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Der Westen braucht mehr Antiwestlertum

 

Zur Zeit habe ich das Gefühl, dass unsere Weltwahrnehmung hier im Westen eine starke Dosis Antiwestlertum gut gebrauchen könnte, als Antidot für eine um sich greifende Selbstgerechtigkeit mitten in der Krise.

Warum geht vor meinem geistigen Auge das Bullshit-Licht an, wenn ich höre, dass die NATO das erfolgreichste Bündnis der Geschichte ist (wie es etwa der Verteidigungsminister de Maizière in der ZEIT letzte Woche sagte, und wie es auf dem NATO-Gipfel in Chicago jeder Redner wiederholte)?

Es stimmt doch wohl, wenn man an den Kalten Krieg und seine Überwindung denkt, die Ostausdehnung des Bündnisses und die dadurch beförderte Wiedervereinigung Europas? Ja, schon, aber das Problem ist der heutige, aktuelle Kontext der Äußerungen. Gegen die Gurkentruppe des Diktators Gaddafi konnte das Bündnis im letzten Jahr nur mit Mühe den Offenbarungseid vermeiden. Wenn die Amerikaner nicht die Präzisionsmunition herübergeschoben hätten, wäre die Sache peinlich geendet.
In Afghanistan hat unterdessen der Sprint zum Ausgang begonnen. Niederländer und Franzosen haben genug und gehen vor den verabredeten Fristen raus. Letzte Woche versuchten deutsche Diplomaten diesen Umstand schön zu reden, indem sie darauf hinwiesen, die Franzosen seien nicht mehr so wichtig, und in der betreffenden Provinz sei darum ohne Komplikation eine frühere Übergabe möglich.
Wirklich? Schon der Abgang Ende 2014 war westlichen Nöten geschuldet, nicht dem Fortschritt bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte (die immer wieder auf ihre Partner und Ausbilder schießen).
Nach dem 11. September glaubte die NATO ihre postsowjetische Sinnkrise gelöst zu haben. Der neue Feind des internationalen dschihadistischen Terrorismus, der sich in scheiternden Staaten wie Afghanistan, Somalia und Jemen einnistete, machte die Sinnfrage obsolet. Aber die NATO hat durch den Antiterrorkampf eben doch nicht zueinander gefunden. Von Anfang bis Ende gab es Streit um die Mandate und um das Commitment der einzelnen Partner, wie es sich in dem amerikanischen Witz ausdrückt, ISAF bedeute in Wahrheit „I saw Americans fighting“. Und selbst wenn es unter den Alliierten harmonischer abgelaufen wäre – das große Projekt Afghanistan wäre auch dann gescheitert. Seit Jahren schon erlebe ich in den Briefings deutscher Beteiligter eine permanente Reduktion der Erwartungen beim Nationbuilding. Vielleicht ist das richtig so: Wir erwarten heute nichts mehr als Stabilität (wenn es schon zu Demokratie und Menschenrechten nicht reicht), das Ausbleiben allzu krasser Menschenrechtsverletzungen (die eine erneute Intervention erzwingen könnten) und den Verzicht auf aggressive terroristische Übergriffe nach außen (während wir die Integration der Taliban in die Regierung unter der Überschrift „nationale Versöhnung“ begrüßen würden).
Die NATO wird sich fragen (lassen müssen), ob dafür ein 12jähriger Krieg inklusive Besatzung nötig war, oder ob man die gewünschten Ergebnisse im Antiterrorkampf nicht auch durch gezielte Luftangriffe, Drohnenkrieg und Spezialoperationen hätte erreichen können.

Die Wahrheit ist, die NATO ist ausgepowert und müde und noch weniger im Klaren über ihre Existenzberechtigung als nach dem Fall des Kommunismus. Was die Mitgliedstaaten in Wahrheit von ihrem Bündnis halten, drückt sich nicht in den frommen Gipfelkommuniqués, sondern in den Militärbudgets aus, und die schrumpfen immer weiter. Schlecht muss das ja nicht einmal sein: Wir haben keine Feinde mehr, die man mit den Mitteln bekämpfen könnte, die die NATO hat.

Aber es fehlt der Mut, das auch zu sagen. Statt dessen wird in eine Raketenabwehr investiert, die uns ab 2020 vor den Raketen von Iran und Nordkorea schützen soll.
Mir kommt das ein wenig bizarr vor. Zwei der weltweit am meisten verachteten und isolierten Staaten, zwei Staaten, die keine Zukunft haben, inspirieren uns zu einem militärtechnischen Großprojekt von stellaren Ausmaßen? Sind wir denn sicher, dass es beide Länder in der jetzigen Herrschaftsform noch gibt im Jahr 2020? Soeben wurde gezeigt, dass Nordkorea Pappkameraden als Raketen auf seinen Militärparaden mitführt, und wir sollen uns vor den nordkoreanischen Interkontinentalraketen des Jahres 2020 fürchten? Mir fällt es schwer.
Iran steht dank der neuen Sanktionen vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Das Land hat keine Entwicklungsperspektive außerhalb des Verkaufs seiner Gasreserven, ein riesiger Youthbulge drückt auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung. Das Regime ist ideologisch entleert durch drei Jahrzehnte islamistischer Terrorherrschaft und zu Recht verhasst bei den eigenen Leuten, und in der Region entstehen demokratisch-sunnitisch-islamistische Alternativen von der Türkei bis Tunesien. Syrien ist fast verloren, der letzte Freund in der Region; die Türkei hat man im Streit um Syrien bereits verloren – und wir rüsten gegen iranische Raketen? I am not convinced.

Dass die Russen die Begründungen für unseren Raketenschirm für Bullshit halten, kann ich ihnen nachfühlen, auch wenn es nicht plausibel scheint, dass er gegen das immer noch riesige russische Arsenal einen Schutz bieten könnte, wie die Russen ihrerseits suggerieren. Wofür aber brauchen wir ihn dann überhaupt? Damit die NATO ein neues Projekt hat?

Wenn es nach einem 12 Jahre währenden, tausende Menschenleben und Abermilliarden Euro kostenden Unternehmen heißt, dem Bündnis gehe es prima, dann ist das wohl exakt, was der singapurische Diplomat und Politologe Kishore Mahbubani „western groupthink“ nennt – kollektives Schönreden. Mahbubani ist einer der wenigen, die das westliche Selbstbestätigungsdenken herausfordern. Wir sollten mehr auf solche Stimmen hören statt uns selber auf die Schultern zu klopfen.

 

Daniel Barenboim ist auch eine solche Stimme. Als ich ihn Ende Februar zusammen mit einer Kollegin interviewte, sagte er einen Satz, der mir in Erinnerung geblieben ist: „Glauben Sie vielleicht, dass sich China in zwei, drei Jahrzehnten auch so für Israel in die Bresche werfen wird wie die Vereinigten Staaten es heute tun?“ Das war in dem Zusammenhang gesagt, dass die Chancen für eine Zweistaatenlösung dahinschwinden, wenn der Siedlungsbau und die Besatzungspolitik einfach immer weiter gehen. Nicht nur das Abtreten einer Generation kompromissbereiter Palästinenserführer wird die Sache für Israel verkomplizieren, sondern auch der Wandel des internationalen Umfelds. Wenn Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien mehr Mitsprache in internationalen Foren bekommen, wird die Luft für Israel wahrscheinlich dünner.

Mahbubani hat über den Wandel und seine Folgen für die Wahrnehmung – den Wandel durch die Krise des Westens und den Aufstieg des Rests – vor einem Monat eine Kolumne in der Financial Times geschrieben (hier noch zu finden), die sich mir eingeprägt hat: „The West must work to understand a new world order“.

An drei Beispielen geht er die westliche Selbsttäuschung durch. Es sei falsch, schreibt er, dass der Westen sich im Konflikt mit Iran als Partei des Guten verstehe, die gegen das Böse auftrete. Westliches Gruppendenken suggeriere, dass der Westen offen und ehrlich operiere, während der Iran lügnerisch und hinterhältig vorgehe. Immer noch sei nicht klar, warum der Westen den Deal ausgeschlagen habe, den die Türkei und Brasilien vermittelten (bei dem nukleares Material im Ausland angereichert werden sollte). Nur um nun in der aktuellen Runde einen ähnlichen Deal selber wieder anzubieten? Wenn es zum Militärschlag gegen den Iran käme, weil Verhandlungen scheitern, wäre das ein Disaster für den Westen, das eine neue Periode des Hasses und Misstrauens einläuten werde – so wie 1953 der vom Westen inspirierte Coup gegen Mossadegh, von dem sich das Verhältnis bis heute nicht erholt habe. Ein erheblicher Teil der Welt kann das Mißtrauen, dass sich aus dieser Intervention ergibt, einer Art Ursünde neokolonialer westlicher Politik nach dem Weltkrieg, sehr gut nachvollziehen und sieht den Westen nicht als Ritter in glänzender Rüstung, ohne mit dem islamistischen Regime in Teheran zu sympathisieren.
Der zweite Fall ist Nordkorea nach der Machtübergabe an den Sohn. Dort wurde unter Riesenpomp eine Rakete abgefeuert, die angeblich einen Satelliten ins All tragen sollte. Es kam zu einem schmählichen Versagen, die Rakete fiel vom Himmel und verlöschte im Meer. Der Westen beantwortete diese Provokation mit der Ankündigung von abermals schärferen Sanktionen gegen das ohnehin isolierte Land. Was unter den Tisch fiel, schreibt Mahbubani, ist die erstaunliche Tatasache, dass das Regime erstmals öffentlich Fehler eingestanden hatte, im Staastfernsehen, gleich nach dem Absturz. Die göttliche Dynastie hatte ihre Fehlbarkeit eingestanden – ein großer Schritt zur Normalisierung. Im Westen aber schaute keiner hin.
Dritter Fall: Myanmar. Der Westen brüstet sich, durch Sanktionen das Regime auf die Knie gezwungen zu haben. Westliche Politiker reisen nach Myanmar, um sich mit Aung San Suu Kyi fotografieren zu lassen. Mahbubani sagt, diese Story ist schön, aber falsch. Nicht die westliche Sanktionspolitik (allein), sondern vor allem das Engagement der ASEAN-Staaten hat die Lage verändert. Wirtschaftliche und politische Öffnung von Myanmar wurden in tausenden Treffen des Regimes mit ASEAN-Staaten möglich gemacht. Die Generäle kamen herum und mussten feststellen, dass ihr Land immer weiter zurückzufallen drohte. ASEAN ermutigte sie zum Wandel. Die westlichen Medien, schreibt Mahbubani, ignorierten diesen Teil der Realität:

„Die selbstgerechte Erzählung des Westens kann die komplexe neue Welt nicht verstehen, die vor unseren Augen entsteht, während der Westen darniederliegt.“