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Warum sich Israels Lage im postamerikanischen Nahen Osten verbessert hat

 

Am Dienstag hatte ich Gelegenheit, mit Generalmajor a.D. Amos Yadlin zu sprechen. Er leitet Israels bedeutendsten Thinktank INSS. Yadlin war Kampfpilot in der israelischen Luftwaffe. Er gehörte zu dem Team, das 1981 den irakischen Atomreaktor Osirak zerstörte. Später diente Yadlin unter anderem als Chef des Militärgeheimdienstes. Im letzten Wahlkampf trat er als Schatten-Verteidigungsminister im (unterlegenen) Lager des Labour-Kandidaten Isaac Herzog an.

DIE ZEIT: General Yadlin, es tobt seit Jahren Bürgerkrieg in Syrien, nun zunehmend unter globaler Beteiligung, es gibt eine russische Intervention, türkisch-russische Spannungen, und der Islamische Staat macht sich in zwei zerfallenen Staaten ihrer Nachbarschaft breit. Erleben wir heute in Israels Region die ersten Momente eines postamerikanischen Nahen Ostens?

AMOS YADLIN: Zu einem gewissen Grad ist das wohl so. Und dies hat drei Gründe. Erstens ist Amerika nahezu energieunabhängig geworden und wendet sich darum tendenziell ab. Zweitens geschieht dies auch wegen des Traumas zweier verlorener, sinnloser Kriege, die ihre Ziele nicht erreicht haben. Drittens befördert die politische Philosophie des derzeitigen US-Präsidenten diese Entwicklung, der mehr an Diplomatie glaubt als an die härteren Werkzeuge der Politik. Diese Faktoren bewirken, dass Amerikas Führungsrolle nicht mehr so stark wahrgenommen wird. Dennoch: in etwas mehr als einem Jahr wird sich das vielleicht wieder ändern durch einen neuen Präsidenten oder eine Präsidentin.

ZEIT: Kann man diese Entwicklung denn einfach zurückdrehen?

Yadlin: Seit dem Beginn des Arabischen Frühlings gibt es in der Region die Wahrnehmung, dass man sich auf Amerika nicht mehr verlassen könne. Dies kommt in der Redewendung zum Ausdruck, Obama habe Mubarak den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Aber ich halte das für eine Übertreibung. Wenn ich nach vorne schaue, sehe ich keinen dramatischen Rückzug Amerikas. Denn auch wenn Amerikas Energieversorgung einmal vollständig unabhängig vom Öl der Region werden sollte, wird der Ölpreis doch weiterhin im Nahen Osten entschieden.

ZEIT: Wenn Sie die letzten 15 Jahre Revue passieren lassen, dann war da eine Bush-Regierung, die allerdings einen sehr klaren Führungsanspruch in der Region hatte, die sogar den ganzen Nahen Osten im Sinne von Freiheit und Demokratie umkrempeln wollte. Dann kam Obama, der die Kriege beenden und sich generell mehr Asien zuwenden wollte. Nach je zwei Amtszeiten Bush und Obama scheint das Chaos perfekt. Welcher Ansatz hat mehr zur Destabilisierung der Region beigetragen?

Yadlin: Sehen Sie, die viel beschworene „Wendung nach Asien“ ist gar nicht so einfach. Mag sein, dass der Westen sich nicht mehr so für den Nahen Osten interessiert. Der Nahe Osten interessiert sich aber für euch, wie man gerade in Paris und San Bernardino gesehen hat. Die Quelle des Terrorismus, der Flüchtlingswellen, der Instabilität im internationalen System ist unglücklicher Weise weiterhin unsere Region. Bush oder Obama: Beide Extreme sind nicht wünschenswert. George W. Bush hat überreagiert. Sein Krieg in Afghanistan war zwar gerechtfertigt, der Krieg im Irak aber war ein kolossaler Fehler. Doch was wir heute an amerikanischer Nicht-Politik in Syrien, in Libyen, im Jemen und im Irak erleben, ist auch sehr schädlich. Nichthandeln und Rückzug können ebenso zerstörerisch wirken. Die Kunst der Strategie besteht darin zu wissen, wann man jeweils harte und weiche Machtmittel einsetzen muss.

ZEIT: Und wie erkennt man das?

Yadlin: Die goldene Regel besteht darin, sich nur dann auf eine militärische Kampagne einzulassen, wenn die Sache gerechtfertigt ist, wenn sie im nationalen Interesse liegt, wenn sie mit verhältnismäßigen Mitteln erreicht werden kann und wenn es eine Exit-Strategie gibt. Ich gehörte zu den wenigen in Israel und darüber hinaus, die schon 2011 dazu aufgerufen haben, Assad auch mit militärischen Mitteln von der Macht zu vertreiben. Wenn die USA damals mit ihren Alliierten in der Region gehandelt hätten, wäre es möglich gewesen, einer Viertelmillion Menschen den Tod und vielen Millionen die Flucht zu ersparen. Davon bin ich überzeugt.

ZEIT: Es gibt heute viele, die Assad für die weniger schlimme Alternative gegenüber dem IS halten? Gewissermaßen: Besser mit dem Teufel leben, den wir kennen. Sie glauben das nicht?

Yadlin: Das ist grundfalsch. Wer hat den IS geschaffen? Das war zu einem erheblichen Teil Assad, indem er die Sunniten abgeschlachtet hat. Weil die Sunniten in Syrien wie schon zuvor im Irak alleine gelassen wurden, wandten sie sich dem IS zu. Übrigens: Wieviele Menschen sind durch den IS getötet wurden, und wieviele durch Assad? Das Verhältnis liegt ungefähr Eins zu Hundert. Ja, der IS tut es auf eine besonders schreckliche Weise und ist sehr gut darin, im Web mit seinen Grausamkeiten Propaganda zu machen. Assad hingegen macht keine Videos von seinen Massakern. Aber er ist viel schlimmer. Die Lösung in Syrien kann nur darin bestehen, dass wir beide Seiten bekämpfen. Der Westen zögert aus gutem Grund, Bodentruppen zu stellen, aber sie werden benötigt. Wir werden den IS nie los, wenn wir den Sunniten kein Angebot machen, in einer Koalition gegen den IS zu kämpfen. Bodentruppen müssen aus sunnitischen Ländern kommen. Das wird aber nie geschehen, wenn wir einen Deal mit Assad machen und es keine Perspektive gibt, dass er von der Macht verschwindet.

ZEIT: Wie hat Russlands Eingreifen die Lage verändert? Ein Ziel Putins scheint doch zu sein, Assads Macht zu sichern?

Yadlin: Assad behauptet, er kämpfe gegen den Terrorismus, aber bisher geht er nicht wirklich gegen den IS vor, sondern vor allem gegen die anderen Aufständischen – von den Moderaten der Freien Syrischen Armee bis zu den Dschihadisten der Al-Nusra-Front. So haben es auch die Russen anfangs gehalten, bis dann das Flugzeug mit russischen Touristen einem Bombenanschlag zum Opfer fiel. Sie haben bis dahin etwa 10 Prozent ihrer Angriffe gegen den IS gerichtet, nun ist es etwa die Hälfte. Die russische Intervention in meinen Augen ist eine negative Entwicklung, denn ich will, dass Assad besiegt wird. Nicht durch den IS, sondern durch andere Kräfte.

ZEIT: Ändern die Attentate auf das russische Flugzeug und in Paris etwas an der russischen Haltung?

Yadlin: Vielleicht bin ich da zu optimistisch, aber ich hoffe auf die Einsicht der Russen. Zwei Monate nach dem Beginn des russischen Engagements zeigt sich, dass der Syrien-Einsatz einen hohen Preis hat. Die Russen verstehen langsam, dass man Assad irgendwann loswerden muss. Nicht sein Regime in toto. Aber sie sind meines Erachtens bereit, eine Zukunft für Syrien zu erwägen, in der einige Elemente des Regimes bleiben können – schon um zu garantieren, dass die Alawiten nicht abgeschlachtet werden. Auch die westlich geführte Koalition wird in Syrien den Sicherheitsapparat des Regimes nicht vollständig auflösen wollen, weil sich das im Irak schon als fataler Fehler erwiesen hat.

ZEIT: Sie glauben, den Russen sei ihr Einfluß in der Region am Ende wichtiger als Assad?

Yadlin: Schauen sie, Russland zahlt schon jetzt einen bitteren Preis: Erstens fließt bereits russisches Blut durch diesen Konflikt. Kampfpiloten sind gestorben, ebenso Angehörige von Spezialkräften, und Flugzeuge fallen nach Bombenanschlägen vom Himmel. Einen Krieg zu beginnen – das wissen wir in Israel – sieht manchmal vielversprechend aus, doch nach zwei Monaten stellt man meist fest, dass die Sache erheblich schwieriger ist als gedacht. Die Russen zahlen einen hohen Preis, weil ihr Ansehen bei den sunnitischen Staaten sinkt. Sie waren zuvor in einer sehr guten strategischen Situation. Sie hatten gute Beziehungen mit beinahe jedermann – mit Saudis und Iranern, mit Israelis und der Hamas, mit der Türkei und Syrien, mit Ägypten und Libyen. Jetzt aber, nachdem sie sich so entschieden mit der schiitischen Achse Teheran-Damaskus-Hisbollah gemein gemacht haben, ist der Rest des Nahen Ostens frustriert und enttäuscht von ihnen. Sie werden dadurch verlieren – Märkte für Waffenexporte ebenso wie diplomatischen Einfluß bei den Arabern.

ZEIT: Wie ist die strategische Lage Irans nach den erfolgreichen Atomverhandlungen? Teherans Klient Assad ist in Schwierigkeiten, die vom Iran geförderte Hisbollah ist zur Bürgerkriegspartei in Syrien geworden. Andererseits heißt es jetzt überall, Iran müsse als anerkannte Regionalmacht Teil einer Lösung in Syrien sein.

Yadlin: Ohne Zweifel hat der Atomdeal erst einmal Irans Lage gestärkt. Unmittelbar danach fuhr der General der Elliteeinheit Al-Quds-Brigaden, Qassem Soleimani, nach Russland und überzeugte Putin davon, dass man zugunsten Assads intervenieren müsse. Iran tritt nach innen wie außen aggressiver als zuvor auf. Das Regime führt Raketenexperimente durch, die dem Geist des Abkommens widerspreechen. Teheran erwartet eine Menege Geld aus eingefrorenen Konten, wenn das Abkommen in Kraft tritt. Dennoch: Es gibt keine Erfolge beim zentralen Anliegen – der Absicherung von Assads Herrschaft, auch wenn die Russen erst einmal die Fortschritte der Opposition bremsen konnten. Der Verlauf des Krieges hat keine neue Richtung bekommen. Assad ist immer noch in Gefahr. Anders als die Russen werden die Iraner bis zum Schluss Kompromisse in Sachen Assad vermeiden. Er ist ihr Mann, und sie brauchen Syrien, um ihren Einfluss auf Hisbollah und den Libanon zu wahren. Ohne Syrien fehlt ihnen der Zugang zum Mittelmeer.

ZEIT: Wie beeinflusst die unübersichtliche Lage in Syrien Israels strategische Situation? Sie sprechen mit den Russen über den syrischen Luftraum, sie haben plötzlich mit Teilen der sunnitischen Welt gemeinsame Interessen.

Yadlin: Wissen Sie, aus Jerusalem wird da manchmal ein angsterregendes Bild gezeichnet. Meine Analyse ist ganz anders. Israels Position hat sich in den letzten fünf Jahren verbessert. Das syrische Militär war zuvor in sehr guter Verfassung – mit den besten Luftabwehrkapazitäten aus Russland, mit vielen ballistischen Raketen, die das Herzland Israels erreichen konnten, mit Chemiewaffen. Diese Fähigkeiten sind erheblich reduziert worden. Neunzig Prozent der Raketen, die sich einmal gegen uns richteten, hat Assad gegen seine eigene Bevölkerung verbraucht. Die Chemiewaffen sind größtenteils vernichtet. Syriens Drohpotenzial gegen Israel ist dramatisch geschrumpft. Die Hisbollah ist als Kriegspartei in Syrien beschäftigt und verzeichnet herbe Verluste. Zwar hat die Gruppe im Libanon erheblich aufgerüstet und richtet Raketen aus dem Süden auf uns. Aber als Bürgerkriegspartei in Syrien hat sie allen Hände voll zu tun und darum kaum Appetit auf einen weiteren Konflikt gegen einen sehr viel stärkeren Feind.

ZEIT: Und die sunnitischen Nachbarn?

Yadlin: Wenn der Verteidigungsminister eines der pragmatischen arabischen Regime morgens aufwacht und über die Bedrohungslage nachdenkt, dann sieht er Irans Hegemoniestreben und seine nuklearen Ambitionen, und er sieht den IS, der am Ende auch sein Regime zerstören will. Wir sehen mit anderen Worten die gleichen Bedrohungen, das gibt eine Menge Raum für Kooperation. Ist damit die Bedrohung Israels passé? Überhaupt nicht. Das größte Problem ist immer noch das iranische Atomprogramm. Der Deal ist sehr problematisch für uns, jedenfalls auf lange Sicht. Aber in der unmittelbaren Zukunft werden sich die Iraner zurückhalten. In spätestens 10 bis 15 Jahren wird sich die Frage wieder mit aller Wucht stellen. Jetzt kommt es darauf an, wer bis dahin seine Zeit besser nutzt. Hinzu kommt: Wir haben den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht gelöst, das bleibt eine Quelle von Spannungen. Die Vorhersagen einer dritten Intifada sind dennoch falsch. Es gibt keinen Aufstand in der Westbank, und auch gegenüber Gaza ist unsere Abschreckung intakt. So schlimm die dauernden Messerattacken sind: Weder die Führung noch die palästinensische Straße wollen eine Intifada. Auch international stehen wir nicht schlecht da: Wir haben gute Beziehungen zur Russland und Amerika, und die Europäer machen derzeit leider die Erfahrung, was es bedeutet, mit Terror im Alltag zu leben.

ZEIT: Wird der IS eine Gefahr für Israel, wenn es nicht gelingt, ihn einzudämmen?

Yadlin: Die bedeutendste Bedrohung für Israel liegt in der Islamischen Republik, nicht im Islamischen Staat. Nehmen Sie einen einfachen Indikator: Wie viele Tonnen Sprengstoff kann der Gegner durch Raketen, Bomben und andere Mittel gegen Tel Aviv einsetzen? Iran: hunderte Tonnen. Hisbollah ebenfalls Hunderte, wenn nicht Tausende. Hamas kann vielleicht eine Tonne aufbringen. Mit allem Respekt vor dem Islamischen Staat: Sie haben gegen uns nichts dergleichen in der Hand. Können sie morgen einen Kibbutz auf den Golanhöhen angreifen oder einen Bus nach Eilat? Natürlich! Aber mit solchem Terror leben wir seit 67 Jahren. Die Tatsache, dass der IS nicht von einer Großmacht unterstützt wird und darum keine großen Waffen erwerben kann, wird dafür sorgen, dass er die Art von Bedrohung bleibt, die wir schon kennen – vom Typ Hisbollah, Hamas, Al-Kaida. Es würde sich nur dann etwas qualitativ ändern, wenn es dem IS gelingen würde, einen Nachbarstaat zu übernehmen – wie etwa Jordanien, Libanon, Ägypten. Aber das sehe ich nicht.

ZEIT: Es gibt die Hoffnung, dass Iran nach dem Atomdeal eine konstruktivere Kraft in der Region werden könnte. Das würde bedeuten, dass das Regime seine Obsession mit Israel aufgeben müsste.

Yadlin: Seien wir bescheiden mit Vorhersagen. Unsere Geheimdienste haben weder den Fall Mubaraks noch Putins Besetzung der Krim oder seinen Eintritt in den syrischen Krieg vorhergesehen. Es gibt meines Erachtens drei mögliche Szenarien. Das erste haben sie erwähnt. Hoffen wir, dass die junge Gnereation im Iran sich mehr um die Verbesserung ihrer Lebensstandards kümmern und sich der Welt öffnen wird. Aber es gibt auch die zweite Möglichkeit, dass Iran sich zu einer aggressiven Politik ermuntert fühlt und nach einigen Jahren, wenn das Geld aus den aufgehobenen Sanktionen eingetroffen ist, aus dem Vertrag ausbricht und wie Nordkorea die Bombe baut. Die dritte Möglichkeit: Mit strategischer Geduld wartet Iran jene 15 Jahre ab, die das Abkommen vorgibt, um dann ganz legal ein großes Atomprogramm weiterzuverfolgen. Ich rate: Wir müssen für das erste Szenario beten und uns auf die anderen beiden vorbereiten.

Die Fragen stellte Jörg Lau