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Das vermeidbare Unglück der türkischen Jungs

 

Ich habe schon vor einiger Zeit ein Interview mit dem Pädagogen und Männlichkeitsforscher Ahmet Toprak geführt. Es sollte im Rahmen eines Schwerpunkts über den „türkischen Mann“ in der ZEIT erscheinen, der leider aus sekundären Gründen nicht zustande kam. Damit es nun nicht in den Abgründen meiner Festplatte verschimmelt, veröffentliche ich das Gespräch nun hier exklusiv:

DIE ZEIT: Herr Toprak, wer hat es schwerer bei der Integration in Deutschland? Jungen oder Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund?

Ahmet Toprak: Alle Zahlen sprechen dafür, dass Jungs sich schwerer tun – Schulabschluss, Berufserfolg, Sprachniveau. Da liegen Jungs eindeutig hinter den Mädchen.

ZEIT: Aber die Jungen sollen doch die Starken sein, die Vorbilder, die Hüter der Mädchen?

Toprak: Das ist ja auch der Kern des Problems, dass an die Jungs so hohe Erwartungen gestellt werden, dass viele dabei nur auf der Strecke bleiben können. Sie sollen dominant sein, sie sollen die Familie führen und ernähren. Von Mädchen wird viel weniger erwartet. Man freut sich, wenn sie Erfolg haben, aber sie können immer noch die Rolle der Hausfrau und Mutter übernehmen.

Ahmet Toprak Foto: FH Dortmund

ZEIT: Diese traditionellen Rollenvorstellungen geraten in Konflikt mit den Erwartungen, die die deutsche Gesellschaft an beide Geschlechter stellt?

Toprak: Türkische Jungs haben in ihren Familien sehr viel mehr Freiheiten als Mädchen. Ihnen wird eingeräumt, dass sie auch mal Fehler machen dürfen. Das Ansehen der Familie in der Öffentlichkeit hängt sehr viel mehr an den Mädchen. Die Brüder dürfen über die Stränge schlagen. Durch diese Einstellung wachsen die jungen Männer ohne Grenzen auf. Mädchen werden viel mehr reglementiert. Sie dürfen weniger in der Öffentlichkeit präsent sein, sie müssen pünktlich zuhauise sein. Das ist zwar kein angenehmes Leben, aber anders als die Jungen haben die Mädchen Grenzen. Jungen entwickeln so kein Problembewußtsein für ihr eigenes Verhalten. Es würde ihnen gut tun, wenn auch ihnen Grenzen gesetzt würden.

ZEIT: Aber die Jungen werden doch in der Regel ziemlich autoritär erzogen. Der Vater ist unantastbar als Bestimmer in der Familie. Warum gibt das keine Orientierung, keine Grenzsetzung?

Toprak: Es wird viel zu wenig erklärt. Man geht davon aus, dass der Junge durch Imitation des Vaters in seine Rolle hineinwächst. Manche schaffen das, aber diejenigen, die es nicht schaffen, werden dann verhaltensauffällig. Wenn die Eltern merken, dass etwas schiefläuft, wissen sie sich nicht anders zu helfen, als die Söhne zum Militärdienst zu schicken, damit dort ein richtiger Mann aus ihnen gemacht wird und sie Disziplin lernen. Wenn auch das nichts fruchtet, verheiratet man den Jungen, damit er lernt Verantwortung zu übernehmen. Und wenn auch das nicht funktioniert, hofft man dass er durchs Kinderkriegen zur Vernunft kommt und anständig wird. Aber man spricht mit dem Jungen nicht darüber, man geht davon aus, dass das ein naturwüchsiger Prozess ist.

ZEIT: Warum sprechen die Eltern nicht mehr mit den Jungen?

Toprak: Manche haben nicht die verbalen Fähigkeiten das zu tun, die meisten haben es selber so gelernt, und dann gibt es viele Tabus. Über manche intime Dinge mit seinen Eltern zu reden wäre eine Verletzung des Respekts, den man ihnen schuldet.

ZEIT: Wie wird einem türkischen Jungen Männlichkeit vermittelt?

Toprak: In den ersten Jahren sind die Söhne voll auf die Mutter orientiert. Sie begleitet ihn sehr innig, bis er im Grundschulalter von der Mutter abgelöst wird und sich auf sein eigenes Geschlecht, also auf den Vater orientieren soll. Mit der Beschneidung wird das symbolisch unterstrichen. Vorher konnte der Junge problemlos mit der Mutter ein Hamam besuchen. Nach der Beschneidung ist das nicht mehr gerne gesehen, der Sohn hat in dieser Frauenwelt nichts mehr zu suchen. Der Militärdienst ist für die Türken eine wichtige Stude der Mannwerdung. Es gibt keinen Ersatzdienst in der Türkei. Jeder muß da durch, der ein Mann sein will. Wenn ich in Kreisen traditioneller Einwanderer sage, dass ich weder den türkischen noch den deutschen Wehrdienst absolviert habe, gelte ich als schwacher Mann. Drittens und viertens gehört Heirat und Kinderkriegen zum Mannwerden. Erst dann wird das Wort eines Mannes in der Öffentlichkeit für voll genommen. Wer das nicht durchlaufen hat und etwa mit dreißig noch nicht verheiratet ist, gilt als Kind.

ZEIT: Welche Rolle spielt der Islam dabei?

Toprak: Sie wissen ja, dass Türken meist Sunniten oder Aleviten sind. Aleviten halten sich nicht an die Gebote des Islams, sie fasten nicht, pilgern nicht, gehen nicht in die Moschee, und die Frauen tragen in der Regel kein Kopftuch. Aber auch die alevitischen Männer sind beschnitten. Bei den Männlichkeitsvorstellungen ist Tradition und Religion schwer zu trennen. Es gibt religiöse Begründungen für die Beschneidung, aber in der Praxis ist das ein Männlichkeitsritual – weshalb es zum Beispiel auch wichtig ist, dass es ohne Narkose geschieht, denn der Schmerz gehört nach dieser Vorstellung zum Mannwerden dazu. Aleviten lehnen zwar die Geschlechtertrennung in den Moscheen ab, aber in den Männlichkeitsvorstellungen unterscheiden sie sich nicht sehr von den Sunniten.

ZEIT: Warum ist die türkische Männlichkeitsvorstellung eigentlich problematisch? Man könnte ja auch sagen: Da gibt es wenigstens noch klare Unterscheidungen.

Toprak: Aber sehen Sie: Dieses Konzept wird gelebt in einem Land, in dem es nicht zeitgemäß ist. Es kann nicht funktionieren, weil der soziale Rahmen fehlt, der es hält, auch durch soziale Kontrolle. Übrigens kollidiert es nicht nur hier mit der Wirklichkeit, sondern auch in türkischen Großstädten, wo ebenfalls die Kontrolle durch die peer group wegfällt.

ZEIT: Stützen die Frauen dieses Männlichkeitsbild? Ohne Mütter und Frauen kann es ja nicht aufrechterhalten werden.

Toprak: Die Mütter machen mit, sie haben ja auch einen enormen Einfluss auf die Söhne bis zu einem bestimmten Alter. Aber bei den jungen Frauen sieht es anders aus. Viele von denen finden die in Deutschland aufgewachsenen Jungs einfach nur blöd. Die mögen deren Macho-Art nicht. Umgekehrt können viele von den Männern mit den selbstbewußten Frauen nicht umgehen und suchen sich darum eine einfachere Braut in der Türkei. Man hat Schwierigkeiten, sich wechselseitig attraktiv zu finden und weicht auf das Herkunftsland aus.

ZEIT: Können diese Männer eine partnerschaftliche Ehe führen?

Toprak: Sie dürfen das nach außen projizierte Bild nicht mit der Realität zuhause verwechseln. Viele Frauen haben zuhause erheblich Anteil an Entscheidungen. Die Männer geben sehr viel mehr nach und schließen mehr Kompromisse, als sie nach außen zugeben können. Oft wird, was auf die Frau zurückgeht, dann vom Mann nach außen als seine Entscheidung dargestellt.

ZEIT: Wie sollen deutsche Lehrer mit der türkischen Männlichkeitskultur umgehen, die sie im Klassenraum vorfinden?

Toprak: Ich mache oft Fortbildungen mit Lehrerinnen, die sagen, ich tue mich schwer mit diesen Jungs. Diese Jungen brauchen klare Ansagen, klare Regeln, die auch durchgesetzt werden. Die basisdemokratische Pädagogik des Aushandelns und der Diskussion empfinden sie als Schwäche. Die sehen das als Unsicherheit des Lehrers, wenn er oder sie zuviel fragt. Wenn man klar und deutlich sagt, was man möchte und wo die Grenzen sind, machen die auch mit. Ich habe das Konzept der konfrontativen Pädagogik mit gewalttätigen und straffälligen Jugendlichen erprobt. Es kommt darauf an, sich von Machosprüchen nicht verunsichern zu lassen. Diese Jungs probieren, ob man angesichts ihres dominanten Auftretens Schwäche zeigt. Die zeigen gerne ihr Testosteron, aber wenn man Regeln durchsetzt, werden sie auch schnell handzahm.

ZEIT: Wenn man Schüler zur Selbständigkeit erziehen will, kann man aber nicht immer Frontalunterricht machen?

Toprak: Das ist auch nicht gemeint mit konfrontativer Pädagogik. Es geht darum, einen fairen und transparenten Rahmen für das gemeinsame Handeln zu errichten. Die Jugendlichen sehen, wenn ich mich an die Regeln halte, bin ich angenommen und kann mich einbringen. Dann fällt auch das Totschlagsargument der Ausländerfeindlichkeit weg, dass diese Jugendlichen gerne bringen. Person und Fehlverhalten müssen klar getrennt werden.Wenn klar ist, du bist als Ali oder Mustafa willkommen, wenn du dich an die Regeln hältst, aber wenn nicht, hat es auch Konsequenzen, dann kommen die Jungs damit gut klar.

ZEIT: Woher kommt die höhere Gewaltakzeptanz bei türkischen Jungen?

Toprak: Ich habe jahrelang Anti-Aggressivitätstraining mit auffälligen Jugendlichen gemacht. Das waren junge Männer, die dazu verurteilt worden waren, weil sie selbst gewalttätig geworden waren. Diese Jungs haben uns berichtet, sie haben in der Erziehung Gewalt erfahren – entweder in der Familie oder durch ihre Peergroup. Die sehen es als normalen Teil des Aufwachsens als Mann, dass man irgendwann Schläge bekommt. Vor allem untereinander in der Gruppe ist Gewalt etwas Alltägliches. Tragischerweise.

ZEIT: In der deutschen Gesellschaft ist Gewalt in den letzten Jahrzehnten zunehmend tabuisiert worden. Früher übliche Rüdenkämpfe auf Schulhöfen sind heute verpönt. Da passt die Gewalkultur türkischer Jungs nicht hinein.

Toprak: Ja, aber es wird teilweise überdramatisiert. Auch ganz normale Raufereien, die man früher als ‚typisch Jungs‘ abgetan hat, werden heute sofort therapiert. Das führt zu einer Überpädagogisierung, in der Jungs per se zum Problem werden. Das geht dann zu weit, nicht nur für türkische Jungs.

ZEIT: Warum ist „schwul“ das schlimmste Schimpfwort unter türkischen Jungs? Auch das steht ja im Gegensatz zu der gesamtgesellschaftlichen Enttabuisierung der Homosexualität?

Toprak: Vielleicht ist ja die Präsenz des schwulen Lebens in der Öffentlichkeit ein Mitgrund für diese Gegenreaktion. Im Antigewalttraining haben mir die Jungs klargemacht, es gibt zwei Tabus – man darf die Mama nicht angreifen und die Männlichhkeit, also jemanden schwul nennen. Aber es gab eine interessante Ambivalenz: Ein Junge, der mir gesagt hatte, er hasst Schwule, Homosexualität sei eine Sünde und Homosexuelle seien keine Menschen. Aber dann sah ich, er packte einen anderen an den Hintern. Als ich ihn zur Rede stellte, sagte er: Ich bin nicht schwul, er ist schwul. Ich habe dann erfahren, dass der aktive Partner als der unproblematisch Männliche gilt. Der Schwule ist der – verzeihen Sie das Wort – ‚der sich ficken lässt‘. Das war mir neu. Es gab da Jungen, die sehr homosexuellenfeindlich auftraten und doch zu irgendwelchen einschlägigen Treffs gingen, um ‚Schwule zu ficken‘. Nach dem Motto, wir zeigen denen mal was ein richtiger Mann ist. Homosexuelle werden als Opfer gesehen, und so gab es auch Fälle, bei denen mit den Männern geschlafen wurde, um diese dann anschließend zu verprügeln. Das zeigt die Ambivalenz. Der Mann darf sich auf keinen Fall in die Rolle der Frau begeben, darum sind die Jungs so gegen Schwule.

ZEIT: Das ist eine sehr anstrengende, stressige From von Männlichkeit, bei der es dauernd um die Ehre geht.

Toprak: In einem meiner Kurse habe ich es den Jungs verboten, über Ehre zu reden, weil sie diesen Begriff immer nur als Vorwand benutzt haben und nie mit Inhalt füllen konnten. Die mussten dann in die Bibliothek gehen und recherchieren, was Ehre sein kann. Sie haben angefangen, den Ehrbegriff zu problematisieren, den man ihnen aufgedrückt hat: Du musst deine Frau, deine Schwester beschützen. Die hatten noch nie über diesen zentralen Begriff nachgedacht. Aber dann haben sie angefangen, über ihre Gefühle zu reden, über die Angst zu versagen und dem Ehrbegriff nicht gerecht zu werden.

ZEIT: Ist der deutsche Mann in deren Wahnehmung unehrenhaft und unmännlich?

Toprak: So wird das gesehen. Aber ich muss ihnen sagen, das ist auch nur ein Schein. Viele würden gerne manche Verhaltensweisen vom deutschen Mann übernehmen, aber sie trauen sich nicht, weil sie dann als schwach gelten würden. Einige sehnen sich danach, aber der Druck ist zu groß.

ZEIT: Woher kann Veränderung kommen?

Toprak: Wir haben eine Entwicklung in zwei Richtungen: Die einen sagen, das tue ich mir nicht an und steigen aus. Aber die müssen dann auch in einem anderen Umfeld leben, in einem anderen Stadtteil. Aber diejenigen, die in Quartieren wohnen, wo der soziale Druck groß ist, tun sich schwer da rauszukommen. Bevor man an die Jungs rankommt, muss man zuerst an die Eltern ran. Die wissen oft gar nicht, dass es alternative Erziehungsstile gibt. Sie haben es selber so erfahren, und tragen es weiter.

ZEIT: Stärkt die islamische Religion eigentlich immer nur die konservative Seite? Oder hat sie eine Rolle bei der Reform der Männlichkeit?

Toprak: Das ist nicht so eindeutig. Wir kennen sehr viele selbstbewusste religiöse Frauen mit Kopftuch, auch hier an der Hochschule. Die sind hoch modern und passen nicht zu schlichten Macho-Männern.

Die Fragen stellte Jörg Lau