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Warum Deutschland für Palästinas Anerkennung stimmen sollte (aber es natürlich nicht tun wird)

Anfangs war es nur ein diplomatischer Trick, um die Palästina-Frage wieder auf die Tagesordnung zu setzen: Palästinenserpräsident Machmud Abbas hatte letztes Jahr beschlossen, die Aufnahme seines Landes in die Vereinten Nationen zu beantragen. Im letzten Herbst blitzte er erwartungsgemäß am Widerstand der USA im Sicherheitsrat ab, und die Sache schien tot.

Jetzt wird ein zweites Mal abgestimmt. Palästina will nicht mehr Vollmitglied, sondern nur noch »Beobachter« werden (wie etwa der Vatikan). Dafür braucht man nur die einfache Mehrheit der Generalversammlung, und die war stets sicher. Eine Anerkennung zweiter Klasse also? Warum dann die Aufregung? Der Aufstieg der Hamas durch den jüngsten Krieg hat alles verändert.
Es geht jetzt um mehr: In New York, auf der größten Bühne der Weltpolitik, wird der Kampf zwischen säkularen Nationalisten und Islamisten ausgetragen, zwischen Diplomatie und Gewalt, zwischen denen, die die Zweistaatenlösung wollen und denen, die von Israels Vernichtung träumen.
Deutschland findet sich dabei in der bizarren Lage, in der Generalversammlung gegen seine eigene Politik zu stimmen. Abbas strebt nämlich nichts an, was die Deutschen nicht auch wollen: zwei Staaten, verhandelte Grenzen, schiedlich geteiltes Jerusalem, begrenztes Rückkehrrecht für eine symbolische Zahl von Flüchtlingen. Er hat immer gesagt, die Anerkennung bei der Uno sei kein Ersatz für Verhandlungen mit Israel, sondern nur ein Versuch, neues Gewicht für diese Verhandlungen zu gewinnen. Und doch stand es nie zur Debatte, dass Deutschland Abbas‘ Uno-Diplomatie stützen würde. Gleich als Israel den Gang zur Uno als »einseitigen Schritt« verurteilte, schloss die Kanzlerin sich an. Je mehr andere Europäer – Franzosen, Briten, Spanier – ankündigten, Abbas zu unterstützen, um so mehr sah Deutschland sich verpflichtet, Israel die Treue zu halten. Auch um den Preis, Abbas zu düpieren – den Mann, von dem man sagt, er sei ein Partner für den Frieden.
Dabei müßte man ihn jetzt dringend stützen: Denn die Extremisten der Hamas, seine Konkurrenten im palästinensischen Bruderkampf, sind gestärkt aus dem Bombenhagel des jüngsten Gaza-Kriegs hervorgegangen. An ihnen führt kein Weg mehr vorbei, und alle wollen nun mit ihnen reden, Israel eingeschlossen, wenn auch vorerst im Geheimen. Und das obwohl die Hamas das Existenzrecht des jüdischen Staates leugnet.
Abbas und seine gemäßigte Fatah-Partei erkennen Israel an, wollen verhandeln und verhindern terroristische Anschläge von ihrem Territorium aus. Dennoch müssen sie ohnmächtig dem stetigen Wachstum der Siedlungen im Westjordanland zusehen und werden von israelischen Regierungsvertretern auch noch höhnisch für „irrelevant“ erklärt. Israel hat gar gedroht, Abbas den Geldhahn zuzudrehen, die Osloer Verträge zu kündigen und die Palästinenische Autorität aufzulösen, wenn er seine UN-Initiative durchzieht.
Dass er sich weder von Drohungen Israels, noch vom Flehen der Amerikaner und der Deutschen abbringen läßt, zeigt Abbas‘ Verzweiflung. Er steht mit dem Rücken zur Wand. Überall in der Region sind die Muslimbrüder und ihre Ableger – wie Hamas – auf dem Vormarsch. Ihr »Widerstand« mit Raketen und Anschlägen ist militärisch sinnlos, doch erfüllt er ein Bedürfnis nach Würde, während Abbas und die PA zunehmend als Kollaborateure der israelischen Besatzung erscheinen.
Abbas braucht nach dem Gaza-Krieg mehr denn je einen Erfolg. Mit der diplomatischen Aufwertung will er zeigen, dass Gewalt nicht der einzige Weg zum eigenen Staat ist. Er hofft, nach dem Votum ernster genommen zu werden und an den Verhandlungstisch zurückkehren zu können.
Das setzt voraus, dass die angedrohten drakonischen Sanktionen Israels unterbleiben. Die Bundesregierung sagt, sie konnte nicht anders stimmen, um ihren Kredit in Israel nicht zu verspielen. Sie muss diesen Kredit einsetzen, um zu verhindern, dass Abbas‹ kleiner diplomatischer Erfolg von New York nicht in einer riesigen Demütigung in Ramallah endet.

 

Wer den Gaza-Krieg gewonnen hat

Die vergangene Woche hat einige überraschende Erkenntnisse gebracht.

Erstens: Raketenabwehr funktioniert, und zwar sogar gegen unberechenbar fliegende Geschosse wie die Kassam-Raketen aus dem Gaza-Streifen. Noch besser funktioniert sie gegen größere Mittelstrecken-Raketen wie die Fadschr-Raketen iranischen Ursprungs. Und damit zeigt sich ein wenig beachteter Sinn der jüngsten Operation Israels: Die Abschreckung gegenüber dem Iran und seinen „Proxies“ Hisbollah und Hamas wiederherzustellen. Iran hat zwar öffentlich triumphiert über den „Erfolg“ der Hamas (der vor allem darin bestand, dass man immer weiter in der Lage war zu schießen, auch wenn man nichts mehr treffen konnte). Aber das nahezu perfekte Funktionieren von „Iron Dome“ ist eine schmerzliche Niederlage für Iran, das damit ohne Chance dasteht, Israel über die Terrorgruppen in seiner Nachbarschaft herauszufordern. Dies rückt auch einen Krieg gegen das iranische Atomprogramm näher in den Bereich des Machbaren.

Zweitens: Eine Muslimbruder-Regierung in Ägypten muss nicht notwendiger Weise eine Verschlechterung der Lage für Israel bringen. Im Gegenteil, mit Mursi ist erstmals wieder ein Akteur auf der Bühne, der mit beiden Seiten reden kann. Er ist genügend unter (wirtschaftlichem ) Druck, sein Land nicht zu isolieren. Er braucht die Kredite des IWF und die Milliarden der Hilfe aus den USA. Aber das ist nicht alles. Mursi muss Ägyptens strategische Interessen wahren, und die bestehen auch in einer Schwächung des iranischen Einflusses auf das Palästina-Thema. Hamas wieder in die MB-Familie zu reintegrieren und sie dem Einfluss von Damaskus und Teheran zu entziehen, ist Priorität für Ägypten. Auch deshalb, weil Unregierbarkeit in Gaza sich auf den Sinai auswirkt. Dortige Terrorgruppen arbeiten mit Teilen der Hamas zusammen, um gegen Israel vorzugehen. Sie greifen auch ägyptische Sicherheitskräfte an. Das muss aufhören, und auch darum will Mursi Hamas unter Kontrolle bringen. Israelische Kreise äußern sich erstaunlich positiv über sein bisheriges Agieren. Man ist bereit, eine Menge Rhetorik und Symbolik zu akzeptieren, solange Mursi konstruktiv bleibt. Auch hier ist der Kontrast zum Iran entscheidend: Es war von vornherein klar, dass Mursi keine Eskalation wollte, während Iran darauf setzt.

Drittens: Über Netanjahus Gründe für den Einsatz – und seine Zurückhaltung am Ende – sind eine Menge merkwürdiger   Thesen im Umlauf. Wegen der Wahlen soll er es angefangen haben. Das ergibt keinen Sinn, weil seine Wiederwahl so feststand wie nur was. Er hatte es schlicht nicht nötig. Im Gegenteil bringt eine Operation  wie diese große Risiken mit sich. Allerdings hatte die Notwendigkeit zu handeln sehr wohl etwas mit der Wahl zu tun: Es gab Druck seitens des Bevölkerung des Südens, endlich etwas gegen die hunderten Raketen zu tun. Die Hamas hatte offenbar (falsch) kalkuliert, man sei derzeit immun, eben weil Netanjahu nicht handeln würde wegen des Wahlkampfs und wegen der neuen Lage nach dem Arabischen Frühling (MB an der Macht). Man kann das Kalkül verstehen, denn entgegen seinem Image als Scharfmacher hatte Netanjahu bisher noch nie einen Befehl zu einer Militäroperation gegeben. Es war eine Premiere. Netanjahu hat sich dann entschlossen, unter großem Druck seitens der USA, keine Bodenoffensive zu machen. Er hat sicher auch das Risiko im Blick gehabt, dass dies wieder in einem PR-Fiasko enden könnte (wie „Cast Lead“ 2008)  und die Legitimität der Selbstverteidigung Israels, die diesmal nahezu unisono bekräftigt wurde, beschädigt würde. Er hat sich gegen die Invasion entschieden, obwohl ihm dies bei den Wählern schaden wird – denn viele wollten laut israelischen Umfragen, dass er Hamas diesmal den Rest gibt. Offenbar hatte er den Eindruck, dass die Ziele erreicht sind. Hamas reduziert, Iran abgeschreckt, Ägypten gewonnen.

Viertens: Auf einem anderen Blatt steht die Machtverschiebung auf der palästinensischen Seite, die durch diesen Krieg akzentuiert und beschleunigt wurde. Hamas ist die einzig relevante Kraft geworden. Abu Mazen ist „irrelevant“, wie hohe israelische Politiker mit einer gewissen Genugtuung sagen. Woher diese Genugtuung kommt, ist mir rätselhaft. Von Generälen oder Geheimdienstlern kann man dergleichen nicht hören. Sie loben die Sicherheitskooperation in der Westbank. Von dort flogen keine Raketen. Dass der Bus, der in Tel Aviv zum Glück ohne Todesopfer zerstört wurde, von Hamas-Kämpfern aus dem Westjordanland in die Luft gesprengt wurde, ist ein Omen für die Zeit nach dem Ende der PA, wenn solche Leute freie Hand haben werden. Warum es in Israels Interesse sein könnte, das auch noch zu befördern, erschließt sich mir nicht. Und hier kommen wir zum dunklen Kern des Erfolgs dieser letzten Woche: Die Stärkung der Hamas und die gleichzeitige Schwächung der Fatah um Abbas und Fajad macht eine Verhandlungslösung noch unwahrscheinlicher. Nächste Woche geht Abbas zu den Vereinten Nationen, um über den „Beobachterstatus“ für Palästina abstimmen zu lassen.Eine Lektion dieser Woche lautet, dass Bomben und Raketen mehr bringen als Gewaltverzicht, Dialogbereitschaft und das Ringen um diplomatische Anerkennung. Daraus wird nichts Gutes wachsen.

Hans Magnus Enzensberger hat den schönen Satz gesagt, es gebe Siege, die von Niederlagen schwer zu unterscheiden sind. Dies ist vielleicht so ein Fall.

 

 

 

 

Politischer Islam an der Macht – was nun?

Letzte Woche habe ich eine Debatte bei Außenpolitischen Jahrestagung der Böll-Stiftung in Berlin moderiert. Teilnehmer waren Binnaz Toprak, Istanbul (CHP), Radwan Masmoudi (CSID, Washington/Tunis), Adul Mawgoud Dardery (MP FJP, Cairo/Luxor):

 

Ein rechtsextremer Aussteiger über Einwanderung, Integration und Identität

Dann wieder ist das Internet doch eine feine Sache.

Am Freitag fand ich einen Verweis auf Facebook vor, dass sich ein gewisser Andreas Molau ausführlich mit meinem auch hier veröffentlichten Vortrag beim Berliner Integrationsforum auseinandersetzt. Herr Molau hat im letzten Jahr Aufsehen erregt, als er aus der rechtsradikalen Szene ausstieg. Er war zuletzt bei pro NRW aktiv, davor bei der DVU, und davor viele Jahre ein wichtiger Kopf der NPD. Seit er sich mithilfe eines Ausstiegsprogramms des Niedersächsischen Verfassungsschutzes aus der Szene abgesetzt hat, versucht Andreas Molau offenbar, sich auch politisch-geistig neu zu orientieren. Ein interessanter Vorgang. Ich kann nicht beurteilen, wie authentisch und ernsthaft Molaus Nachdenken über die Szene ist, aber seine Einlassungen zu meinem Artikel sind teilweise sehr bedenkenswert. Ich kann mir schwer vorstellen, wie es ist, sein halbes Erwachsenenleben in diesen Zirkeln zu verbringen und dann neu anzufangen. (Leute mit linksradikaler Vergangenheit wären da vielleicht näher dran.)

Zitat aus dem Artikel:

Als „Rechter“ war die Logik für mich klar und holzhammermäßig: Entweder „die“ passen sich an – und damit ist am Ende eher Assimilation gemeint –, oder sie verlassen eben das Land. In der extremeren Form rechter Ideologie, die rein biologistisch argumentiert, geht man noch einen Schritt weiter: Anpassungsbemühungen seien gar nicht notwendig, denn jeder, der fremd ist, sollte ohnehin in seine Heimat zurückkehren. Diese Position hat kaum vermittelnde Potenziale. Aber sie ist auch so abstrus, dass sie in einer offenen Debatte leicht widerlegt werden könnte.

Die so genannten Islamisierungskritiker erscheinen auf den ersten Blick erst einmal als gemäßigter im Gegensatz zu den klassischen NS-Freaks. Das war für mich auch der Grund, auf meinem Weg in den Ausstieg, es noch einmal mit der PRO BEWEGUNG zu versuchen. Im Gegensatz zur NPD ist der geistige Bezugspunkt solcher Bewegungen, ob es sich nun um die FREIHEIT handelt, PRO NRW oder pro Deutschland, nicht das Dritte Reich. Im Gegenteil, man sei antitotalitär, so die Außendarstellung, weil man sich gegen eine totalitäre Ideologie stelle, den Islam. Außerdem stehe man für die Bewahrung der Identität. Im Gegensatz zu Lau, der von einer Identität nichts wissen will, bin ich schon der Überzeugung, dass jeder Mensch mit sich selbst identisch sein muss – jedenfalls über Phasen – und dass auch Gruppenidentitäten an sich nichts Schlechtes sind, jedenfalls, wenn sie sich nicht zu stark ins Absolute hineinsteigern.

Letztlich musste ich aber feststellen, dass der politische Beitrag der „Rechtspopulisten“, um im Bild Laus zu bleiben, die Atmosphäre doch nur vergiftet und nichts, aber auch gar nichts an den Problemen im Land löst. Ich denke schon, dass sich auch Muslime kritische Fragen zu ihrem Glauben gefallen lassen müssen (dem Islam kann man ebenso wenig eine Frage stellen wie dem Christentum). Ebenso wenig hilft es, kritische Fragen über die Folgen der Einwanderung einfach auszuklammern oder noch schlimmer zu tabuisieren. Am Ende seines Textes attestiert Lau, dass es nicht gemütlich sei in Einwanderungsländern – sie seien auf allen Seiten voller Konflikte und Ressentiments –, „Ängste und Vorbehalte, Konflikte und Ressentiments darf man nicht wegdrücken, weil sie ,der falschen Seite‘ nutzen.“ Insofern kann man den Islamkritikern nicht sagen, sie dürften diese oder jene Frage nicht stellen.

Diese Frageverbote sorgen meiner Erfahrung nach am Ende sogar noch mehr für eine Verfestigung der extremen Positionen als für deren Aufweichung. Die Frage ist eben nur, welche Antworten man findet. Als Islamkritiker kennt man eine ganze Reihe von merkwürdigen Koranversen (die es aus unserer Sicht des 21. Jahrhunderts in der Bibel auch gibt), die die angebliche totalitäre Ideologie, die sich hinter der Religion verbergen solle, belegen sollen. Aber man kennt, und auch das ist meine Erfahrung, keinen Gläubigen persönlich. Diese selektive Wahrnehmung ist konstituierend für das Feindbild Islam. Und so sorgt der gesellschaftliche Ausschluss der Islamkritiker, dafür, dass man diese selektive Wahrnehmung gar nicht mit der Wirklichkeit abgleichen muss. Der Dialog ist also nicht nur vergiftet, es findet eigentlich gar keiner statt. Der ist nämlich beendet, wenn der amtliche Stempel „Rechtsextremist“ auf der Stirn prangt. Das ist schade, denn das Konfliktpotential wird sich so immer weiter verschärfen. Stattdessen sollte man auf jede Frage eingehen, die im Raume steht.

Bedroht „der Islam“ unsere Freiheit und unsere Identität? Freiheit und Identität sind für mich wichtige Begriffe, die aber weder von der NPD noch von PRO oder PI-News verteidigt werden. Neuerdings gibt es „identitäre Gruppen“, die sich mit Masken verhüllen und in gezielten Störaktionen die „multikulturelle Gesellschaft“ bekämpfen wollen. Wenn man sich so ein Aktionsfilmchen anschaut, dann ist man genauso ratlos wie nach den Demonstrationsberichten von PRO NRW oder pro Deutschland. Wo ist da etwas von der „deutschen Identität“ zu spüren? Welche politische Konsequenz soll man denn aus den Forderungen, eine Moschee nicht zu bauen oder der Kampfansage an die „multikulturelle Gesellschaft“  ziehen? Kein Mensch hindert die Islamkritiker, ihre Werte darzustellen und vor allem zu leben. Innerhalb dieser Szene habe ich davon aber in den zwei Jahren meiner Tätigkeit nichts bemerkt.

Es ist sicher so, dass es in Saudi Arabien nicht möglich ist, als Christ bekenntnisoffen zu leben. Das bedeutet für mich, dass ich dort sicher nicht meinen Wohnsitz aufschlagen möchte. Es mag auch so sein, dass es in Deutschland Menschen gibt, denen so eine Gesellschaftsordnung vorschwebt. Mit Sicherheit kann man die Freiheit aber nicht verteidigen, wenn man sie abwürgt und Andersgläubigen das Recht auf ein aktives religiöses Leben zu nehmen versucht. Denn weder ist die islamkritische Szene bereit, die Dinge differenziert zu betrachten, noch sind weite Teile ehrlich. Denn ihnen geht es im Kern nur darum, wie der NPD, einen ethnisch oder zumindest kulturell homogenen Staat schaffen zu wollen, in dem jede Art von Anderssein als Bedrohung empfunden wird.

Ich glaube, dass Molau mich falsch versteht, was den „deutschen Selbsthass“ angeht oder die Notwendigkeit einer Identität. Dazu habe ich vor vielen Jahren mal einen Versuch gemacht, der vielleicht deutlicher zeigt, wie ich es sehe: eine de facto multikulturelle Gesellschaft braucht eine Leitkultur, allerdings eine offene, variable, verhandlungsbereite.

Was den Patriotismus angeht, halte ich es mit dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty:

 „Nationalstolz ist für ein Land dasselbe wie Selbstachtung für den einzelnen: eine notwendige Bedingung der Selbstvervollkommnung. Zuviel Nationalstolz kann Aggressivität und Imperialismus erzeugen, genau wie übermäßiges Selbstgefühl zu Überheblichkeit führen kann. Doch zuwenig Selbstachtung kann den einzelnen daran hindern, moralischen Mut zu zeigen, und ebenso kann mangelnder Nationalstolz eine energische und wirkungsvolle Diskussion über die nationale Politik vereiteln. Eine Gefühlsbindung an das eigene Land – daß Abschnitte seiner Geschichte und die heutige Politik intensive Gefühle der Scham oder glühenden Stolz hervorrufen – ist notwendig, wenn das politische Denken phantasievoll und fruchtbar sein soll. Und dazu kommt es wohl nur, wenn der Stolz die Scham überwiegt […] Wer eine Nation dazu bringen möchte, sich anzustrengen, muß ihr vorhalten, worauf sie stolz sein kann und wessen sie sich schämen sollte. Er muß etwas Anfeuerndes über Episoden und Figuren aus ihrer Vergangenheit sagen, denen sie treu bleiben sollte. Einer Nation müssen Künstler und Intellektuelle Bilder und Geschichten über ihre Vergangenheit erschaffen. Der Wettbewerb um politische Führungspositionen ist zum Teil ein Wettbewerb zwischen verschiedenen Vorstellungen von der Identität der Nation und verschiedenen Symbolen ihrer Größe.“

Hier das Schlussplädoyer aus meinem Essay, mit dem vielleicht auch Andreas Molau etwas anfangen kann:

Nicht nur die Rot-Grünen, sondern auch die Konservativen durchlaufen im Rahmen der Patriotismusdebatte einen Lernprozeß. Denn nicht nur der naive Multikulturalismus mancher Linken ist gescheitert, die sich Integration als einen Selbstläufer vorstellten. Wir zahlen auch einen hohen Preis dafür, daß die Konservativen ausdauernd abgestritten haben, daß Einwanderung längst Realität ist. Beide Versionen deutscher Wirklichkeitsverleugnung sind am Ende.

Eine demokratische, republikanische Leitkultur ist kein Gegensatz zur multikulturellen Gesellschaft, sondern die Voraussetzung ihres Funktionierens. Eine weltoffene Leitkultur kann den gemeinsamen Bezugspunkt für eine Gesellschaft bereitstellen, die ihre kulturelle Vielfalt als Bereicherung zu erkennen lernt, ohne dabei in Werterelativismus abzugleiten. Ihr Kanon muß immer wieder neu verhandelt werden, auch mit den jeweiligen Neuankömmlingen. Der Patriotismus der Berliner Republik darf, wenn er wirklich als „notwendige Bedingung zur Selbstvervollkommnung“ funktionieren soll, weder autoritär drohend noch biedermeierlich selbstzufrieden auftreten. Sonst kann er kein Gefäß für eine großherzige, inklusive, weltoffene Haltung sein. Aus demselben Grund – allerdings eigentlich schon aus Höflichkeit – verbietet sich der Rückfall in den nationalen Negativismus, diese Überwinterungsform des deutschen Größenwahns. Unser Selbstvervollkommnungspatriotismus muß Leit- mit Streitkultur verbinden und Selbstbewußtsein mit Ironie. Und damit die Sache nicht nur für uns selber, sondern auch für unsere Nachbarn und Neubürger attraktiv wird, wäre vielleicht ein bißchen Coolness nicht schlecht.

 

Das Ende des Konservatismus durch demographischen Wandel?

Im Anschluss an meinen Post über Obamas Dankesrede möchte ich eine Denksportaufgabe formulieren, vor der nicht nur die amerikanische Republikanische Partei steht – sondern auch die deutschen Christdemokraten, insofern sie sich überhaupt noch als „Konservative“ verstehen. Und das sind in der Wählerschaft immer noch viele, und auch unter den Protagonisten gibt es einige: Thomas de Maizière, Peter Altmaier, Volker Kauder zum Beispiel (jeder auf seine Art).

Wenn man sich auf die klügste mir bekannte Definition des Konservativen einigt, auf die 10 Prinzipien, die Russell Kirk formuliert hat, dann stellt sich die Frage, wie eine konservative Partei auf den demographischen Wandel reagieren und neue Mehrheiten aufbauen kann. Oder anders gefragt: Ob es eine mehrheitsfähige konservative Politik in einer unwiderruflich pluralistischeren, diversifizierten, multikulturellen Gesellschaft geben kann? Kann es eine konservative Regenbogenkoalition geben? Oder droht mit dem Wandel der Gesellschaft die Marginalisierung des organisierten Konservatismus und die permanente Mehrheit links der Mitte?

 

Hier die 10 Prinzipien Kirks – das sind aber nur die Überschriften. (Bitte den gesamten oben verlinkten Text lesen!)

First, the conservative believes that there exists an enduring moral order. That order is made for man, and man is made for it: human nature is a constant, and moral truths are permanent.

Second, the conservative adheres to custom, convention, and continuity.

Third, conservatives believe in what may be called the principle of prescription.

Fourth, conservatives are guided by their principle of prudence.

Fifth, conservatives pay attention to the principle of variety. 

Sixth, conservatives are chastened by their principle of imperfectability.

Seventh, conservatives are persuaded that freedom and property are closely linked.

Eighth, conservatives uphold voluntary community, quite as they oppose involuntary collectivism.

Ninth, the conservative perceives the need for prudent restraints upon power and upon human passions.

Tenth, the thinking conservative understands that permanence and change must be recognized and reconciled in a vigorous society.

Für die deutsche Christdemokratie stellt sich die gleich Frage wie für die Republikaner, obwohl Schwarzgelb noch regiert. Der Verlust der Städte, in denen die CDU einst stark, ja unanfechtbar war, ist das Krisensymptom, das zu denken geben muss, ob zukunftsfähige Koalitionen machbar bleiben.

Ich bitte um Beiträge, Anregungen, Ideen!

 

„You can make it here“

Ein wesentlicher Aspekt des Wahlsiegs ist die sich ändernde Demographie Amerikas. Wer darauf die richtigen Antworten findet, hat große Chancen das Land zu führen. Wer sich in Angst und Abwehr einmauert, wird dieses Land nicht regieren. (Das ist keine Frage von Rechts und Links: George W. Bush hatte bei den Latinos große Sympathien, weil er immerhin versucht hat, eine Einwanderungsreform zu machen, die Illegalen eine Chance auf Bürgerstatus eröffnet.)

Glaubt irgendjemand, dass in Deutschland nicht Ähnliches gilt? Aber wir haben noch keine Politiker, die den richtigen Ton für die Einwanderungsgesellschaft finden.

Das ging mir durch den Kopf, als ich diese Sätze aus Obamas Siegesrede hörte:

„What makes America exceptional are the bonds that hold together the most diverse nation on earth. The belief that our destiny is shared; that this country only works when we accept certain obligations to one another and to future generations. The freedom which so many Americans have fought for and died for come with responsibilities as well as rights. And among those are love and charity and duty and patriotism. That’s what makes America great. (…) I believe we can keep the promise of our founders, the idea that if you’re willing to work hard, it doesn’t matter who you are or where you come from or what you look like or who you love. It doesn’t matter whether you’re black or white or Hispanic or Asian or Native American or young or old or rich or poor, able, disabled, gay or straight, you can make it here in America if you’re willing to try.“

 

Kein Döner-Land in dieser Zeit

Werte Gemeinde, heute gibt es für Berliner Gelegenheit, unseren Mitblogger Cem Gülay mit seinem neuen Buch live zu erleben:

CEM GÜLAY & HAMED ABDEL-SAMAD & HANS RATH: KEIN DÖNER-LAND

„Kurze Interviews mit fiesen Migranten“ – Lesung + Diskussion

Mit seiner Autobiografie „Türken-Sam“ ist Cem Gülay
aufgrund seiner Auftritte und Lesungen zu einer Art
literarischem Sozialarbeiter geworden, mit dem alle
reden, Jugendliche und Erwachsene, Migranten und
„Bio-Deutsche“.
Daraus entsteht ein scharfes, manchmal satirisch
gefärbtes Bild vom Stand der Dinge nach Sarrazin.
Viel Kommunikation fand im Internet statt, politisch
korrekt und politisch unkorrekt. Auf der Seite PI
(www.pi-news.net) gab es 327 Kommentare zu Gülay,
von „Stoppt Tierversuche! Nehmt Türken!“ bis zu –
„Thilo sei Dank – anatolisches Inzuchtmännchen“.

Die Parallelwelten kann man nicht auflösen, man kann sie
nur ausdünnen. Zuerst muss man mal genau hinsehen.
Das gilt nicht nur für den Verfassungsschutz.

Präsentiert von: Hugendubel am Hermannplatz

EINTRITT
8 €

TICKETS
Tickethotline 030. 61 10 13 13

VVK im Heimathafen Neukölln Büro | Karl-Marx-Straße 141, Vorderhaus, 3. Stock
Infos 030. 56 82 13 33

VVK ohne Gebühr für ausgewählte Veranstaltungen im Heimathafen
Hugendubel am Hermannplatz | Mo. bis Sa. von 10 bis 20 Uhr

 

Wie Nasser einmal einen Witz über die Muslimbrüder machte

Dieses Video ist sehr erhellend über den Wandel in Ägypten. Gamal Abdul Nasser erzählt hier, dass er mit den Muslimbrüdern einmal habe zusammenarbeiten wollen, „um sie auf den rechten Weg zu bringen“. Die erste Forderung des Führers sei gewesen, das Kopftuch zwingend einzuführen. Daraufhin lacht SPONTAN das Publikum. Kann man sich etwas Absurderes vorstellen! Die Frauen unters Kopftuch zwingen! Einer ruft gar: Soll er es doch selber tragen!
Dann kommt Nassers trockene Pointe: Er habe dem Führer der MB geantwortet: Haben Sie nicht eine Tochter, die Medizin studiert? Die trägt aber nicht Kopftuch! (Gelächter, abermals) Und wenn es nicht möglich ist, eine Frau unters Kopftuch zu zwingen, wie soll ich dann 10 Millionen Ägypterinnen dazu zwingen? (Gelächter).
Gut gegeben. Aber gewonnen hat die MB. Heute gibt es in Ägypten so gut wie keine Frau mehr ohne Kopftuch. Es sei denn, sie ist eine sehr mutige Christin, oder sehr privilegierte Frau, die sich zu schützen weiß und die Straße meidet. Und alles selbstverständlich völlig freiwillig.
Wer sich trauen würde, in Ägypten öffentlich über die MB in dieser Weise zu scherzen wie es Nasser tut, müsste hingegen mit einem Blasphemieprozess rechnen.

 

Ein koptischer Bischof will Ägypten verändern

Die letzte Woche habe ich in Ägypten verbracht, in Begleitung des Koptisch-Orthodoxen Bischofs Anba Damian, der für die ägyptischen Christen in Deutschland zuständig ist. Bischof Damian war wegen der Papstwahl in seinem Heimatland, ich konnte die Synode am letzten Montag aus nächster Nähe erleben. Die Reise war Teil einer Langzeitrecherche über Christen im Nahen Osten. Ein Dossier zum Thema soll Ende November in der ZEIT erscheinen. Von meinen Eindrücken kann ich darum hier vieles leider nicht vorab teilen. 

Eine Begegnung aber, die durch Bischof Damian möglich wurde, hat mich sehr bewegt, und über sie will ich einiges mitteilen. Wir trafen Bischof Thomas, einen Freund von Anba Damian, in seinem Projekt namens „Anafora“ 120 Kilometer nördlich von Kairo. Dort hat er mir seine Geschichte erzählt und seinen Eindruck von der Lage der Kopten geschildert. Anders als viele eher vorsichtige und diplomatische Kirchenmänner ist Bischof Thomas ein Freund deutlicher Worte. 

Der Bischof sagt, Ägypten brauche „weniger Religion“. „Die Religion erstickt uns in diesem Land.“ Das ist nicht die einzige erstaunliche Aussage dieses freien Kopfes.

Bischof Thomas wurde 1957 in Kairo geboren, in einer der reichen koptischen Familien. Seine Großmutter war berühmt für ihre Mildtätigkeit. Im Haus der Familie richtete sie eine Suppenküche für die Armen ein. Jeden Tag wurden die Armen an einem besonderen Hintereingang gespeist. Als Thomas 9 Jahre alt war, kam er in Konflikt mit der Großmutter. Er wollte die Armen ins Haus lassen, um sie dort zu speisen. Als die Großmutter insistierte, dass sie nur in der Suppenküche essen durften, begann der Junge, demonstrativ und aus Protest mit den Armen zu essen. Dort traf er einen Mann, der über der traditionellen Jallabia ein teures, aber schmutziges Jackett trug. Er roch schlecht und war sehr schüchtern, er hatte einen weißen Bart. Der Junge kam mit dem Mann, der Gawardy hieß, ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass Gawardy ein sehr belesener Mann war. Er trug immer ein Buch unter seinem Jackett mit sich herum. „Du mußt mehr lernen“, sagt er dem Jungen. Der Junge drängte seine Familie, den weisen Mann zu treffen. Doch die Großmutter insistierte: „Wir geben ihm, was er braucht, aber er kommt mir nicht ins Haus.“ Gawardy führte den jungen Thomas zu den Antiquaren in der Nähe der Kairoer Oper und zeigte ihm die Welt der Bücher. Von seinem Taschengeld konnte er sich hier eine ganze Bibliothek zusammenkaufen. „Gawardy, dieser stinkende arme Schlucker, hat mir ein ganzes Universum erschlossen.“

Anba Thomas, Bischof der Koptischen Kirche in Oberägypten    Foto: J.Lau


Eines Tages kam Gawardy nicht mehr zur Armenspeisung. Eine Woche suchte der Junge nach ihm, zunehmend verzweifelt, bis er in einer Kirchengemeinde einen Priester fand, der sich einen Mann in Jellabia und Jackett erinnerte: „Er ist tot, wir haben ihn vor zwei Tagen beerdigt. Keiner hat nach ihm gefragt. Er hatte wohl niemanden.“
Bis heute, sagt Bischof Thomas, der damals 11 war, „suche ich nach Gawardy.“ Mit seiner Großmutter hat er sich eines Tages versöhnt, „nicht aber mit der ungerechten ägytpischen Gesellschaft“. Er ist Bischof geworden, um – bildlich gesprochen – die Gawardys ins Haus zu bringen.
Er hat als Bischof ein eigenes Haus geschaffen, um dies zu tun. Es heißt „Anafora“ und liegt 120 Kilometer nördlich von Kairo auf dem Weg nach Alexandria. Eigentlich ist es eine Farm, ein Konferenzzentrum, ein Hotel und ein Kloster zugleich.
Er wollte ursprünglich nicht in der Öffentlichkeit wirken. Das Mönchsleben  war seine Sehnsucht, als er in die Kirche eintrat. Der Papst aber schickte ihn als jungen Priester zur Mission nach Kenia. Immer wieder schickte er Bittbriefe an das Patriarchat, er wolle in sein Kloster zurückkehren. Dann, 1988, kam die Order, sofort nach Kairo zurückzukehren. Statt der erhofften Rückkehr ins Kloster eröffnete der Papst ihm seine Absicht, ihn zum Bischof zu weihen.

Für den erst 31jährigen Thomas war das ein Schock, denn der weg zurück ins Mönchsleben war damit verschlossen. Er wurde nach Oberägypten geschickt, wo die meisten Kopten als arme, ungebildete und unterdrückte Landbevölkerung leben: „Als Bischof wollte ich die stützende Hand sein, die die Menschen aufrichtet, nicht die hand, die von oben herab herrscht.“ In Oberägypten habe er schnell gelernt, dass die Menschen nicht nur Nahrung und Kleidung brauchen, sondern vor allem Bildung. Er begann mit der Gründung von Schulen und Kindergärten.

Nach einer Weile wurde ihm deutlich, dass man den Menschen eine Chance geben musste, aus ihrem Umfeld zu entkommen, damit sie sie sich nachhaltig verändern konnten. So kaufte er mit Spendengeldern das Land – ein Stück Wüste an der Autobahn nach Alexandria-, wo dann nach und nach „Anafora“ entstand. In Oliven- und Palmenhainen, Mango- und Kartoffelfeldern lernen die Schüler aus Oberägypten moderne landwirtschaftliche Methoden. In der Küche und im Gastbereich können sie Fähigkeiten für den Broterwerb jenseits der Landwirtschaft erlernen. Ebenso wichtig wie diese Fähigkeiten ist aber die Erfahrung einer würdigen Behandlung. Die „Gawardys“ treffen hier auf reiche Leute, die nach Anafora kommen um sich zu erholen.

Bischof Thomas in seinem Zentrum „Anafora“      Foto: J. Lau

 

Der Bischof lehrt sie, zu den Reichen nicht aufzuschauen, sondern sich als gleichwertige Menschen zu benehmen. „Wir lehren übrigens auch die Frauen hier, dass sie den Männern gleichgestellt sind.“ Wenn sie mit dieser Einstellung zurück auf die Dörfer gehen, wo sie weder ihren Vätern noch ihren Brüdern widersprechen dürfen, finden sie dort Mentoren vor, die ihnen helfen, sich nicht wieder einschüchtern zu lassen.

Die ägyptische Gesellschaft, sagt der Bischof, brauche drei Transformationen: von der Hierarchie zur Gemeinschaft, von der Geschlechterunterdrückung zur Gleichheit, von der religiösen Rigidität zur offenen Spiritualität. „Es ist vielleicht ungewöhnlich, wenn ich das als Bischof sage, aber ich wünsche mir weniger öffentliche Religion in unserem Land. Alles wird hier zur religiösen Angelegenheit, selbst die Luft die wir atmen und das Wasser das wir trinken. Auch das Geld ist zur religiösen Sache geworden. Die Religion legt sich über alles, so dass das Land darunter erstickt. Ich bin ein Bischof, aber ich lehne es ab, alles in religöse Schubalden einzusortieren.“
Bischof Thomas war anfangs begeistert von der Revolution. Er hat das Regime Mubaraks immer verachtet und auch offen kritisiert. Er hatte die Hoffnung, dass Ägypten sich mit der Revolte der jungen Leute wieder zur Welt öffnet, dass „Ägypten wieder kosmopolitisch wird, wie es Alexandria zu seinen besten Zeiten einmal war. Und das ist auch immer noch möglich.“ Die Menschen, sagt er, haben einen Moment der Freheit erlebt, ihre Stimme zählte plötzlich, die Verjagung Mubaraks war ein Augenblick der Würde. Die an der Revolte beteiligten Christen kamen den liberalen Muslimen sehr nah während dieser Zeit.

Um so größer war der Schock darüber, dass die konservativen islamistischen Gruppen wie die Muslimbrüder und die Salafisten die Macht übernehmen konnten. Nun macht die Angst die Runde, dass die immer schon vorhandene versteckte Diskriminierung zu einer offenen Unterdrückung wird. Angst ist schlecht für die Demokratie, meint der Bischof, weil „die Hälfte der Demokratie daraus besteht, aus freien Stücken nein sagen zu können.“

Zweifellos werde das Land nun weiter islamisiert werden, und die Kopten gerieten dadurch in eine generelle Atmosphäre des Drucks. Für die Opfer der Anschläge von Nag Hammadi, Alexandria und Maspero hat es bis heute keine Anerkennung und keine Gerehtigkeit gegeben. Das nährt vor allem bei gut ausgebildeten und vernetzten Eliten das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und den Wunsch nach Auswanderung. „Unsere Elite verläßt das Land, wie sehr ich auch dagegen rede und dage, sie sollen hier bleiben und kämpfen.“ Die Revoluion war ein Vorgeschmack der Freiheit, aber die Demokratie muss noch errungen werden. „Demokratie ist nicht einfach die Herrschaft der Mehrheit. Eine Mehrheit, die der Minderheit keinen Raum lässt, sich frei zu entfalten, ist nicht demokratisch. Demokratie funktioniert nur, wenn jeder Mensch die Verantwortung akzeptiert, den anderen diesen Raum offen zu halten, den sie brauchen.“
Die Zukunft der Kopten sieht der Bischof nicht in Minderheitenrechten: „Wir müssen für allgemeine Rechte kämpfen. Ich bin zuerst Mensch und dann Kopte. Eine Minderheit kann nicht ohne die Mehrheit überleben. Manchem liberalen Moslem fühle ich mich näher als einem verbohrten Christen. Wir müssen mit den liberalen Gruppen zusammenarbeiten, um für einen säkularen Staat zu kämpfen, der Religionsfreiheit für alle garantiert – und das heißt auch Freiheit von der Religion für diejenigen, die nichts damit zu tun haben wollen. Es ist mir ein Ärgernis, dass in meinem ägyptischen Pass steht, dass ich Christ bin. Das hat dort nichts zu suchen. Wir wollen keinen religiösen Staat, nicht einmal einen christlichen. Alle religiösen Staaten der Geschichte sind gescheitert. Wenn es in die andere Richtung geht, und die Scharia mehr Einfluss auf die Gesetze bekommt, wird das zu noch mehr Segregation und weniger Gemeinsamkeit in Ägypten führen. Die fortschreitende Islamisierung und Arabisierung unserer Gesellschaft ist gefährlich. Ägypten muss eine säkulare Gesellschaft werden, weil das allen Bürgern erlaubt, zu wachsen und sich zu entwickeln, wenn sie wollen, auch spirituell.“
Im Jahr 2009 hatte der Bischof diese Vorstellungen in einem Vortrag in den USA bereits geäußert. Danach erschienen Dutzende Artikel, in denen er zum Verräter erklärt wurde. Man drohte ihm seine Staatsangehörigkeit zu entziehen, und er erhielt auch Todesdrohungen. Er ist aber immer noch da und nimmt kein Wort zurück. Er glaubt, dass für Ägyptens Christen harte Zeiten kommen, weil die Islamisten nun am Drücker sind. Aber den Moment der Freiheit und das Erlebnis der Würde kann man den Leuten nicht mehr nehmen: „Ich warte auf die zweite Phase der Revolution, in der die Menschen wirklich Besitz von ihrem eigenen Land ergreifen.“