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Tunesiens Salafisten terrorisieren Intellektuelle

 

Letzte Woche sollte in Tunis der Prozeß gegen den Direktor des TV Senders Nessma beginnen,  der im letzten Herbst den Film „Persepolis“ von Marjane Satrapi ausgestrahlt hatte. Der Prozeß wurde schließlich verschoben, doch die Aufregung um den Casus Karoui hält an. Dem Angeklagten drohgen schlimmstenfalls 5 Jahre Haft wegen Blasphemie. Die gute Nachricht: Tausende von Tunesiern haben gegen diesen Prozeß demonstriert, in dem sie völlig zu Recht einen entscheidenden Moment erkennen, in dem sich das Schicksal des Landes entscheiden kann.
Es geht um die Frage, ob das neue Tunesien unter Führung der islamistischen „Ennahda“-Partei den aggressiven bärtigen Lumpen nachgibt, die sich bei den Salafisten sammeln und die Gesellschaft mit ihren Moralvorstellungen zu terrorisieren beginnen.

Wie wird sich die manchmal als „moderat“ beschriebene Ennahda gegenüber den extremistischen Salafisten verhalten? Wird sie eines Tages eine Linie ziehen und efinieren, wie sie es mit den Freiheiten hält? Oder wird sie wie bisher einen Schlingerkurs fahren, bei dem mal der Übereifer der Langbärtigen kritisiert, und dann wieder die gemeinsame Verurteilung der „Gottlosigkeit“ herausgekehrt wird?

 

Zwei säkulare Intellektuelle – der Journalist Zyed Krichen und der Professor Hamid Redissi – haben im Umfeld des Prozesses den Mob bärtiger junger Männer kennengelernt, der sich anschickt, die Herrschaft über die Straße und die Institutionen Tunesiens zu übernehmen. Die Szene wurde gefilmt (s. oben ab ca. 1:20), und sie ist beklemmend. Ein Spießrutenlauf zweier mutiger Männer, beschimpft von hasserfüllten Jungspunden, die nur auf eine Gelegenheit wareten, lozuschlagen.
Und so kommt es dann auch: Krichen wird von hinten auf den Kopf geschlagen, Redissi will ihm zu Hilfe kommen und wird von dem Angreifer mit einem brutalen Kopfstoß traktiert. Der Angreifer wurde zwar später zur Rechenschaft gezogen. Aber ein Ennahda-Sprecher verurteilte zugleich den Film, der den Anlass für die ganze Aufregung bot, als „eine Verletzung des Heiligen“.

Damit wird dem islamistischen Pöbel hintenrum dann doch wieder Recht gegeben.

Ich habe schon in meinem ersten Bericht zum Thema das Bild wiedergegeben, dass angeblich gotteslästerlich ist. Ich tue es hiermit wieder.

Die kleine Marjane rechtet mit Gott. Aus „Persepolis“        Screenshot: JL

Man kann den betreffenden Film, eines der großen Meisterwerke der Filmkunst der letzten Jahre, im Netz komplett sehen. Wer wirklich glaubt, die Szene mit dem kleinen Mädchen, das Gott zürnt, weil der ihren lieben Onkel nicht vor der Hinrichtung bewahrt hat, sei Gotteslästerung, hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. (Hiob? Ayjjub? Ring a bell?)
Es handelt sich eindeutig um die Darstellung eines inneren Konflikts, in dem eine Heranwachsende mit einem Gott, den sie imaginiert, hadert. Hier wird Gott gezeigt, wie ein Kind ihn sich vorstellt, als gütigen alten Mann mit Rauschebart. Er sagt: Was soll ich machen, die Menschen hören ja nicht auf mich! Eine religiöse Grunderfahrung wird auf eine rührend-menschliche Weise dargestellt. Das Thema der kurzen Passage in dem Film ist die Theodizee, die Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels.
DAS gezeigt zu haben, soll Grund sein, einen TV-Direktor wegen Blasphemie zu verurteilen? Krank.

Ich hoffe, falls diese Farce weitergeht und es tatsächlich zum Prozess kommen sollte, dass dann unsere Regierung und die EU sich vehement für Nabil Karoui einsetzen. Man muss den Verantwortlichen in Ennahda deutlich machen, dass dieses Thema eine klare Haltung erfordert.

Ein Politbüro-Mitglied der Partei lässt sich von der New York Times wie folgt zitieren:

“It’s like a war of attrition,” said Said Ferjani, a member of Ennahda’s political bureau, who complained that his party was trapped between two extremes, the most ardently secular and the religious. “They’re trying not to let us focus on the real issues.”

Das ist nicht akzeptabel: Meinungs- und Pressefreiheit, und auch Religionsfreiheit (inklusive der Freheit von der Religion, wenn gewünscht) ist ein real issue.