Was Putins Hecht mit der Schwulenverfolgung in Russland zu tun hat

Dies ist ein Artikel über die Unterdrückung von Schwulen in Russland, über die Olympiade in Sotschi und den drohenden Boykott. Aber erst muss ich etwas zu dem Hecht sagen, zu Putins tollem Hecht.

Also, die Sache mit dem Hecht scheint nun doch ziemlich nach hinten loszugehen. Der russische Präsident hatte bei einem Sibirien-Trip nach Kreml-Angaben einen 21-Kilo-Hecht aus dem Wasser gezogen. Es gibt ein YouTube-Video vom Drill und von Putins eher ungeschickten Landungsversuchen. Der Mann hat nicht viel Ahnung vom Angeln. Immerhin, er hat diesen Fisch gefangen.

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Warum die Modernisierungspartnerschaft mit Russland nicht funktioniert

Als Reaktion auf die ZEIT-Debatte über die deutsche Russlandpolitik schicken mir Alexander Stepanyan und Fabian Burckhardt (s. Hinweise unter dem Text) diesen Beitrag, den ich vorzüglich finde. Und hiermit zur Debatte stelle:

In der Debatte über die deutsch-russischen Beziehungen sind die Gräben zwischen den „Russlandverstehern“ und den „Russlandkritikern“ gezogen. Eine verbindende Brücke gibt es dennoch:
Obwohl es politisch kriselt, läuft es wirtschaftlich bestens, der bilaterale Handelsumsatz ist derzeit mit 80.5 Milliarden Euro auf einem historischen Höchststand.
Ein Kernbestandteil von Willy Brandts Neuer Ostpolitik, die meist der zentrale Referenzpunkt für die aktuelle Debatte ist, war der Röhren-für-Erdgas-Deal, „Wandel durch Handel“ erlebte seine Reinkarnation in der Steinmeier’schen „Modernisierungspartnerschaft“. Selbst wenn nun wieder von Deutschland und Russland als „strategischen Partnern“ gesprochen wird, schwingt immer noch mit, dass deutsche Unternehmen Russlands Wirtschaft öffnen und diversifizieren, sprich modernisieren, sollen.
Die Prämisse: Russland strebt eine nachholende Modernisierung an, die deutsche Wirtschaft hält dafür die notwendigen Technologien bereit, die top-down durchgeführte wirtschaftliche Erneuerung Russlands führt zur Öffnung des politischen Systems.

Aus verschiedenen Gründen halten wir diese Perspektive für fragwürdig.

Angenommen Russland wäre auf einem Modernisierungskurs, so muss dieser, wie Wolfgang Eichwede in der Zeitschrift OSTEUROPA an der deutschen und russischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts deutlich macht, nicht unmittelbar zu demokratischem Wandel führen. Zudem unterwandert internationale Wirtschaftskooperation nicht nur autoritäre Herrschaftspraktiken, sondern legitimiert und perpetuiert diese auch.

Russland ist unter Putin jedoch nicht auf dem Weg zur Modernisierung und Demokratisierung, folglich modernisiert die deutsche Wirtschaft nicht, sondern passt sich aus Kosten-Nutzen-Kalkulation den lokalen Spielregeln an. Eine echte „Modernisierungspartnerschaft“ würde von deutscher Seite auch eine langfristige strategische Vision für ein modernes Russland sowie Engagement oder zumindest öffentliches Eintreten für gute Regierungsführung inklusive Rechtsstaatlichkeit, Eigentumsrechte und Transparenz verlangen. Selbst in den besten Zeiten der „Modernisierungspartnerschaft“ war davon wenig zu merken.

Obwohl viele makroökonomischen Kennzahlen in Russland noch verhältnismäßig gut sind, ist es vor allem die Überregulierung der Wirtschaft gepaart mit selektiver Rechtsvollstreckung, die der Schattenwirtschaft Vorschub leisten. Finanzminister Siluanow teilte mit, dass sich diese derzeit auf 15 – 20% des BIP oder mindestens 250 Milliarden US-Dollar belaufe. Laut der Organisation Global Financial Integrity sind zwischen 1994 – 2011 etwa 211,5 Milliarden US-Dollar an illegalem Kapital aus dem Land geflossen. Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International steht Russland 2012 auf Platz 133. Im Doing Business Index der Weltbank strebt Putin bis 2018 den 20. Platz an, 2013 befand sich Russland irgendwo zwischen Pakistan und Uganda auf dem 122. Rang. Laut Economist verlor der Privatsektor zwischen 2008 – 2012 300 000 Jobs, während der Staat 1,1 Millionen mehr beschäftige, insgesamt sind es nun 18 Millionen Staatsangestellte oder 25% aller Beschäftigten. Rosnefts Kauf von TNK-BP verdeutlichte, dass die Zeichen nicht auf Privatisierung, sondern Staatskapitalismus stehen. Kleine und mittelständische Unternehmen darben, ineffiziente staatliche geführte Großunternehmen bilden die Flaggschiffe der aus Rohstoffexporten betankten Wirtschaft. Informelle Zahlungsleistungen, vor allem die sogenannten otkaty, die meist für Staatsaufträge bezahlt werden, können sich je nach Wirtschaftssektor zwischen 5% und 80%der Auftragssumme belaufen. In den 1990ern waren es noch einstellige Werte, heute sind otkaty jenseits der 50% keine Seltenheit, bei Megaveranstaltungen wie dem APEC-Gipfel in Wladiwostok oder Sotschi 2014 werden hier Rekorde aufgestellt.

Aufgrund der Wirkmechanismen des russischen Staatskapitalismus stellt sich eine einfache Frage, der in der aktuellen Debatte jedoch ausgewichen wird:
Warum sollte das russische System für die deutschen Unternehmen eine Ausnahme machen? Wir wollen hier keinen Generalverdacht aussprechen, es gilt die Unschuldsvermutung. Vielmehr wollen wir hier eine Kritik des normativ untermauerten Modernisierungsauftrags vornehmen.

Erstens gibt es deutliche Anzeichen, dass viele deutsche Unternehmen nolens-volens lokale Praktiken übernehmen. In US-amerikanischen Gerichtsverfahren kam ans Licht, dass Daimler zwischen 2000 und 2005 $ 4 Millionen und Siemens in einem besonders prominenten Fall $55 Millionen an Beamte und Vermittler gezahlt hatten. Die LBBW geriet durch einen Immobilienkauf in Moskau 2008 in die Schlagzeilen, etwa 30 Millionen Euro flossen über die British Virgin Islands an eine dubiose zypriotische Firma. Bei der Immobilie handelt es sich um das German Center Moscow, ein Anlaufpunkt für die deutsche Wirtschaft. Die ENBW musste wegen des Vermittlers Andrej Bykow 130 Millionen Euro abschreiben, für die wohl keine Gegenleistung erfolgt ist. Angeblich ging es um Nukleargeschäfte, wahrscheinlich stand eher der Zugang zu russischem Gas im Mittelpunkt.

Neben überbordender Korruption gehören zweitens selektive Justiz und feindliche Übernahmen zum russischen System. Wenig Beachtung bei der Zerschlagung des Jukos-Konzerns fand die Rolle von Putins Stasi-Kumpel und späteren Nord-Stream CEO Matthias Warnig, der mit der Dresdner Kleinwort Wasserstein 2004 die Bewertung von Juganskneftegas übernahm. Unlängst berichtete der SPIEGEL über die „feindliche Übernahme“ von Vkontakte durch den „Kreml-Strohmann“ Ilja Scherbowitsch, infolgedessen Pawel Durow, der Gründer des russischen Facebooks, bis auf Weiteres das Land verließ. Erwähnt wurde dabei nicht, dass dieses umstrittene Aktiengeschäft von Deutsche Bank Russia beratend begleitet wurde. Viel beachtet in den letzten Wochen war auch die Flucht von Sergej Gurijew, einem der renommiertesten Ökonomen Russlands. Nicht nur war er an einem Expertengutachten über das Jukosverfahren beteiligt, er sitzt zudem im Vorstand von EON Russia. Forbes Russia, vom Axel-Springer-Verlag herausgegeben, wurde vor kurzem von russischen staatsnahen Medien der Käuflichkeit bezichtigt, nachdem investigative Artikel über Oligarchen der Putin-Ära veröffentlicht worden waren.
Allein diese vier Beispiele zeigen: An scheinbar zutiefst innerrussischen Angelegenheiten sind deutsche Unternehmen entweder beteiligt oder zumindest von diesen betroffen.

Das dritte Phänomen, das dem Modernisierungsparadigma widerspricht, ist die Kooptation von deutschen Eliten. Zielkonflikte zwischen langfristigen nationalen und kurzfristigen persönlichen und korporativen Interessen sind hier nicht zu vermeiden. Die Causa Gerhard Schröder ist hinreichend bekannt, sein Parteikollege Henning Voscherau ist seit 2012 ebenfalls für Gazprom tätig. Klaus Mangold wurde nach seinem Ausscheiden als Vorsitzender des Ostausschusses russischer Honorarkonsul in Baden-Württemberg, während Franz Beckenbauer als Sportbotschafter für Russland wirbt. Die steilste Karriere legte der schon oben erwähnte Matthias Warnig hin, inzwischen wird er von Forbes Russia zu den zehn wichtigsten Personen in Putins Machtvertikale gezählt.

Könnten wir uns Willy Brandt als Angestellten des sowjetischen Ministeriums für Gasindustrie vorstellen? Wohl eher nicht. Die sowjetischen Apparatschiks fuhren Wolga, es gab damals gar keine Anreizstruktur, einen Tribut von deutschen Autobauern zu verlangen.
Insofern sollten wir unser Denken den neuen Realitäten anpassen. Die missionarisch angehauchte Modernisierungspartnerschaft war zeitweise eine gute Marketingstrategie, solange unter Medwedjew ein modernes Russland gepredigt wurde, in dem gelten sollte: „Freiheit ist besser als Unfreiheit“. Medwedjew ist nun marginalisiert, Modernisierung und Freiheitsrechte out. Zeit für Deutschland Konsequenzen zu ziehen, zumindest für die PR-Strategen. Die von Bundeskanzlerin Merkel angestrebte 100-Milliarden-Euro-Marke im bilateralen Handelsumsatz wird wohl bald geknackt werden.

Alexander Stepanjan ist Politologe am Zentrum für empirische Politikforschung der Staatlichen Universität St. Petersburg. Außerdem ist er Exekutivdirektor der Galina-Starowoitowa-Stiftung. Er arbeitet an einer Dissertation über den Deutschen Bundestag, studiert hat er an den Universitäten Greifswald und Potsdam. Er schreibt regelmäßig für internationale Medien, Texte von ihm sind in der «Neue Zürcher Zeitung» und «Le Temps» (Schweiz), Wiener Zeitung (Österreich), «RÆSON» (Dänemark), Tribuna und Echo Moskvy (Russland) und Radio France Internationale erschienen.

Fabian Burkhardt absolvierte den Masterstudiengang Russian Studies an der School of Slavonic and East European Studies am University College London und ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsnetzwerk „Institutionen und institutioneller Wandel im Postsozialismus“ an der LMU München. Seine Artikel erschienen unter anderem auf Radio Free Europe / Radio Liberty, Deutsche Welle, neweasterneurope.eu, Goethe.de, vice.com, reason.com

 

Wandel braucht Stabilität. Ein Zwischenruf zur Russland-Debatte

Ilja Kalinin ist Doktorand der Politischen Wissenschaft an der Heidelberger Universität. Er schickt mir diesen Beitrag zu unserer Debatte über Werte und Interessen in der der deutschen Außenpolitik.

Sehr geehrter Herr Lau,

Sie haben bereits darauf hingewiesen, dass Interessen nicht von Werten zu trennen sind, da sich unsere Interessen dann am effektivsten durchsetzen lassen, wenn man sich mit seinen internationalen Partnern auf ein gemeinsames Wertefundament stützen kann. Ich möchte dieses Argument um eine Perspektive ergänzen, nach der Interessen immer auch „Ideen von Interessen“ sind. Was eine Gesellschaft als ihre Interessen definiert, hängt stark von der Kultur dieser Gesellschaft ab. Interessen sind somit oft keine objektiven Gegebenheiten, sondern können sich je nach Gesellschaft unterscheiden. Die exportorientierte deutsche Volkswirtschaft, mit der wir Jahrzehnte des Wohlstands, aber auch Friedens in Freiheit assoziieren, basiert unter vielem anderen auf Rechtsstaatlichkeit, Effizienz und Innovationsfähigkeit, die wiederum nicht von sich aus existieren, sondern in unterschiedlichsten Bereichen des Lebens unserer Gesellschaft hervorgebracht und gestützt werden müssen: Bildung, Religion, Politik, Wirtschaft und weitere. Diese Werte stabilisieren und konstituieren unseren liberalen Rechtsstaat. Sie geben aber auch die Optionen für die Außenpolitik vor, aus denen wir überhaupt erst wählen können. Die Wertegebundenheit unserer wirtschaftlichen Interessen beschränkt sich nicht auf den Nationalstaat, sondern sensibilisiert die an der Förderung des Außenhandels interessierte deutsche Außenpolitik auch für die Notwendigkeit der Verbreitung dieser Werte im Ausland. Das Phänomen der gesellschaftlichen „Entbettung der Wirtschaft“ gaukelt die scheinbare kulturelle Voraussetzungslosigkeit des wirtschaftlichen Erfolgs nur vor.

Der heutzutage in Deutschland vorhandene weitgehende Konsens über zentrale Werte darf jedoch nicht die parteipolitischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit um die „richtige“ Auslegung der Verfassungsnormen und der identitätsstiftenden Werte vergessen machen (Frauenrechte, Hundertfünfundsiebziger usw.). Diese legen ein Zeugnis davon ab, dass die auf dem Papier geschriebenen Normen und Werte immer erst mit Inhalten gefüllt werden müssen und einer permanenten gesellschaftlichen Aushandlung unterworfen sind. So sprach Gustav Heinemann in seiner Rede zum 25-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes: „Diese Ordnung ist kein Heilsplan, sondern wie alles irdische Tun nur unvollkommenes Menschenwerk. Ihre Würdigung kann auch nicht verschweigen, dass außerdem zwischen Verfassungsaussage und Verfassungswirklichkeit ein Graben klafft. […] Die Einheit von Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat bedarf ständiger Bemühung.“ Wenn aber selbst die im Grundgesetz niedergeschriebenen Normen und Werte eine permanente Interpretation erfordern, wie kann man dann auf internationaler Ebene von der Universalität von Werten ausgehen?

Ein Bewusstmachen der Historizität und Prozeduralität von Werten bedeutet kein kulturrelativistisches Plädoyer für eine rein pragmatische, allein an der Mehrung des wirtschaftlichen Nutzens orientierte Außenpolitik. Beide Ebenen, Interessen und Werte, sind zwei Seiten einer Medaille. Sie bedingen einander und sind stetem Wandel unterworfen. Es wäre vor diesem Hintergrund problematisch, wenn man den äußerlichen Ist-Zustand von autoritär regierten Staaten pauschal als einen von den dortigen Eliten gewünschten Endzustand stilisiert. Man läuft dadurch Gefahr, alle, auch die sinnvollen Schritte zur Stabilisierung des politischen Systems als negativ zu verurteilen. Dabei braucht jede Entwicklung zunächst einmal Stabilität. Nur auf einem stabilen Fundament kann ein stabiles Haus errichtet werden.

Neben der notwendigen Verhältnisbestimmung von Werten und Interessen gibt es zwei weitere Begriffe, deren außenpolitisch relevantes Verhältnis zueinander näher bestimmt werden sollte: Kultur und Politik. Es gibt dazu ein weises Zitat von Daniel Patrick Moynihan: „Die zentrale konservative Wahrheit lautet, dass Kultur, nicht die Politik, den Erfolg einer Gesellschaft bestimmt. Die zentrale liberale Wahrheit lautet, dass Politik eine Kultur verändern und vor sich selbst retten kann.“ Diese beiden Wahrheiten treffen wir einerseits im Böckenförde-Diktum, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, und andererseits in Kants „Volk von Teufeln“, dessen Bürger mit Hilfe der Politik in Frieden koexistieren können. Wenn man der Politik dieses domestizierende Potential zutraut, dann mag man auch zu der von Ihnen getroffenen Aussage gelangen, wonach Eliten in manchen Staaten ihre Gesellschaften schlichtweg nicht öffnen wollen. Diese Sichtweise legt also die Verantwortung allein auf die politischen Eliten und blendet aus, worauf diese Eliten ihre Macht stützen (es ist nicht überall Gewalt, Manipulation von Wahlen geht auch nicht immer und allein von den Eliten aus). Eine Außenpolitik des Drucks auf die autoritären politischen Eliten bis hin zu einer Außenpolitik des Regimewechsels ist die Folge dieser liberalen Wahrheit. Oft ist die Nachhaltigkeit einer solchen Politik zweifelhaft, da der Einfluss der Kultur auf die Politik unterschätzt wird. Wäre die politische Kultur des postkommunistischen Russlands demokratiestützend gewesen (was vor dem Hintergrund der Jahrzehnte währenden kommunistischen Diktatur ein Wunschdenken war), hätte Russland die wirtschaftliche Krise der 1990er Jahre möglicherweise ohne Hinwendung zum gewohnt autoritären Paradigma überstanden. Nach einer kurzen Phase demokratischer Euphorie Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre ging die russische Gesellschaft, einer totalen Ideologie überdrüssig, zum ebenso totalen Pragmatismus über. Eine wertebewusste westliche Außenpolitik muss diesen Wandel akzeptieren. Diese gewisse Akzeptanz der russischen Verhältnisse bedeutet aber weder Resignation noch ein Sich-abfinden. Akzeptanz hat lediglich die Funktion, die russische Wirklichkeit präzise und unvoreingenommen wahrnehmen zu können, um die dadurch gewonnenen Erkenntnisse zu Ausgangspunkten für Veränderungsprozesse werden zu lassen.

Den Demokratisierungsprozess einer Gesellschaft kann man mit der Vorbereitung von Leichtathleten zum Hochspringen vergleichen. Es bringt den Sportlern nichts, wenn der Trainer den Stab zu niedrig ansetzt. Sie werden nicht besser und lernen auch nicht, miteinander zu wetteifern. Logischerweise kann der Trainer auch nicht per Vertrag mit anderen Mannschaften garantieren, dass seine Leichtathleten eine bestimmte Leistung erbringen werden. Mit der Demokratie verhält es sich nicht anders als mit einem sportlichen Wettkampf. Dabei kann und soll der in dieser Sportart erfahrene Westen Russland ermutigen, mehr Demokratie zu wagen. Insofern war Frau Merkels Hinweis an Wladimir Putin, kritikfähiger zu sein, in der Perspektive richtig. In der Tat bildet sich in Russland nur langsam eine gesellschaftliche Nachfrage nach Beachtung von Werten der Verfassung durch die Politik heraus. Diese Nachfrage ist noch relativ gering und lokal begrenzt. Der mittlerweile in Deutschland etablierte Verfassungspatriotismus in seiner Funktion als individueller Verfassungsschutz ist dem Gros der russischen Gesellschaft noch fremd. Auch scheint die Nachhaltigkeit des gesellschaftlichen Wertewandels eher unsicher zu sein, da Russlands „Wirtschaftswunder“ einzig und allein auf Rohstoffexporten basiert. Die konkrete Unterstützung Russlands beim Aufbau eines breiten Mittelstandes wäre eine nachhaltige Investition in die russische Demokratie, die aber freilich von Russland gewollt und gefördert werden muss. Ich bin sicher, dass westliches, insbesondere deutsches, Engagement in diesem Bereich mehr als willkommen wäre und die russische Führung zu Zugeständnissen etwa im Bereich der gemeinsamen Korruptionsbekämpfung bereit wäre.

Es sollte nicht darum gehen, auf der Ebene der Eliten um Werte und Worte zu streiten. Eine ritualisierte Form der Kritik wird mit der Zeit als Instrument der Einflussnahme wirkungslos, so dass die wirklich berechtigte Kritik an tatsächlichen russischen Fehlentwicklungen im Rauschen des Kritikrituals untergeht. Die russische Autokratie hat sich seit Jahrhunderten u.a. durch den Mythos des Mongolenjochs (und der Rolle westlicher Staaten dabei) gegen externe Einmischungen immunisiert. Die orthodoxe Kirche spielt dabei keine unwesentliche Rolle, ist sie es doch gewesen, die Russland seit je her geeint hat. Westliche Kritik an einer zu konservativen Linie kann mit Leichtigkeit als Versuch einer Schwächung des gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenhalts zurückgewiesen werden. Die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit ist bei einer so existentiell gestellten Frage mehr als sicher. Besser wäre es, ein gemeinsames Werteverständnis durch Kooperation auf gesellschaftlicher Ebene zu schaffen. Ein Politikwandel wäre die zwangsläufige Folge des Wertewandels. Durch Kooperation wird man die ungünstige Dialektik des gleichzeitigen Ungleichzeitigen zwischen westlichen Staaten und Russland überwinden können. Kritik an Russland sollte nicht dem Zweck der Selbstvergewisserung über eigene Werte dienen. Dazu ist Russland viel zu europäisch, da es selbst seit Jahrhunderten auf die europäischen Werte ausgerichtet ist. Eine Dogmatisierung und Verabsolutierung unserer Werteverständnisse birgt wiederum die Gefahr von Glaubenskriegen. Was uns Russland vor Augen führt, ist die Voraussetzungsfülle einer werdenden Demokratie.

 

„Auch gegenüber Russland treten wir für unsere Werte ein“

Vor dem Hintergrund der aktuellen Razzien bei deutschen Stiftungen in Russland ist dieser aktuelle Text aus der ZEIT von heute vielleicht von Interesse. Ich habe beim Auswärtigen Amt nachgehakt, wie man dort über die Äußerungen von Alexander Rahr über die deutsche Russlandpolitik denkt.

Offenbar hat in der Regierung das Nachdenken über den deutschen Kurs gegenüber Russland begonnen. Das Auswärtige Amt geht in Reak­tion auf einen kritischen Bericht der ZEIT (Nr. 12/13) auf Distanz zum einflussreichen Kreml-Experten Alexander Rahr. Rahr hatte, wie berichtet, in einem Interview mit einer russischen Zeitung die deutsche Russlandpolitik kritisiert: Gegenüber Putin auf Rechtsstaat und Demokratie zu setzen komme einem aggressiven Wer­te­export gleich, »wie vor 100 Jahren von der Sow­jet­union propagiert«. Deutschland sei Amerika und Israel verfallen und wolle unter dem Vorwand des Eintretens für Menschenrechte Russland mit liberalen Werten unterwandern.
Im Außenministerium heißt es nun, man teile Rahrs »bekannt gewordene Äußerungen zur westlichen Wertepolitik nicht. Es ist jetzt an Herrn Rahr, für Klarheit zu sorgen hinsichtlich der Umstände und Inhalte des in der Komsomolskaja Prawda veröffentlichten Textes. Natürlich ist Herr Rahr auf sein Interview angesprochen worden.«
Ein Sprecher des Ministeriums bekräftigt: »Auch gegenüber Russland verfolgen wir unsere Interessen und treten für unsere Werte ein. Dies ist Ausdruck unserer interessengeleiteten und werteorientierten Außenpolitik.« Die Bun­des­regie­rung setze »sich für die weitere Vertiefung der strategischen Partnerschaft mit Russland ein, in deren Rahmen in umfassender Weise die politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen gefördert und auch Fragen im Zusammenhang mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten nicht ausgespart werden«.
Rahr aber legt nach: Von Spiegel Online auf den ZEIT-Bericht über sein Interview angesprochen, verteidigt er abermals Putins autoritäre Herrschaft. Sie sei nun mal »authentischer« als das demokratische Chaos unter Boris Jelzin: »Die Mehrheit der Russen denkt anders. Stabilität und die Orientierung an einer starken Hand sind ihnen wichtiger als Demokratie.« Das habe für die deutsche Politik einen entlastenden Effekt, wirbt Rahr sarkastisch: Sie brauche dann nicht weiter »erfolglos zu versuchen, Russland zur Demokratie zu zwingen«. Das Beharren auf Menschenrechten ist für Alexander Rahr also gleichbedeutend mit »Zwang« zur Demokratie.
Das wirft die Frage auf, wie dieser Experte seine Aufgaben in den beiden wichtigsten quasioffiziellen Foren der Russlanddiplomatie versteht. Rahr ist seit November Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums (DRF), das hauptsächlich von der an Russland interessierten deutschen Industrie finanziert wird. Und auch beim Petersburger Dialog, dem von Wladimir Putin und Gerhard Schröder initiierten und von Angela Merkel fortgeführten jährlichen Treffen zwischen deutschen und russischen Eliten aus Politik und Wirtschaft, sitzt Rahr im Lenkungsausschuss.
Das Außenministerium betont, beide Institutionen seien »vom Auswärtigen Amt unabhängig«. Das ist richtig, doch erst die enge Kooperation der Regierung mit den beiden Vereinen macht die Gremien für die russische Seite interessant und damit im Gegenzug auch zu potenziell besonders wertvollen Instrumenten der deutschen Russlandpolitik.
Dass Alexander Rahr als intellektueller Kopf des Deutsch-Russischen Forums firmiert – ein Mann, der jegliche Kritik an Putins Autoritarismus als »Hysterie« abtut und Menschenrechtler als »Kreuzritter« diffamiert –, gibt der Sache eine merkwürdige Schlagseite. Auf der Web­site des DRF wird seine Aufgabe so beschrieben: »Zu den weiteren Aufgaben des Forschungsdirektors werden die Or­ga­ni­sa­tion und Mo­de­ra­tion der inzwischen eta­blier­ten Kamingespräche beim russischen Botschafter und diverser Energiefrühstücke zählen.« Rahr ist in den vergangenen Jahren gegenüber der russischen Seite immer wieder in quasioffizieller Funktion als Vermittler für Dialogprojekte aufgetreten. Im Ministerium gilt er als »ausgewiesener Russlandkenner mit vorzüglichen Kontakten«. Rahr fungiert als Ratgeber des Auswärtigen Amtes unter anderem beim Thema Rechtszusammenarbeit mit Russland.
Anscheinend wird nun infrage gestellt, ob dies wirklich eine glückliche Kombination ist. Aus dem Außenministerium heißt es, die Kooperation »mit dem privaten Verein DRF macht sich nicht an einer bestimmten Person fest«.

 

Wie weiter mit Putins Russland?

Unterdessen zieht die außenpolitische Debatte über Deutschlands Verhältnis zu Russland, die ich vor einigen Wochen angestoßen haben, weitere Kreise. Stefan Meister, Russlandexperte am Zentrum für Mittel- und Osteuropa der Bosch-Stiftung und Mitarbeiter der DGAP, schreibt im Guardian, dass die aktuelle Zypern-Krise ein Licht auf die angespannte Lage zwischen Russland und Deutschland wirft:

The Cyprus crisis sheds a revealing light on the current state of relations between the EU and Russia, and between Russia and Germany in particular. (…)

From Moscow, it looks like the German government is once again playing an inglorious role in international affairs. Germany is Russia’s key political and economic partner in the EU, but over the last two years – and especially since the return of Putin as Russian president – there has been an increasing alienation between Berlin and Moscow. In terms of political belief, there is little common ground between Angela Merkel and Putin – the good old times of „male bonding“ between Schröder-Putin and Kohl-Yeltsin are long over. Merkel has been a much more critical partner to Moscow than her predecessors and Russia’s poor human rights record is a common theme in German discourse on the country.

 

Last November, a resolution by the governing coalition of Christian Democrats (CDU/CSU) and Liberal Democrats in the German lower house emphasised the importance of civil society and rule of law in the relationship with Russia – a crucial milestone in German-Russian relations.

 

Merkel’s stance stands in stark contrast to her predecessors. Three weeks ago, the leading German weekly Die Zeit started a debate on the lack of a balance between political values and political interests in German foreign policy. Many German politicians have been criticised for receiving Russian money to open doors to Russian business in Germany. As well as former chancellor Gerhard Schröder – who was nominated by Gazprom to head the shareholders‘ committee of Nord Stream, which aims to supply Russian gas directly to Germany – there is the former mayor of Hamburg Henning Voscherau, who lobbies for the Gazprom-led South Stream project.

 

As Die Zeit points out, even the respectable former minister of foreign affairs Hans-Dietrich Genscher has been rolling out the metaphorical red carpet for authoritarian regimes such as Kazakhstan and Azerbaijan. As a result, the interplay between economic interests and democratic values will be a key issue in the election campaign for the German parliamentary elections in autumn this year. The leadership in Russia must knows it will see more of Merkel’s cold shoulder in the coming months.

 

This may explain why Russia has been unusually critical of Germany’s behaviour over Cyprus. Merkel’s demands have been interpreted in Moscow as an attempt to stop Russia gaining more influence and secure its own political and economic interests.

 

Der von mir in einem weiteren Artikel kritisierte Russlandexperte Alexander Rahr antwortet in Spiegel online auf die Vorwürfe (bzw. tut es nicht und sattelt noch weiter drauf):

 

SPIEGEL ONLINE: Die „Zeit“ kritisiert, dass Sie sich die Kreml-Rhetorik zueigenmachen. Ihr Nachfolger bei der DGAP wirft Ihnen einseitige Kontakte zu Russlands Führung vor.

Rahr: Ich bin Mitglied im Waldai-Club, in dem westliche Russland-Experten Putin treffen. Da sind viele Amerikaner, Briten, nur die meisten Deutschen machen einen Bogen darum. Mir wird ja oft vorgeworfen, ich säße bei Putin auf dem Schoß. Die gleichen Leute waren aber immer beglückt, wenn ich mit meinen Kontakten wichtige russische Politiker zur DGAP brachte. Ich habe aber oft das Problem, dass man mich missversteht.

SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?

Rahr: Ich habe zwei Identitäten. Ich bin mit einem Bein in der russischen Migration aufgewachsen, aber in Deutschland politisch groß geworden. Ich war 1990 das erste Mal in der Sowjetunion, seitdem empfinde ich viel Sympathie für Russland. Vielleicht ist mir in Russland mehr verständlich, was bei anderen Unverständnis hervorruft. Ich finde das Russland, das wir heute sehen, authentischer, als die neunziger Jahre unter Jelzin.

SPIEGEL ONLINE: Jelzins Herrschaft war zwar chaotisch, dank konkurrierender Parteien und TV-Kanälen, aber leidlich demokratisch.

Rahr: Die Mehrheit der Russen denkt anders. Stabilität und die Orientierung an einer starken Hand sind ihnen wichtiger als Demokratie. Das gilt nicht für den westlich orientierten Mittelstand. Putin muss die Balance wahren zwischen dieser liberalen Minderheit und einer großen konservativen Mehrheit, die von einer Wiederauferstehung Russlands als Imperium träumt.

 

Wie soll Deutschland mit Russland umgehen?

Mein Artikel aus der ZEIT von heute, S.4:

Im April 2012, wenige Wochen nach der Wahl Wladimir Putins zum russischen Präsidenten, spricht der deutsche Kremlexperte Alexander Rahr zwei Stunden lang in Moskau mit einer russischen Journalistin. Aus dem Gespräch entsteht ein Interview, das am 4. Mai in der Komsomolskaja Prawda erscheint, einer regierungstreuen Boulevardzeitung. Die Überschrift dieses Textes voller antiwestlicher Attacken lautet: »Der Westen führt sich auf wie die Sowjetunion.« Die russische Nachrichtenagentur macht zwar eine Meldung auf Deutsch. Doch weil die schrillsten Aussagen fehlen, dauert es weitere zehn Monate, bis die Grünen-Abgeordnete Marieluise Beck, Osteuropapolitikerin ihrer Partei, auf das Interview aufmerksam wird. Beck lässt es übersetzen. Was sie zu lesen bekommt, wühlt sie auf. Sie kennt Rahr von zahlreichen Treffen. Beide sind Mitglieder in der Leitung des Petersburger Dialogs, des wichtigsten Forums deutsch-russischer Diplomatie.
Nun zirkuliert der Text unter Berliner Insidern, und es droht ein Skandal in Zeitlupe daraus zu werden. Rahr distanziert sich von dem »sogenannten Interview«, das nie als solches geführt worden sei. Ein unterdrückter Streit um die deutsche Russlandpolitik drängt an die Öffentlichkeit. Soll die deutsche Regierung gegenüber Putins Russland auf den Werten der freiheitlichen Demokratie beharren? Oder gebietet es die realpolitische Klugheit, antidemokratische Entwicklungen still hinzunehmen?
Das Auswärtige Amt und das Kanzleramt, die sich immer wieder auf entgegengesetzten Seiten dieses Streits wiederfinden, sind auch schon mit der Sache befasst worden. Alexander Rahr ist der einflussreichste und am besten vernetzte deutsche Russlandexperte. Er war bis letztes Jahr Forschungsdirektor des Berthold-Beitz-Zentrums der regierungsnahen deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik DGAP. Rahr wird vom Auswärtigen Amt als Ratgeber beschäftigt, ist Berater des deutschen Energieriesen Wintershall und Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums, einer industrienahen Lobbygruppe. Er kennt Putin und Medwedjew persönlich und hat über beide Bücher geschrieben. Sein letztes Russlandbuch Der Kalte Freund wurde von Frank-Walter Steinmeier vorgestellt.
Rahr hat immer für Nachsicht gegenüber dem »schwierigen Partner« Russland plädiert. Doch das Interview geht weit darüber hinaus. Die gedruckte Fassung legt nahe, dass Rahr den antiwestlichen Kurs der russischen Herrschaftselite nachvollzieht.
Von der russischen Journalistin befragt, warum die »hochmütigen deutschen Eliten« Putin nicht mögen würden, antwortet Rahr im gedruckten Text, die deutsche »Huldigung an die USA«, entspringe eben einem »tiefen religiösen Gefühl«. Die Deutschen lebten »im Gefühl des Triumphes der liberalen Werte und der westlichen Demokratien«. Diese Werte würden vom Westen in fremde Kulturen »mit allen Methoden, selbst aggressiven, exportiert«. Er sehe darin eine Idee vom »weltweit gewaltsam erzwungenen Glück«, wie »vor 100 Jahren von der UdSSR propagiert«. Die Kritik an den manipulierten Wahlen im März 2012 fällt darunter: »Und was für eine Hysterie begann in der Presse nach der Wahl Putins! Sie sind einfach in Wut geraten, dass sie nichts tun können!« Dagegen stehe Putin mit seinen »romantischen Vorstellungen« von Deutschland »mit reinem Herzen« da: »Das ist sein geliebtes Deutschland, wo er einst in Kneipen Bier getrunken hat und mit Deutschen befreundet war.« Die Deutschen aber sind amerikanischer Macht und der »moralischen Stärke Israels« verfallen, auch wenn man ihnen den Holocaust »ständig unter die Nase reibt«. Gegenüber Russen verspüren sie keine Schuld. Rahr zitiert einen russischen Kollegen: »Den Deutschen hat man tatsächlich das Gehirn amputiert.«
Alexander Rahr sagt gegenüber der ZEIT, er habe gegen die Veröffentlichung protestiert. Der Text sei von ihm nicht autorisiert worden. Überhaupt habe die Journalistin, Darja Aslamowa, mit ihm nur ein Hintergrundgespräch geführt, angeblich für einen Essay. Manche Begriffe seien schwer übertragbar. In einer vom Bundessprachenamt angefertigten Übersetzung ist die Rede davon, dass Europa mit Russland zusammen seinen »Lebensraum« im Osten erweitern könnte. Den durch die Nazizeit belasteten Begriff habe er aber nicht gemeint, sondern eher etwas wie »Siedlungsraum«. Der Text sei zugespitzt worden, klagt Rahr, Aussagen Dritter würden nun ihm zugeschrieben.
Das mag sein, doch ein Video auf der Web­site der Zeitung, das vier Minuten des Gesprächs zeigt, spricht dagegen, alles durch Zuspitzung zu erklären. Der veröffentlichte Text weicht nicht wesentlich vom aufgezeichneten Gespräch ab. Rahr spricht in sarkastischem Ton von westlichen Menschheitsbeglückern, die »andere Menschen dazu zwingen, ebenfalls Demokraten und Liberale in ihrem Denken zu sein, die Menschheit von der Sklaverei zu befreien. Das ist sozusagen die gleiche wunderbare Idee, die vor 100 Jahren von der Sowjetunion propagiert wurde.«
Das Interview verweist auf ein Kernproblem der deutschen Russlandpolitik. Lässt Deutschland sich von dem verzerrten Bild einschüchtern, das die russische Regierung und Apologeten wie Rahr zeichnen: Westliche Hypermoral gegen »russische Werte«?
Der totalitär gewordene Westen, das aufrecht widerstehende Putin-Russland – das ist schon seit einiger Zeit ein Leitmotiv Alexander Rahrs. Man konnte es in Der Kalte Freund (2011)finden: Kritik an Putins System als verdeckter Versuch, Russland »klein zu halten«. Werte in der Außenpolitik sind nur maskiertes westliches Machtstreben: In den letzten Jahren habe »die westliche Wertepolitik quasimilitanten Charakter« angenommen. NGO-Aktivisten sind »Fundamentalisten im Gewand der alten Kreuzritter (Putins Ausdruck)«: Russland »fühlt sich diskriminiert, weil der Westen den Kontinent Europa mit seinen Werten ideologisch okkupiert hat«.
Das ist ein bemerkenswerter Satz. Der renommierteste deutsche Russlandexperte unterstützt Putins Propaganda, derzufolge der Einsatz für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit dem Zweck dient, Russland einzuhegen – durch eine »Okkupation« Europas mit westlichen Werten. Das liefert die Ausrede für die Unterdrückung von allem, was die zunehmend autoritäre Herrschaft gefährdet: Wenn Putin Menschenrechtsgruppen bedrängt, NGOs zwingt, sich als »ausländische Agenten« registrieren zu lassen, Internetfreiheit einschränkt, Presse und Parlament »lenkt« oder Homosexuelle diskriminiert – dann dient das der Abwehr eines Werteangriffs aus dem Westen?
Was eigentlich die östlichen, genuin russischen Werte sind, erfährt man nicht. Sie sind ein Popanz, genau wie der angebliche Wertefeldzug des Westens. Angela Merkel erlaubt sich etwas mehr Distanz zu Putin, trifft Menschenrechtler und spricht besorgt, aber freundlich über un­demokratische Gesetze. Milliardendeals steht dieser normale Umgang unter Nachbarn nicht im Weg.
Nach dem Ende des Kommunismus herrschte die Annahme, Russland und Europa seien gleichen Werten verpflichtet. Auf dieser Grundlage finden all die Dialoge, Foren und Modernisierungspartnerschaften statt, an denen auch Alexander Rahr teilnimmt. Ohne die Hoffnung, sich auf Grundwerte verständigen zu können, sollte man sich das alles besser sparen.

 

Putins Russland ist kein Partner

Mein Kommentar aus der ZEIT von morgen, 11.10.2012:

In etwas mehr als einem Monat droht der deutschen Diplomatie ein peinlicher Moment. In Moskau tagt der »Petersburger Dialog«, das deutsch-russische Forum, auf dem die ›Modernisierungspartnerschaft‹ beider Länder alljährlich bekräftigt wird. Thema diesmal: »Die Informationsgesellschaft vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts«.
Peinlich wird die Sache deshalb: Russland hat im Sommer ein Gesetz zur Internetzensur eingeführt. Mißliebige Webseiten können seither von Putins Regierung ganz einfach abgeschaltet werden. Mit dieser Regierung einen Dialog über die »Informationsgesellschaft« zu führen, wirkt ziemlich naiv. Also absagen? Geht auch nicht mehr.
Einige Abgeordnete der Union haben die Zwickmühle erkannt und einen Antrag formuliert, der die Rückschritte Russlands bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert. Noch vor dem Treffen in Moskau soll er in den Bundestag eingebracht werden: Die Regierung wird darin aufgefordert, ihre Sorgen »klar zum Ausdruck zu bringen«.
Wie nötig eine solche Mahnung ist, zeigen die jetzt bekannt gewordenen Änderungsvorschläge des Auswärtigen Amts. Der Antrag soll gesoftet, offene Worte über den antidemokratischen Irrweg von Putins Regierung herausredigiert werden. Dafür finden sich neue Passagen über die Größe Rußlands und seine Bedeutung als Energielieferant.
Die Abgeordneten dürfen sich das nicht bieten lassen. Sie sollten sich dem Versuch widersetzen, Russland weiter durch den Weichzeichner zu betrachten.
Es geht hier um mehr als einen Antrag. Nötig ist die Neubestimmung der deutschen Russlandpolitk. Trockener, kühler, realistischer – ebenso fern von Kaltem Kriegertum wie von der Illusion der Partnerschaft.
Deutsche Kanzler haben sich viel in Goodwill geübt: Kohls Strickjackenbesuche und Saunagänge bei Gorbi; Gerhard Schröder wurde gar Putins Apologet bis zur Anbiederei. Letzteres kann man Angela Merkel nicht vorhalten. Doch ihre Rußlandpolitik unterscheidet sich, einem hartnäckigen Vorurteil zum Trotz, nur habituell von der Schröders. Sie findet Putins Machismo peinlicher, als sie öffentlich zugeben kann. Doch die wirtschaftliche Verflechtung hat unter Merkel noch zugenommen, und auch ihr Engagement für Regimekritiker kommt über erwartbare symbolische Gesten selten hinaus. Am Ende übertrumpft das Interesse an guter Atmosphäre für die deutsche Industrie und politischer Kontinuität stets auch Merkels Widerwillen.
Trotz aller Bemühungen entfernt sich Russland von uns. Putin hat einen nüchtern-zynischen Blick auf die Deutschen: Ihr seid geschwächt durch die Eurokrise, und die Energiewende (Danke dafür, übrigens!) fesselt euch noch enger an unsere Pipelines. Wenn ihr wirklich wollt, dass Assad stürzt, warum tut ihr nichts dafür? Ihr echauffiert euch über Pussy Riot im Gefängnis, setzt aber mit uns den »Rechtsstaatsdialog« fort? Wie verlogen ist das denn? Und euch soll ich ernst nehmen?
Mit einem anderen großen Russen gefragt: Was tun? Vielleicht wäre es kein schlechter Anfang, die Lage so zu beschreiben wie sie ist. Niemand in Berlin hat einen Plan, wie man mit dem Russland unter Putin 2.0 umgehen soll. Dieses Land hält seine schützende Hand über den syrischen Diktator Assad, der sein eigenes Volk massakriert, wie unser Außenminister nicht aufhört zu betonen. Nichtregierungsorganisationen – auch deutsche Stiftungen – werden seit kurzem gezwungen, sich in Russland selbst als »Ausländische Agenten« zu bezeichnen; dadaistische Politkunstaktionen werden mit jahrelanger Haft für  junge Mütter bestraft; das Versammlungsrecht wird immer mehr eingeschränkt, um eine rege Zivilgeselslchaft zu drangsalieren.
Dieses Russland modernisiert sich nicht, und wie ein Partner verhält es sich auch nicht. Die »Modernisierungspartnerschaft«, vor vier Jahren aus der Taufe gehoben, ist den plötzlichen Kindstod gestorben. Die Hinterbliebenen sollten sich den Verlust eingestehen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass Deutschlands Russlanddiplomatie auf Ausgleich und Gespräch setzt. Auch das ist, kühl betrachtet, im deutschen Interesse. Nicht im deutschen Interesse ist es, wenn die Regierung unliebsame Anträge redigiert. Das Parlament muss ohne große Rücksichten seinem Unbehagen an den russischen Entwicklungen Ausdruck geben können. Die Regierung könnte sich dies in ihren Verhandlungen mit Russland zunutze machen: Seht mal, bei uns wächst der Unmut über eure Politik!
Sie müsste dazu nur etwas mutiger sein. Nicht ausgeschlossen, dass sie dann auch in Moskau wieder ernster genommen würde  –und ein echter Dialog beginnen könnte.

 

Warum Putin Russland ruiniert

In einem erfrischend offenherzigen und meinungsfreudigen Interview sagt Edward Luttwak etwas Interessantes über das Russlands Problem mit Putins Führerschaft. Vielleicht ist, was Luttwak hier beschreibt, noch entscheidender als das demokratische Defizit Russlands, das sich derzeit durch die manipulierten Wahlen so krass dokumentiert. (Vielleicht ist es auch der Kern dieses demokratischen Defizits.) Was mich im Vergleich interessieren würde: Wie erklärt sich in dem autoritären System Chinas die größere Kreativität der Bürokratie, die das Land vom Entwicklungsland zum Wirtschaftsriesen gemacht hat?

David Samuels: I would start with the moment when George W. Bush met Vladimir Putin and said, “I looked into his eyes and saw this was a man I could really trust.” So, my thesis is this: If you’re Vladimir Putin, and you rise to the top of this chaotic and brutal society after going through the KGB, you must be some kind of strategic genius with amazing survival skills, because the penalty for failure may be torture or death. This kind of Darwinian set-up exists in many countries around the world. What does it mean to be head of the security services in Egypt? It means that you had to betray your friends but only at the right time, and you had to survive many vicious predators who would have loved to kill you or torture you, or otherwise derail your career. By the time you become Vladimir Putin or Omar Suleiman, your ability to think ahead and analyze threats has been adequately tested.

By contrast, what does it take to become a U.S. Senator? You have to eat rubber chicken dinners, you have to impress some rich people who are generally pretty stupid about politics, and smile in TV commercials. The penalties for failure are hardly so dire. And so, American leadership generally sucks, and America is perennially in the position of being the sucker in the global poker game. That’s the thesis. So, tell me why it’s wrong.

Edward Luttwak: Even if your analysis is totally correct, your conclusion is wrong. Think about what it means to work for a Putin, whose natural approach to any problem is deception. For example, he had an affair with this athlete, a gymnast, and he went through two phases. Phase one: He concealed it from his wife. Phase two: He launched a public campaign showing himself to be a macho man. He had photographs of him shooting a rifle, and as a Judo champion, and therefore had the news leaked that he was having an affair. Not only an affair with a young woman, but a gymnast, an athlete. Obviously such a person is much more wily and cunning and able to handle conflict than his American counterpart. But when such a person is the head of a department, the whole department is actually paralyzed and they are all reduced to serfs and valets. Therefore, what gets applied to a problem is only the wisdom of the aforementioned wily head of the department. All the other talent is wasted, all the other knowledge is wasted.

Now you have a choice: You can have a non-wily head of a department and the collective knowledge and wisdom of the whole department, or else you can have a wily head and zero functioning. And that is how the Russian government is currently working. Putin and Medvedev have very little control of the Russian bureaucracy. When you want to deal with them, and I dealt with them this morning, they act in very uncooperative, cagey, and deceptive ways because they are first of all trying to protect their security and stability and benefits from their boss. They have to deceive you because they are deceiving their boss before he even shows up to work. And they are all running little games. So, that’s the alternative. You can have a wily Putin and a stupid government. Or an intelligent government and an innocent head. There’s always is a trade-off. A Putin cannot be an inspiring leader.

 

Warum Russland und China Iran stützen

Eine Analyse auf Tehranbureau arbeitet heraus, warum Russen und Chinesen das Teheraner Regime unterstützen, obwohl sie offiziell gegen das Atomprogramm sind und Sanktionen befürworten (jedoch nie, ohne sie vorher in langen Verhandlungen vewässert zu haben):

„Russia treats Iran as a winning card in its relations with the United States. The fact that anti-American hardliners are in power in Iran is to Russia’s advantage. First, because it keeps the U.S. influence in Iran, if any at all, minimal. Second, it forces the United States to focus its attention on Iran, and less elsewhere. At the same time, by not completing the Bushehr reactor and promising to sell it the S-300 system, but not actually going through with the sale, Russia keeps the hardliners in Iran in need. The Iranian public and the reformist-democratic groups in Iran in particular, also see this, which explains their anger at Russia.

China, on the other hand, has a long history of supporting despots around the world, so long as doing so protects and expands its interests. Iran is no different in that respect for it. In Africa, for example, China supports Robert Mugabe’s regime in Zimbabwe and the Omar Al-Bashir’s in Sudan, despite all the calamities there. In East Asia, China supported the bloody Khmer Rouge regime in Cambodia who murdered 2 million Cambodians; and it supports North Korea.

Iran’s natural resources, large population, and strategic position are all important to China. China imports about 700,000 barrels of oil a day from Iran.“

Aber: Nach einem Bericht der LA Times beginnt immerhin in Russland eine Debatte darüber, ob das eigentlich eine schlaue Politik ist. Vor allem im Licht der jüngsten Ereignisse im Iran. Dort sind nämlich Russland und China zu den meist verhassten Ländern aufgestiegen, weil sie das Regime auch nach dem Coup mit den gefälschten Wahlen noch stützen. Es wird, wie in dem oben erwähnten Artikel von Tehranbureau geschildert, mittlerweile auch „Marg bar Rusieh“ (Tod Russland) und „Marg bar Chin“ (Tod China) gerufen – nach den rituellen „Tod Amerika“-Rufen.

Der Leitartikel der Nesavissimaja Gaseta vom 6. August fordert die russische Führung nun zu einer Revision ihrer Ahmadinedschad-Politik auf:

„It appears that recent events in Iran, when the opponents of Ahmadinejad shouted slogans of ‚Death to Russia,‘ indicate that Moscow’s defense of Ahmadinejad’s government has not been met with approval among a considerable portion of the Iranian population,“ the editorial said.

„It appears that the idea that Iran is a regional power which Russia could use as a trump card in relations with the West has turned out to be mistaken,“ the editorial says.

„As a matter of fact, it has turned out that Iran is using Russia to polarize the Group of Six,“ the five permanent members of the United Nations Security Council plus Germany, over Iran’s nuclear program.

The editorial pointed out that Russians are being singled out by the West and Iranians themselves as the primary backers of Ahmadinejad, possibly to Moscow’s disadvantage.

 

Krauthammer: Bestraft Russland!

Nach Robert Kagan macht nun auch Charles Krauthammer mobil zum neuen Kalten Krieg. Die Russen müssen isoliert und bestraft werden. Aber wie?

„1. Suspend the NATO-Russia Council established in 2002 to help bring Russia closer to the West. Make clear that dissolution will follow suspension. The council gives Russia a seat at the NATO table. Message: Invading neighboring democracies forfeits the seat.

2. Bar Russian entry to the World Trade Organization.

3. Dissolve the G-8. Putin’s dictatorial presence long made it a farce but no one wanted to upset the bear by expelling it. No need to. The seven democracies simply withdraw. Then immediately announce the reconstitution of the original G-7.

4. Announce a U.S.-European boycott of the 2014 Winter Olympics at Sochi. To do otherwise would be obscene. Sochi is 15 miles from Abkhazia, the other Georgian province just invaded by Russia. The Games will become a riveting contest between the Russian, Belarusian and Jamaican bobsled teams.“

Vor allem aber solle Washington sich unmissverständlich hinter die Saakaschwili-Regierung stellen, zur Not sogar noch als Exilregierung, falls die Russen sie von der Macht vertreiben sollten. Das würde eine Legitimation für die Unterstützung und Bewaffnung des „georgischen Widerstands“ bringen, meint Krauthammer.

Und fügt hinzu, George Bush sollte  Vladimir Putin eine Kopie des Films „Der Krieg des Charlie Wilson“ schicken, um ihn an die Möglichkeiten zu erinnern, „die Russen bluten zu lassen“. (Was Krauthammer dabei ignoriert: Der Film beschreibt die Vorgeschichte des Desasters in Afghanistan, das nach der amerikanischen Unterstützung des Widerstandes (und durch sie!) entstand.)

Crazy. Das ist alles präpotentes Gedröhne, das die amerikanische Ohnmacht übertönen soll und sie doch nur spürbar macht.

Die Strategie, mit der Unterstützung Georgiens die amerikanische Einflußsphäre bis in den Kaukasus auszudehnen, ist vorerst gescheitert. Das kann man bedauern. Aber es hilft nichts, über Phantasien vom „georgischen Widerstand“ die Anerkennung dieser Tatsache zu  verweigern.