlicht („Auf der Suche nach dem guten Terror“, hier online). Zizek hat damals geantwortet, sein Text liegt auf perlentaucher vor.

In den letzten Jahren hatte ich nie den Eindruck, etwas zurücknehmen zu müssen von meiner ziemlich heftigen Polemik.

Und dann das. Der Meister nähert sich meinem vor vier Jahren im Merkur dargelegten Gedanken an, gerade eine de facto multikulturelle Gesellschaft brauche eine Leitkultur. (Ich hatte auch noch für „Patriotismus“ plädiert.)

Zizek:

„Auch wenn liberale Linke die Idee einer „Leitkultur“ als heimlichen Rassismus verdammen, so wäre doch zuzugestehen, dass diese Idee zumindest eine angemessene Tatsachenbeschreibung darstellt.

Der Respekt individueller Freiheiten und Rechte, auch auf Kosten von Rechten einzelner Gruppen die volle Gleichberechtigung von Frauen, die Religionsfreiheit (inklusive des Atheismus), die Freiheit der sexuellen Orientierung, die Freiheit jeden und alles zu kritisieren, sind zentrale Bestandteile einer liberalen Leitkultur.

Das sollte auch die Antwort an all jene Moslems sein, die in westlichen Ländern gegen ihre Behandlung protestieren, während sie beispielsweise akzeptieren, dass es in Saudi-Arabien verboten ist, öffentlich nach einem anderen Glauben zu beten als dem Islam. Sie sollten akzeptieren, dass die gleiche Leitkultur, die ihnen ihre religiöse Freiheit im Westen garantiert, von ihnen den Respekt aller anderen Freiheiten abverlangt. Die Freiheit der Moslems ist Teil der Freiheit Salman Rushdies, zu schreiben, was er will. Man kann nicht nur die westlichen Freiheiten einklagen, die einem passen.

(…)

Die Meinungsfreiheit funktioniert nur, wenn alle den gleichen ungeschriebenen Höflichkeitsregeln folgen, die festlegen, welche Formen von Angriff unannehmbar sind, auch wenn sie letztlich vom Gesetz geschützt werden. Diese Höflichkeitsregeln können uns auch aufzeigen, welche Merkmale eines ethnischen oder religiösen Lebenswandels akzeptabel sind und welche nicht. Wenn sich allerdings nicht alle Beteiligten auf solche ungeschriebenen Formen einigen, wandelt sich der Multikulturalismus in gesetzlich geregelte Ignoranz und Hass.

Das ist der Grund, warum es die essenzielle Aufgabe aller ist, die heute für Emanzipation kämpfen, über den reinen Respekt für andere hinauszuwachsen und eine positive, emanzipatorische Leitkultur zu finden, in der die Koexistenz und die Vermischung verschiedener Kulturen möglich wird. Und den kommenden Kampf für eine solche Leitkultur aufzunehmen.“

Kein Einspruch, Euer Ehren.