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Warum mich der Dioxin-Skandal anwidert

 

Jeden Morgen höre ich, wenn ich mir gerade meine leckeren Frühstückseier zubereite, Neues vom „Dioxin-Skandal“ im Radio. Ich muss sagen, als Überlebender des Rinderwahnsinns von vor genau zehn Jahren lege ich eine gewisse Abgebrühtheit an den Tag. Ich habe wahrlich keine große Sympathie für Ministerin Aigner. Aber die hyperventilierende Weise, in der sich manche Kollegen da jetzt über ihr Wirken beugen, hat etwas schwer Verständliches. In der Bundespressekonferenz wurden gestern Dutzende Fragen gestellt zu dem wirklich nicht weltbewegenden Komplex Aigner-McAllister etc., die Revolution in Tunesien wurde mit einer einzigen Frage bedacht („Sind noch deutsche Touristen im Land?“).

Der Überdruss an an dem Pseudoskandal über das (bislang gesundheitlich unbedenkliche) Dioxin bringt mich auf einen Artikel, den ich vor genau zehn Jahren anlässlich des Rinderwahnsinns geschrieben habe. Ich habe ihn wiedergelesen und muss zu meiner Freude feststellen, dass nichts davon überholt ist.

Der Verbraucher ist eine mächtige, aber sehr zweifelhafte Größe der Politik.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Abgebrüht bin ich, was die Erregung über die überschrittenen Grenzwerte angeht. Nicht, was das Los der Tiere angeht. Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Bei uns wurde noch zu Hause geschlachtet. Ich habe  keine Schwierigkeiten, meine selbst gefangenen Fische eigenhändig zu schlachten und auszunehmen. Aber: Hunderte Schweine und tausende Hühner werden in Niedersachsen getötet, weil irgendjemand herumgesudelt hat und wir uns jetzt zu fein sind, die zu essen?

Das ist ein Skandal.

Wie dem auch sei. Hier ein Auszug aus meinem Text von 2001:

Der „kritische Verbraucher“, mit dem Frau Künast es zu tun haben wird, ist freilich bei genauerem Hinsehen eine ziemlich ambivalente Figur. Man sollte sich hüten, seine neue Allgegenwart zu einem radikaldemokratischen Durchbruch zu verklären. Jedermann kann von seinen eigenen Konsumentscheidungen wissen, dass die Vorstellung, der Verbraucher sei ein rational handelnder, frei wählender Souverän, der zur Ausübung seiner weisen Macht nur noch mehr „umfassende Information“ (Künast) brauche, eine Schimäre ist. Wer das heutige massenhafte Zurückschrecken vor Rindfleisch von diesem Blickwinkel aus zu erklären versucht, muss bei groben Vereinfachungen enden. Der Verbraucher mit seinen Ängsten und Leidenschaften taugt einfach nicht als Ersatz für die geheimnisvoll alles ordnende invisible hand von Adam Smith. Das derzeitige Konsumentenverhalten sollte vielmehr zum Anlass genommen werden, sich über die ungeheure politische Macht des Ekels als eines politisch-moralischen Gefühls Rechenschaft zu geben. Statt haltloser Umdeutungen solchen Verhaltens zum weisen Richterspruch des ideellen Gesamtkonsumenten brauchen wir ein besseres Verständnis der medial verstärkten Kraft der moral sentiments.

Der Verbraucher lebt heute einerseits im steten Verdacht, falsch informiert, betrogen, verstrahlt und vergiftet zu werden. Zugleich aber kultiviert er eine schnäppchenjägerische Schlaumeierei, einen erstaunlichen Sportsgeist im Aufstöbern von Sonderangeboten und Rabatten. Seine Welt ist durchzogen von steter Angstlust, die ja schon das durchdringende Aroma emblematischer Verbrauchersendungen wie Der siebte Sinn oder Nepper, Schlepper, Bauernfänger abgab. Der Verbraucher, der sich eben noch als Schlitzohr gefühlt hat, weil er zum billigsten Mobilfunkanbieter gewechselt ist, wird gleich darauf von der Paranoia vor den womöglich Krebs erzeugenden Strahlen verschlungen, die sein niedliches kleines Gerät auf ihn abstrahlt. Er lebt in einem manisch-depressiven Auf und Ab zwischen ungetrübten Freuden, wie sie bei der Anwendung „tausend ganz legaler Steuertricks“ entstehen, und der bleiernen Niedergeschlagenheit, die einen bei der Lektüre des Verbraucherbestsellers Bittere Pillen überfallen muss. Symptomatisch für den Geisteszustand dieses hypermoralischen Absahners ist die Website www.geizkragen.de, „die Pflichtseite für alle Knauser“, in deren „Geiz-Chat“-Forum sich schon über 240 000 Mitglieder im Schnorren und Abstauben fortbilden. Zum Ausgleich für die hässlichen Regungen wird auf der gleichen Site zur Teilnahme an der Aktion Klares Wasser für Äthiopien aufgerufen.

Das eigentlich Niederschmetternde an der zwischen schlechtem Gewissen und Durchstecherei schillernden Verbrauchersubkultur ist aber ihre durchdringende Freudlosigkeit. Die Werbung hat sich längst auf solche Kundschaft eingestellt: „Ich bin doch nicht blöd“ – so antizipiert ein großer Elektronikmarkt in knalligen Anzeigen den Verdacht des Kunden, man wolle ihn hier wie überall doch bloß für dumm verkaufen. Ist es nicht ein sozialpsychologisches Alarmsignal, dass der Hauptanbieter von Geräten, die allein der Unterhaltung und dem Lebensgenuss dienen, von den angenehmen Seiten seiner Produkte lieber schweigt? Der angeblich souveräne Konsument kann einem leid tun: Jeder scheint seine Schwächen zu kennen. Der Teppich versichert ihm unaufgefordert, nicht von Kinderhand geknüpft worden zu sein.

Und die Margarine, das Vitaminbonbon, ja selbst noch das Klopapier wollen ihn bei der Moral packen: „Du darfst“, „Nimm zwei“, „Danke!“

Nun also kümmert sich auch noch ein Ministerium um ihn, und bald schon soll es dazu ein fürstlich ausgestattetes Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit geben. Auch die Stiftung Warentest wird mehr Geld bekommen. Anstelle eines auf Produzenten orientierten Amtes tritt nun wenigstens dem Namen nach ein Konsumentenministerium. Es ist nur konsequent, dass das Haus aus den Händen der Produzentenpartei SPD in die Hände der Grünen übergegangen ist. Die Grünen sind ja, auch wenn sie es lange nicht wahrhaben wollten, eine Verbraucherpartei, die zwar allerlei Themen im Angebot hat, aber eigentlich doch auf der Welle der Konsumentenängste mehrheits- und regierungsfähig geworden ist. Das Ziel des Hauses ist, wie könnte es anders sein, noch mehr Information, noch mehr Aufklärung und dadurch am Ende mehr „Wahlfreiheit“. Die alte Ideologie des souveränen Konsumenten wird in den Programmen hochgehalten, aber dass man dann doch den Verbraucher schon in der Namensgebung des neuen Hauses als schutzbefohlenes Mündel des Staates definiert hat, stimmt eher pessimistisch.

Es ist ein ehrenwertes Ziel, Schaden vom Verbraucher abwenden zu wollen, der ihm durch Rindfleisch, unseriöse Makler oder Elektrosmog entstehen mag. Aber selbst wenn dies gelingen sollte, bleibt eine Frage, die kein Ministerium beantworten kann: Wer schützt den Verbraucher vor sich selbst, vor den Schäden, die seinem Ekel, seinen Vergiftungsängsten und seiner Pfennigfuchserei entspringen?