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Israelische Soldaten erzählen vom Dienst als Besatzer

 

Meine Reportage aus dem aktuellen ZEIT Magazin:

Wenn Jehuda Schaul die jungen Soldaten der israelischen Armee in Hebron sieht, kommen die Erinnerungen wieder zurück. Jehuda, ein bärenhafter 29-Jähriger mit Vollbart, war auch einmal hier eingesetzt. Er hat in dieser Stadt Dinge erlebt, die er bis heute nicht loswird: »Ich glaubte zu wissen, wer ich bin, was gut und was böse ist und wofür ich stehe. Nach 14 Monaten Hebron war nichts davon übrig. Als hätte man alles, was ich war, durch einen Schredder geschoben.«
Ein Besuch in Hebron ist für Jehuda immer auch eine Suche nach dem verlorenen Selbst. Es ist ein herrlicher Morgen. Wir gehen durch das Viertel Bab al-Khan im Herzen der Altstadt. Palästinenser dürfen hier nur eine Seite der Straße benutzen, hinter einer Betonbarriere. Die Straßen der alten Kasbah sind leer, die Geschäfte versiegelt und lange schon aufgegeben. Das Herz Hebrons ist abgestorben. Dies ist eine Geisterstadt, belebt nur von den Soldaten, die in kleinen Gruppen patrouillieren. Alles normal, wird es nach diesem Tag in den Lageberichten heißen.

Mit dieser Normalität kann Jehuda sich nicht abfinden. Er und ein paar Freunde haben nach ihrem Militärdienst eine Gruppe gegründet, die sich auf Hebräisch Schowrim Schtika nennt, auf Englisch Breaking the Silence – »Das Schweigen brechen«. Sie haben einen Kampf begonnen, der fast aussichtslos scheint, einen Kampf gegen die Sachzwänge der Realpolitik und die Trägheit des Herzens nach 45 Jahren der Besatzung.

Jehuda und seine Freunde vermeiden abgedroschene Formeln wie »Zweistaatenlösung« und »Friedensprozess«, die das Publikum nicht nur in Israel mittlerweile in Sekundenschlaf versetzen. Sie haben etwas Interessanteres, aber auch Schwierigeres zu bieten: die Erfahrung der Soldaten, die die Besatzung am Laufen halten. Den Blick vom Checkpoint aus, durch das Visier des Gewehrs, das Westjordanland im grünen Licht eines Nachtsichtgeräts.

Jehuda Schaul zeigt in Hebrons Altstadt, wie es hier vor der Zweiten Intifada aussah   Foto: J. Lau

Soldaten sprechen über ihren Dienst: Das ist überall heikel, umso mehr aberin Israel, dessen Existenzrecht immer noch infrage gestellt wird. Ohne Bereitschaft zur Selbstverteidigung gäbe es den jüdischen Staat längst nicht mehr. Die Armee ist auch heute noch die wichtigste Institution im Land. Sie hat es gegründet, sie erhält es, sie bewahrt die zionistischen Werte, sie macht Juden aus aller Welt zu Israelis. Erwachsen werden, Soldat werden, Bürger werden, das ist alles eins, wenn die 18-jährigen Männer für drei Jahre und die Frauen für 21 Monate eingezogen werden.

Die Aktivisten von Breaking the Silence waren alle in Hebron eingesetzt. Wie Jehuda ist auch die Geschäftsführerin Dana Golan, ebenfalls 29 Jahre alt, hier geprägt worden. Die beiden sind zusammen mit dem 33-jährigen Michael Manekin der harte Kern der Gruppe. »Die Menschen in diesem Land«, so beschreibt Dana Golan ihre Mission, »müssen sich klarmachen, was sie ihren Söhnen und Töchtern antun, die in der Besatzung dienen. Viele wollen lieber nicht genau wissen, was der Preis für das Besatzungsregime ist, was wir dort tun – und was das uns antut.«

Als Jehuda anfing, im Sommer 2001, trug er voller Stolz die olivgrüne Uniform. Es tobte die Zweite Intifada, ein blutiger Aufstand, der innerhalb von fünf Jahren 1036 Israelis und 3592 Palästinenser das Leben kosten sollte. Jehudas Brigade hatte die Aufgabe, die jüdischen Siedler der Stadt vor den Angriffen von Palästinensern zu schützen.

Hebron ist für Juden und Muslime ein heiliger Ort. Die Gräber von Abraham, Isaak und Jakob, Sara, Rebekka und Lea werden seit biblischer Zeit hier verehrt. Für diese Stadt, einen der am längsten ununterbrochen bewohnten Flecken der Erde, ist das Heilige immer wieder zum Fluch geworden. Weil Abraham auch im Islam als Urvater und erster Prophet gilt, tobt ein jahrhundertelanger Kampf um die Erinnerung, der immer wieder zu Pogromen und Massakern geführt hat. 1929 fielen 67 Juden einem Massenmord zum Opfer, 1994 erschoss der Siedler Baruch Goldstein 29 betende Muslime. In Hebron ist der Nahostkonflikt wie unter einem Brennglas zu beobachten.

An dieser Kreuzung in der Altstadt von Hebron hat sich während Jehudas Dienstzeit ein Selbstmordanschlag ereignet   Foto: J. Lau

Einige jüdische Siedlungen, das ist das Besondere, liegen in der früher arabisch dominierten Altstadt Hebrons. Die Siedlerbewegung hat hier angefangen. Nach Israels Sieg im Sechstagekrieg von 1967 wurde Hebron als Teil des Westjordanlands von israelischen Truppen besetzt. Bald begannen National-Religiöse, im Zentrum der Stadt Häuser zu besetzen. Eine Gruppe um den Rabbiner Mosche Lewinger mietete sich in einem Hotel für eine Pessach-Feier ein und blieb. Die Armee rückte an, um die Siedler abzusichern. So ging es immer wieder in Hebron: Checkpoints wurden errichtet, Straßen gesperrt. Die palästinensische Bevölkerung verließ infolgedessen das Zentrum zu Tausenden, und Hebron wurde durch den Oslo-Vertrag von 1994 eine geteilte Stadt: In »H1« sind die Palästinenser für die Sicherheit verantwortlich, in »H2« – dem alten Stadtkern – die Israelis. Allerdings versuchten die Siedler immer wieder, in palästinensisches Territorium vorzudringen.

Jehuda wurde Zeuge einer solchen Aktion. Eines Tages zu Beginn von Jehudas Dienstzeit hatte sich eine Gruppe jüdischer Siedlerfrauen mit ihren Kindern nach Abu Sneina aufgemacht, einem arabischen Stadtteil Hebrons. Das war lebensgefährlich. Aus diesem Quartier heraus war einige Wochen zuvor ein zehn Monate altes israelisches Baby von einem arabischen Heckenschützen erschossen worden. Es wimmelte in Abu Sneina von Militanten.

Die Siedlerfrauen wollten in dem arabischen Viertel einen Stützpunkt errichten. Die Armee, so ihr Kalkül, musste ihnen folgen, um sie zu schützen. Wenn es ihnen gelänge, sich festzusetzen, wäre ein weiteres Stück biblischen Bodens befreit. Es wurde Alarm ausgelöst, und Jehudas Kampfgruppe bekam den Auftrag, die Frauen aus Abu Sneina herauszuholen und in die sichere Zone zurückzugeleiten. Nach Abschluss der Aktion bildeten die Soldaten einen Ring um die Siedlung, um die Frauen daran zu hindern, wieder loszuziehen. »Da ging das Geschrei los«, erinnert er sich: »Ihr seid Nazi-Soldaten, die Juden ins Ghetto einsperren! Hey, Nazi, hier ist eine Schwangere. Schlag sie doch, dann wird sie eine Fehlgeburt haben, und es gibt einen Juden weniger!«

Von anderen Juden, für die man gerade sein Leben riskiert hatte, Nazi genannt zu werden war ein Schock. Die Armee war in Hebron, um Juden vor Arabern zu beschützen. Aber hier musste man oft genug die Araber vor den Juden schützen – und Hebrons Juden vor sich selbst.

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Jehuda stammt selbst aus einer ultraorthodoxen Familie. Er hat sich aus dieser Welt gelöst, betrachtet sich aber weiter als gläubig, ernährt sich koscher und hält den Sabbat ein. Seine Entscheidung, zur Armee zu gehen – statt, wie es damals gesetzlich erlaubt war, als Ultraorthodoxer vom Privileg der Befreiung vom Wehrdienst Gebrauch zu machen –, fiel gegen den Willen der Familie: »Ich sah es als patriotische Pflicht.«

Für die Siedler Hebrons, musste er erkennen, war er als Soldat nur ein Mittel zum Zweck in ihrem Kampf um den heiligen Boden. Doch um diese Menschen zu schützen, hat er Dinge getan, die er sich vor Hebron nicht hätte vorstellen können.

Einer seiner ersten Einsätze bestand darin, aus einem Posten hoch über der Stadt ein Granatmaschinengewehr zu bedienen. Aus dem arabischen Viertel waren immer wieder die Siedlungen beschossen worden. Also wurde befohlen, zurückzuschießen: »Es ist unmöglich, mit einem Granatmaschinengewehr präzise zu treffen. In einem 15-Meter-Radius vom Zielpunkt tötet es alles. Jetzt sollte ich diese Waffe in einer dicht besiedelten Stadt abfeuern. Ich habe geschossen und gebetet, dass ich keine Unschuldigen treffe.« Die ersten Tage waren schrecklich, aber bald gewöhnte er sich daran: »Nach einer Weile war es dann die Attraktion des Tages, wenn man endlich zurückschießen konnte.«

Doch irgendwann begann Jehuda mit dem Gedanken der nachträglichen Dienstverweigerung zu spielen, was eine Gefängnisstrafe zur Folge gehabt hätte. Er hat es nach einem Gespräch mit seinem Kommandeur nicht getan, sondern sich sogar zum Offizierskurs angemeldet. Gerade Leute wie er müssten dabeibleiben, wurde ihm gesagt. Er könne Dinge verändern und Exzesse verhindern. Heute hält er das für eine Lebenslüge: »Nicht individuelles Fehlverhalten war das Problem, sondern das System der Besatzung.«

Wie Jehuda haben auch Dana und die anderen von Breaking the Silence ihren Dienst ordnungsgemäß beendet. Es herrschte schließlich ein Krieg, in dem der Gegner barbarische Methoden anwandte: Selbstmordanschläge auf Cafés und Reisebusse in Israel waren damals Alltag.

Erst nachdem sie aus der Armee entlassen waren, setzte das Erschrecken über die eigene Verrohung ein. Jahre später noch stehen viele der Soldaten wie neben sich.

Dana Golan ist seit drei Jahren Geschäftsführerin der Gruppe. Wir besuchen sie im Jerusalemer Stadtteil Talpiot. Das Büro liegt in einem Industriegebiet. Vier schmucklose Zimmer mit Teeküche, ein Konferenzraum, Ikea-Möbel. Dana könnte man mit ihrer modischen Sonnenbrille und ihren langen braunen Haaren für eine typische Tel Aviver Israelin halten: unbeschwert, eher unpolitisch. Und vielleicht wäre sie ohne Hebron auch so geworden. Sie kommt, anders als Jehuda, aus einer säkularen zionistischen Familie, die an das Militär glaubte. Als sie für den Dienst in den besetzten Gebieten eingeteilt wurde, war sie stolz: »Sie schicken dich in die Frontstadt, weil du zu den Harten gehörst«, dachte sie.

Bei der ersten Hausdurchsuchung brennt sich ihr der Wandschmuck ins Gedächtnis ein: »Ich sehe ein Poster von der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem und ein Bild Saddam Husseins, und da wird mir klar: Ich bin tatsächlich in einem palästinensischen Haus. Der nächste Gedanke: Komisch, ich war noch nie bei Palästinensern zu Hause. Jetzt stehe ich um zwei Uhr nachts mit einem MG in einem Hebroner Haus, und alle haben Angst vor mir.«

Die Kameraden stellen alles auf den Kopf, man sucht Waffen. Stattdessen finden sie die Pornosammlung des Familienvaters. »Mir ist es unendlich peinlich. Ich schäme mich. Dann kommt der Befehl, ich soll die Frauen im Haus filzen.« Dana klopft die Frauen ab: »Beine auseinander, Hände an die Wand. Ich fasse sie überall an, auch an den Brüsten. Sie lassen es geschehen. Sie haben Angst. Dabei schaut der kleine Sohn zu mir herüber, und ich sehe den Hass in seinen Augen. In diesem Moment konnte ich ihn verstehen.«

Sich plötzlich im Blick des anderen erkennen zu müssen kann Folgen haben. Michael Manekins Schlüsselerlebnis begann mit einem Scherz. Man hatte dem Kommandeur der Patrouille, einem großen, rundlichen Mann, statt regulärer Tarnfarbe giftgrüne Schminke gegeben. Weil die Farbe im Dunkeln aufgelegt wurde, hatte er es nicht bemerkt. Man hämmert an die Tür eines palästinensischen Hauses, die Tür wird geöffnet, der Kommandeur stürmt voran und brüllt »Hände hoch, keine Bewegung!«: »Die ganze Familie lacht bei seinem Anblick, und ein Kind ruft: ›Shrek! Shrek!‹ Wir lachen auch, und schließlich lacht selbst der Kommandeur, der in einem Spiegel erkennt, dass er wirklich aussieht wie das Ungeheuer aus dem Film. Mein Gott, denke ich, sie kennen Shrek! Und sie haben Humor, diese Palästinenser. Sie haben mich zum Lachen gebracht. Sie leben in der gleichen amerikanisierten Popwelt wie wir. Der nächste Gedanke: Was hast du bloß gedacht, wie die sind? In dem Moment fiel meine Soldatenwelt in sich zusammen. Ich hatte oft erlebt, dass sich Kinder bei unserem Anblick vor Angst in die Hose machen. Das hat mir nicht so viel ausgemacht wie dieses Lachen über Shrek.«

Noam Chajut, der mit Jehuda zu den Gründern von Breaking the Silence gehört, trifft uns in Tel Aviv, im Café Henrietta am zentralen Busbahnhof. Der 32-Jährige mit schütterem blonden Haar ist für die Videodokumentation der Soldatenerfahrungen zuständig. Nach dem Militär hat er Biologie studiert und ist heute Bioingenieur. Seine freundliche und offene Art kann eine große Wut kaum verdecken.

Noam war Offizier im Westjordanland und in Gaza. Seine Großeltern waren vor dem Zweiten Weltkrieg aus der Ukraine und Polen eingewandert. Alle verbliebenen Verwandten in Europa wurden von den Deutschen ermordet. Noam wollte immer schon Offizier werden. Er kam zu einer Eliteeinheit, die während der Zweiten Intifada überall im Westjordanland kämpfte.

Wie Jehuda war auch er später in Hebron eingesetzt: »Es hieß immer, wir bekämpfen den Terrorismus. Aber dort bedeutete das, ein Volk unter Kontrolle zu halten. Mit dem Gewehr in der Hand bist du als 20-Jähriger plötzlich Herr über Leben und Tod. Auch wenn du anders sein willst, ein guter Soldat, merkst du bald, dass es dein Daseinszweck ist, die Palästinenser deine Macht spüren zu lassen, damit sie sich nicht erheben. Unsere Parole war: Brennt ihnen ins Bewusstsein, dass es sich nicht lohnt zu kämpfen.«

In den drei Jahren beim Militär, sagt er, »war die Erzeugung von Unsicherheit mein Beruf«. Das bedeutete nächtliche Hausdurchsuchungen; stetig wechselnde Checkpoints, Verhaftungen ganzer Dorfgemeinschaften, Zerstörung von Häusern, laute Patrouillen mitten in der Nacht: »Niemand sollte sich sicher fühlen. Einmal wurden mit Panzern ganze Reihen von palästinensischen Autos plattgemacht. Ein andermal haben wir am Checkpoint alle Autoschlüssel einkassiert, weil jemand keine Papiere hatte. Die Unberechenbarkeit – und manchmal Sinnlosigkeit – der Maßnahmen war Absicht. Jeden kann es jederzeit treffen, das war unsere Botschaft. Und am Wochenende fragen deine Eltern zu Hause, wie es dir geht, und du sagst: ›Gut, alles klar.‹ Du willst nicht über das reden, was du in den Gebieten gemacht hast. Was sollen sie denn anfangen mit deinen Geschichten?«

Aber war der Kampf gegen den Terrorismus nicht erfolgreich? »So kann man das sehen«, sagt Noam. »Aber die Leute sollten wissen, wie teuer ihre Sicherheit erkauft wird.«

Jehuda, Dana, Michael und Noam sind weder Defätisten noch Verräter. Breaking the Silence ist ein Versuch von Exsoldaten, die Armee vor dem Missbrauch durch die Politik zu retten. Und wer die Armee retten will, der meint in Israel eigentlich das Land selbst. Pathetischer gesagt: dessen Seele, die durch die Besatzung korrumpiert zu werden droht.

Mehr als sieben Jahre liegt Jehudas Wehrdienst jetzt zurück, doch jede Woche fährt er wieder nach Hebron, oft sogar mehrmals: »Manchmal sage ich mir: Jehuda, du hast die Armee eigentlich nie verlassen. Du bist irgendwie immer noch im Dienst.«

Es begann damit, dass er zusammen mit Noam Chajut die Fotos sammelte, die sie bei ihren Einsätzen mit Handys und Digicams gemacht hatten. Bilder von palästinensischen Wohnungen, von Gefangenen, von Straßensperren. Sie zeigten die Bilder einem professionellen Fotografen, der ihnen half, eine Ausstellung in Tel Aviv zu organisieren.

Das war im Sommer 2004, wenige Monate nach Jehudas Entlassung, und der Titel lautete Breaking the Silence. Die Ausstellung war gut besucht. Die Soldaten erklärten ihre eigenen Bilder. Viele Eltern von Soldaten kamen. In der zweiten Woche tauchte auch Jehudas Vater auf. Nach dem Rundgang wandte er sich schockiert an seinen Sohn: »Jehuda, so etwas hast du getan?« Der Vater ging ohne ein weiteres Wort. Eine Woche später besuchte er Jehuda und gestand: »Ich verstehe, warum du tust, was du tust.«

Nach der Ausstellung begann Jehuda mit Freunden, Zeugenaussagen von Soldaten auf Band aufzunehmen. Sie sprachen Bekannte an, die wiederum ihre Freunde mitbrachten. Mittlerweile sind so über 800 Aussagen dokumentiert. In diesen Tagen erscheint eine Auswahl auf Deutsch: Das Buch Breaking the Silence. Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten (Econ-Verlag) enthält Berichte von Misshandlungen, gezielten Tötungen, mutwilliger Zerstörung. Aber seine Sprengkraft liegt nicht in den drastischen Schilderungen, sondern darin, dass es einen Einblick in den seelischen Zustand der Besatzer bietet.

Je mehr Zeugnisse die Veteranen sammelten, umso deutlicher zeichneten sich Muster ab, die der offiziellen Version widersprachen, dass es sich um bedauerliche Einzelfälle handelte. Es entstand das Bild einer systematischen und auf Dauer angelegten Politik der Einschüchterung und Kontrolle, die das Geflecht des alltäglichen Lebens der Palästinenser zerstört. Jehuda beschreibt seine Lernkurve so: »Wir waren mit der Haltung in die Armee gegangen, dass wir es besser machen wollten. Heute sehe ich das als Teil des Problems: die Idee, dass es eine menschliche, anständige, korrekte Besatzung geben kann, trägt dazu bei, dass alles immer so weitergeht.«

Die Veröffentlichung der Zeugnisse hat Breaking the Silence zu einem führenden Akteur der israelischen Friedensbewegung gemacht. Gegenreaktionen konnten nicht ausbleiben. Regierungsnahe Leitartikler und Thinktanks versuchen die Gruppe als Antizionisten in Diensten des Auslands zu diskreditieren, als unpatriotische Linke. In Israel scheidet die Frage, ob man Besatzung und Siedlungspolitik kritisiert oder verteidigt, Links und Rechts. Und die Linken stehen zurzeit auf verlorenem Posten. Es gibt keine Friedensverhandlungen mehr. Die Zweistaatenlösung ist zur leeren Phrase geworden. Man hat beiderseits den Glauben an einen Frieden durch Verhandlungen verloren. Die Palästinenser haben erleben müssen, dass die Siedlungen in den letzten 17 Jahren – also seit dem Oslo-Abkommen, das die Rückabwicklung der Besatzung vorsah – um das Zweieinhalbfache gewachsen sind, auf nun fast 300.000 Bewohner. Die Israelis hingegen haben zweimal erlebt, dass Rückzüge der Armee – 2000 aus dem Libanon und 2005 aus Gaza – mit einem Hagel von Raketen durch Hisbollah und Hamas beantwortet wurden.

Was nutzt es da, sich den unangenehmen Zeugnissen der Exsoldaten auszusetzen? Die »besetzten Gebiete« verschwinden mittlerweile fast vollständig hinter Mauern und Zäunen, die Terroristen draußen halten und peinliche Anblicke der palästinensischen Realität vermeiden helfen. Jehuda versucht darum neuerdings, möglichst viele Menschen in die besetzten Gebiete zu bringen, damit sie mit eigenen Augen sehen können, was Besatzung bedeutet. Breaking the Silence organisiert Touren nach Hebron, die man auf der Website buchen kann. An die 10.000 Teilnehmer waren schon dabei, ein Drittel von ihnen junge Israelis vor der Einberufung.

Der kritische Okkupationstourismus ist der Regierung nicht genehm. Anfang des Jahres wurde eine von Jehudas Hebron-Touren mit Schulkindern polizeilich verboten. Der Erziehungsminister erklärte, er wolle mit eigens organisierten Touren dafür sorgen, dass alle Schulkinder nach Hebron kommen, um ihre Verbundenheit mit der »ewigen Wiege der jüdischen Nation« zu stärken. Die Kinder werden viel über Abraham und Rachel hören, aber wenig über Extremisten wie Mosche Lewinger und Baruch Goldstein.

Die Knesset berät eine Gesetzesvorlage, die Gruppen wie Breaking the Silence von ausländischen Finanzierungsquellen abschneiden soll. Etwa die Hälfte des Etats von umgerechnet 650000 Euro erhalten die Aktivisten von europäischen Gebern – darunter kirchliche und entwicklungspolitische Stiftungen wie Misereor, aber auch die britische Botschaft und die EU-Delegation. Israels Regierung betrachtet diese Unterstützung als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes.

Jehuda nimmt das sportlich: »Irgendwas machen wir richtig, wenn die so auf uns losgehen.« Dabei sind die Veteranen mit ihrer schonungslosen Selbsterforschung die beste Werbung, die man sich für Israel und seine Armee vorstellen kann. Welches andere Land im Dauerkrieg mit seiner Umgebung leistet sich solch schneidende Selbstkritik? Undenkbar ist es nicht, dass man eines Tages in Jehudas und Danas Eigensinn eine andere Form von Patriotismus erkennt.